Serie: Gender in der Forschung (4): Riskante Ideale von Männlichkeit
Junge Migranten treten als Machos auf, obwohl sie das beim Aufstieg behindert. Anerkennung finden sie nach eigenen, traditionell geprägten Regeln.
Feindbild Islam: Die sozialen Ursachen für die Probleme von jungen Muslimen werden oft ausgeblendet. Wenn in der Öffentlichkeit von Jungen oder jungen Männern mit Migrationshintergrund gesprochen wird, werden diese oft als „kleine Machos“ oder „kleine Prinzen“ beschrieben. Es heißt, sie würden in der Familie nicht nur verwöhnt, sondern auch zu Frauenwächtern erzogen. Bei der Suche nach Gründen dafür wird von vielen Medien und der Mehrheitsgesellschaft oft die Religion – in der Regel der Islam – oder die kulturelle Herkunft herangezogen, die die Unterdrückung der Frau religiös legitimierten.
Durch Zuschreibungen wird ein Feindbild geschaffen
Durch solche Zuschreibungen wird ein Feindbild geschaffen, das als Bedrohung für die eigene Kultur, die Emanzipation und überwunden geglaubte Geschlechterungerechtigkeit empfunden wird. Während Teile der Politik und Medien sich bislang wenig trauten, Kritik am Islam, Muslimen oder Migranten zu artikulieren, weil sie nicht der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt werden wollten, hat sich das Bild gewandelt, nachdem – zuletzt verursacht durch Akif Pirincci mit dem Buch „Deutschland von Sinnen: der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Einwanderer“ – eine Diskussion über Zwangsheirat, Gewalt und „Ehrenmorde“ – verursacht von Migrantinnen und Migranten selbst – in Gang gekommen ist.
Jugendliche, die nicht in das Raster passen, werden nicht wahrgenommen
Die Debatte wirkt oft pauschalisierend, weil sie den Islam als rückständige Religion betrachtet, die per se nicht gendersensibel sein kann, oder weil sie die Kultur als Ursache für die Unterdrückung der Frau annimmt. Die konkreten Lebens- und Sozialisationsbedingungen der MigrantInnen werden dabei ebenso wenig berücksichtigt wie ihre wirtschaftlichen, sozialen und Bildungsressourcen. Der öffentliche Tenor geht in eine fatale Richtung: Über die Etikettierung Islam wird eine Stigmatisierung und Segregation vorgenommen, die letztlich die angeblich erwünschte Partizipation der „Muslime“ erschwert . Die Jungen und jungen Männer, die nicht in dieses Raster passen, werden nicht wahrgenommen. Vor allem wird übersehen, dass die etwa vier Millionen starke muslimische Bevölkerung in Deutschland in sich alles andere als homogen und ihre Auslegung des Islam uneinheitlich ist.
Traditionelle Geschlechterrollen finden bei manchen wieder Gefallen
Für eine treffende Analyse der Lebensbedingungen arabisch- oder türkeistämmiger Jungen sowie für die tatsächliche Relevanz religiöser Einflüsse auf sie, muss das monokausale Raster vom „muslimischen Jugendlichen“ beiseitegelegt werden. Religion ist nur ein Aspekt im Ensemble der Einflüsse, unter denen diese Jugendlichen stehen. Allerdings soll ebenfalls das Ausmaß der Re-Islamisierung nicht verharmlost werden, insbesondere bei der dritten türkeistämmigen und arabischen Generation, wenn deren soziale Partizipation in die hiesige Gesellschaft nicht erfolgreich ist – zumal diese Jugendlichen die traditionellen Geschlechterrollen wieder attraktiv finden.
Die Schule erwartet Selbstständigkeit, zu Hause zählt Unterordnung
Kinder und Jugendliche haben im Wesentlichen vier Lebensbezugspunkte: Familie, Schule, Peergroup und Medien. Diese vier Lebenswelten stellen Jugendliche und junge Erwachsene türkeistämmiger und arabischer Herkunft vor besonders widersprüchliche Erwartungen. Die Nachkommen der ArbeitsmigrantInnen sind im deutschen Schulsystem nachweislich benachteiligt. Das liegt neben der selektiven Schulstruktur und wenig lernförderlichen Unterrichtsformen auch daran, dass in der Schule Werte wie Selbstständigkeit, Selbstdisziplin und Selbstreflexion (zu Recht) eine besondere Rolle spielen, allerdings (und hier ist das Problem) häufig vorausgesetzt werden. Doch viele dieser Jugendlichen wachsen, wegen ihrer häufig ländlichen und Unterschichten-Herkunft, in autoritären Familienstrukturen auf, in denen Gehorsam oder Unterordnung den Alltag dominieren. Daher bringen sie eine deutlich geringere Affinität zu Selbstständigkeit oder Gendergerechtigkeit mit.
Die Jugendlichen suchen nach Orientierung
Die Widersprüchlichkeiten im Verhältnis von Schule und Familie werden dadurch verschärft, dass die Eltern sowohl Loyalität gegenüber den traditionellen Werten als auch Erfolg in Schule und Beruf erwarten. Insbesondere für Jugendliche ergeben sich dadurch Konflikte zwischen schulischer und familialer Lebenswelt. Sie fühlen sich nicht als „Deutsche“ und nicht als „Türken“ oder „Araber“. Sie suchen nach Orientierungspunkten, die Sicherheit bieten und Identität stiften. Genau dieser Effekt wird durch das Kollektiv der Peers mit ähnlicher Geschichte ermöglicht.
Muslime mit höherem sozialen Status sind durchaus genderaffin
Die Herausbildung der Hauptschule als Restschule hat dazu geführt, dass sich dort junge Männer mit Zuwanderungsgeschichte konzentrieren, denen Anerkennung kaum ohne abweichendes Verhalten erlangbar erscheint. Sie finden mit einigen Freunden eine Art Ersatzfamilie, die füreinander fast alles tun. Es werden „eigene“ Anerkennungsformen geschaffen, die sich aus traditionellen Denkmustern ableiten und gleichzeitig von den Privatfernsehsendungen und Internetseiten, die diese Jugendlichen erreichen.
Ein ausgeprägtes Männerbild wird mit religiösen Vorstellungen angereichert
Sind ihre Sozialisationsbedingungen ungünstig, so identifizieren sich viele Jugendliche nicht mehr über eine erfolgreiche Schul- und Berufsausbildung, sondern legen beispielsweise Wert auf ein ausgeprägtes Männerbild, das mit religiösen Vorstellungen angereichert wird. Nach der Untersuchung „Kinder und Jugendliche in Deutschland“ von Dirk Baier et al. schätzen 59,2 Prozent der „muslimischen“ Jugendlichen die Bedeutung der Religion für ihren Alltag als hoch ein, weshalb der Einfluss der Imame als religiöse Vorbilder sehr wichtig bleibt.
Andere Untersuchungen in den letzten Jahren belegen, dass gut ausgebildete junge Männer, die einen angesehenen sozialen Status haben, zum Beispiel keinen Wert auf Jungfräulichkeit der zukünftigen Ehefrau oder ausgeprägte Männlichkeit legen und darüber hinaus genderaffin sind. Die auffälligen Jugendlichen oder Männer mit geringem sozialem Status betonen dagegen die hegemoniale Männlichkeit. Ehre und Männlichkeit spielen für sie eine wichtige Rolle. Diese Anerkennungsformen gehören dann zu den komplexen Ursachen für eine erhöhte Auffälligkeit „muslimischer“ Jugendlicher/Männer.
Ehre und Männlichkeit stabilisieren das Selbstwertgefühl
Insbesondere in der dritten und vierten MigrantInnengeneration etabliert sich ein Werte- und Normenkodex, über den sie ihre Identität definieren. So rechtfertigen beispielsweise straffällige Jungen oder Männer ihre Vergehen häufig mit ihrem Begriff der Ehre. Dazu gehört ein bedingungsloses Verständnis von Freundschaft. Sie setzen sich für den Freund ein, ohne den Zusammenhang zu hinterfragen. Ansonsten stünde nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Ehre und Männlichkeit zur Disposition. Ehre und Männlichkeit sind Konstruktionen, die Orientierung schaffen und das Selbstwertgefühl stabilisieren. Der differenzierte Blick auf Geschlechterrollen, wie aktuell in Deutschland unter dem Begriff Gender(-gerechtigkeit) diskutiert wird, verunsichert diese Zielgruppe.
Was bei der Betrachtung dieser Gruppe immer berücksichtigt werden muss, sind die schichtspezifischen, sozialen und kulturellen „Hindernisse“. Grundsätzlich ist gesellschaftliche Etablierung für sozial Benachteiligte erschwert. Sozialer Aufstieg ist in der Regel mit der Distanzierung vom Herkunftsmilieu verbunden. Das fühlen Jugendliche mit Migrationshintergrund in besonderer Weise, da sie sich nicht nur vom sozialen Milieu, sondern auch von der Herkunftskultur entfernen. Für sie bedeutet dies zusätzlichen „Ballast“, da ihr Männlichkeitskonzept einerseits ein Risikofaktor ist, aber andererseits Orientierung stiftet.
Auf Kosten der Muslime werden Wahlen bestritten
Das Bild von „Muslimen“ bleibt in der Öffentlichkeit dabei selektiv. Das Verhalten des oben beschriebenen Milieus wird auf alle „muslimischen“ Jugendlichen, Männer oder Väter projiziert. Die unauffälligen und erfolgreichen jungen Männer werden nicht wahrgenommen. Es gibt in der Tat eine große Gruppe junger Männer, die die traditionellen Werte anders interpretieren, ablehnen, Patchwork-Identitäten annehmen und gendersensibel agieren. Die gängige Sichtweise in der deutschen Öffentlichkeit, der Islam sei per se fremdartig, blendet das aus. Gewalt oder Unterdrückung der Frau ist eher mit patriarchalischen Strukturen zu erklären.
Auch integrationspolitisch wird mit dem Feindbild Islam oder „Muslime“ wenig erreicht. Vielmehr müssen auf gleicher Augenhöhe die Rahmenbedingungen für Integration verbessert werden. Immer noch werden in der öffentlichen Debatte die MigrantInnen als defizitär dargestellt. Auf ihre Kosten werden Wahlen bestritten und Stimmung gemacht, wie im Wahlkampf der hessischen CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft 1999, wie bei den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei 2004, beim Gesinnungstest für Muslime bei der Einbürgerung in Baden-Württemberg 2006, der kampagnenartige Diskussion um die deutsche Sprachpflicht auf Schulhöfen oder jener über die sogenannte Deutschenfeindlichkeit im Jahr 2010.
Wenn darüber hinaus die Partizipation der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund in das Schul- und Berufssystem, in die Arbeitswelt und in die Gesellschaft nicht optimal erfolgt, werden der Rückzug in die eigene Community und die Hinwendung zu extremen Weltanschauungen, wie aktuell beim Salafismus zu beobachten ist, wahrscheinlich. Bevormundende Integrationspolitik, Benachteiligung und Pauschalurteile deuten Migrantinnen und Migranten dahingehend, dass sie nicht willkommen sind und als belastend, defizitär und rückschrittlich wahrgenommen werden.
Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Dortmund. - Die bereits erschienenen Teile der Serie "Gender in der Forschung" finden Sie hier: Teil 1 - "Keine Angst vorm bösen Gender" (von Ilse Lenz), Teil 2 - "Auch das Biologische ist sozial" (von Kerstin Palm), Teil 3 "Lernen, wie man Grenzen zieht" (von Heinz-Jürgen Voß).
Ahmet Toprak
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