Serie: Gender in der Forschung (2): Das Biologische ist auch sozial
Oft wird behauptet, Biologie stehe im krassen Widerspruch zur Genderforschung. Das ist falsch. Beide sollten zusammenarbeiten.
„Was? Du bist Biologin und Genderprofessorin? Wie passt das denn zusammen?“ Solche und ähnliche Reaktionen begegnen mir immer wieder, wenn ich Auskunft gebe über meinen Beruf. Diese Bemerkungen zeigen zum einen, dass die Genderforschung eher in den Geistes- und Sozialwissenschaften als in den Naturwissenschaften verortet wird. Zum anderen aber glauben die meisten, wie daran anschließende Gespräche ergeben, dass zwischen Geschlechtertheorien der Biologie und der Genderforschung ein tiefgreifender Widerspruch besteht. Liefert die Biologie nicht objektive Fakten über feststehende biologische Geschlechterunterschiede, die von der Genderforschung vehement bestritten werden, weil sie alle Geschlechterdifferenzen als gesellschaftlich konstruiert ansieht?
Um solche Missverständnisse und Fehleinschätzungen zum Tätigkeitsbereich der Genderforschung zu überwinden, helfen Beispiele aus meinem Forschungsbereich und zunächst einmal grundlegende Einblicke in das umfassende interdisziplinäre Feld der Geschlechterforschung.
Alles Biologie? Geschlechterforschung interveniert seit 40 Jahren
Die Frauen- und Geschlechterforschung entstand vor circa 40 Jahren – vor allem anlässlich eines auffälligen Befundes, der für alle wissenschaftlichen Disziplinen gleichermaßen festgestellt wurde: wissenschaftliche Perspektiven, Inhalte und Theorien entsprachen nicht dem Anspruch, umfassende Erkenntnisse über die jeweiligen fachspezifischen Gegenstände zu liefern. Stattdessen waren die wissenschaftlichen Aussagen einseitig und ideologisch verzerrt aus Sicht derjenigen gesellschaftlichen Gruppe formuliert, die seit Jahrhunderten die Möglichkeit hatte, wissenschaftlich tätig zu sein – europäische Männer der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht. So war zum Beispiel der sozialwissenschaftliche Begriff der Arbeit ausschließlich auf Lohnarbeit bezogen gewesen. Die gesellschaftlich notwendige Haus- und Reproduktionsarbeit blieb außer Acht.
Die frühe Geschlechterforschung begann in einer doppelten Ausrichtung – mit Kritik und Intervention –, diese androzentrische (also männerzentrierte) und oft das Weibliche verunglimpfende Wissenschaft zugunsten einer fundierteren und weniger ideologischen Einsicht in die Wirklichkeit zu verändern. In einer für jedes Fach vorgenommenen umfassenden kritischen Bestandsaufnahme musste zunächst einmal diese einseitig verzerrte Perspektive, die lange Zeit unbemerkt geblieben war, offengelegt und in ihren Konsequenzen für das Weltverständnis und das Geschlechterverhältnis analysiert und dokumentiert werden.
Die Perspektiven aller gesellschaftlicher Gruppen müssen vorkommen
In einem nächsten Schritt waren dann ganz neue Methoden und Perspektiven zu entwickeln, die einen grundlegenden Umbau des gesamten wissenschaftlichen Apparates zum Ziel hatten. Anstatt Androzentrismus und sexistische Verunglimpfung sollte jede wissenschaftliche Disziplin einen unvoreingenommenen Blick auf die Wirklichkeit einnehmen, also einen, der die Perspektiven aller gesellschaftlicher Gruppen umfasst. Dieser Anspruch war und ist letztlich nur über eine neue Personalpolitik in den wissenschaftlichen Institutionen zu gewährleisten. Nur eine Diversität an gesellschaftlichen Erfahrungen, Interessen und Sichtweisen kann ein dauerhaftes kritisches und reflexives Potenzial in den Wissenschaften etablieren.
Die aktuelle Genderforschung analysiert darüber hinaus in einem seit vielen Jahren etablierten weiteren Forschungsschwerpunkt Geschlechterordnungen in ihrem historischen Wandel und in ihren lokalen Spezifika sowie in ihren Verquickungen mit anderen Systemen sozialer Ungleichheit. Sie zeigt auf, wie in wechselnden Kontexten immer wieder neue Vorstellungen und Bedeutungen von Geschlecht (also Konstruktionen von Geschlecht) entstehen.
Bereiche, die sich der Genderforschung geöffnet haben, profitieren
Diese hier sehr knapp und vereinfacht skizzierten Entwicklungsschritte der Genderforschung betreffen alle Fächer einschließlich der Natur- und Technikwissenschaften. Wissenschaftliche Bereiche, die sich den Ergebnissen der Genderforschung geöffnet haben, profitieren inzwischen deutlich von der Überwindung androzentrischer und sexistischer Perspektiven und von der Erschließung neuer wissenschaftlicher Fragen und Gegenstände. Dies zeigt auch die 2013 von der Europäischen Kommission veröffentlichte Bestandsaufnahme unter dem Titel „Gendered Innovations – How Gender Analysis contributes to research“ für die MINT-Fächer (MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften). Vor allem für die Lebenswissenschaften haben fachinterne „Kritiken und Interventionen“ in den letzten Jahren zu beeindruckenden Qualitätssteigerungen in der Forschung geführt, wie die folgenden Beispiele zeigen können.
In den Lebenswissenschaften galt das Weibliche als Abweichung
1. Beispiel: Androzentrismus in der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung
Das Problem: Für Grundlagenforschung in der Genetik, Zellbiologie, Biochemie usw. werden fast ausschließlich männliche Organismen als Standardorganismen eingesetzt. Das betrifft sowohl die Versuchstiere als auch menschliche Testpersonen. Dadurch entgeht der Forschung nicht nur die Erkenntnis einer möglichen Vielfalt an physiologischen Mechanismen, sondern sie unterstützt damit auch die seit Jahrhunderten anhaltende Ideologie des Androzentrismus, derzufolge das Männliche das Allgemeine sei und den Standard der Gattung repräsentiere, das Weibliche hingegen die Abweichung darstelle. Mit dieser Haltung ergeben sich zwei problematische Qualitätseinbußen: nämlich eingeschränkte Forschungserkenntnisse und für den medizinischen Bereich eine eingeschränkte Versorgungsbasis für weibliche Personen. Sozial besteht die Qualitätseinbuße in der Reproduktion einer androzentrischen Geschlechterideologie.
Falsche Generalisierungen können vermieden werden
Die Lösung: Durch die Berücksichtigung von gleichermaßen männlichen und weiblichen Versuchsorganismen werden umfassende neue biologische Erkenntnisse gewonnen und falsche Generalisierungen von Forschungsergebnissen vermieden. Außerdem kann so eine geschlechtergerechte medizinische Versorgung besser sichergestellt werden. Und schließlich wird eine durch einen androzentrischen Bias (also Einseitigkeit) belastete Fach-Atmosphäre vermieden.
2. Beispiel: Sprache und visuelle Repräsentationen in biologischen Lehrbüchern
Problem: In biologischen Beschreibungen findet sich eine Fülle metaphorischer Begriffe, die aus dem menschlichen Leben unreflektiert auf die Tierwelt übertragen werden. Das kann zu völlig falschen Schlüssen führen. Der Begriff Harem etwa, der eigentlich eine sozial sehr historisch und geografisch variable Institution bezeichnet, wird oft unsachlich und klischeehaft orientalisierend verwendet, um in der Tierwelt eine Ansammlung von Weibchen mit einem Männchen zu bezeichnen. Dadurch wird jedoch die Vorstellung einer hierarchischen Konstellation, eine Art Besitzverhältnis nahegelegt, ohne dass die genauen Verhältnisse adäquat erkundet werden.
Die Beförderung klischeehaften Denkens betrifft auch Abbildungen in Lehrbüchern. Lange Zeit wurden alle Organe des Menschen an einem männlichen Körper dargestellt und nur im Kapitel Geschlechtsorgane war auch ein weiblicher Körper zu sehen, allerdings oft nur durch den Unterleib vertreten.
Lösung: Lehrbücher werden sachlicher und ohne ideologischen Ballast gestaltet – zum Beispiel durch den Austausch klischeehafter durch neutralere Begriffe oder indem Organe des Körpers sowohl an männlichen als auch weiblichen Körpern visuell repräsentiert werden.
Die Körper von Männern und Frauen verändern sich durch Training
3. Beispiel: Berücksichtigung der Plastizität des Geschlechtskörpers
Problem: Körperliche Strukturen sind, wie gerade die neuere Genetik, Entwicklungsbiologie und Gehirnforschung zeigen, nicht einfach durch die Biologie festgelegt, sondern werden auf der Basis einer hohen physiologischen und anatomischen Plastizität durch das Zusammenspiel von genetisch angelegten Prozessen und aktivem Gebrauch beziehungsweise vielfältigen Umwelteinflüssen geformt. Darum haben gerade beim Menschen soziale und kulturelle Körperpraktiken einen entscheidenden Einfluss auf körperliche Ausprägungen. So wird zum Beispiel die Synapsenbildung im Gehirn entscheidend durch geistiges und körperliches Training befördert. Diese Einsicht ist bisher noch kaum auf Geschlechtskörper angewendet worden, sodass weiterhin der Eindruck vorherrscht, körperliche Strukturen seien biologisch fixiert.
Das biologische nicht gegen das soziale Geschlecht ausspielen
Lösung: Sex (also das biologische Geschlecht) und Gender (das soziale Geschlecht) werden nicht mehr als Biologisches und Gesellschaftliches gegeneinander ausgespielt, sondern als gleichgewichtige Komponenten geschlechtlicher Entwicklung in unentwegter Wechselwirkung und letztlich unentwirrbarer Verschränkung miteinander betrachtet. Die Erforschung körperlicher Eigenschaften der Geschlechter ist eine fachliche Gemeinschaftsaufgabe und nur erfolgreich durch eine intensive Kooperation naturwissenschaftlicher Forschung und Genderforschung. Jede Messung von anatomischen und funktionalen Unterschieden wird damit als Momentaufnahme verstanden, die das temporäre Ergebnis bisheriger kontextabhängiger Entwicklungen dokumentiert (zum Beispiel beeinflusst durch geschlechterstereotypes Spielzeug, durch gesellschaftlich vorgegebene Verhaltensweisen etc.). Nur wenn die Interaktion zwischen externen Reizen und internen physiologischen Prozessen umfassend untersucht wird, kann ein spezifischer körperlicher Zustand angemessen beschrieben oder erklärt werden. Diese Sicht auf Geschlecht eröffnet zugleich ein neues Verständnis von situationsabhängiger biologischer Vielfalt, die sich in dichotomen (also zweigeteilten) biologischen Körpermodellen nicht mehr darstellen lässt.
Wie aus diesen wenigen Beispielen deutlich wird, stehen Biologie und Genderforschung nicht in einem Widerspruch zueinander, ebenso wenig wie biologische und konstruktivistische Forschung. Vielmehr profitiert die Biologie von der analytischen Expertise der Genderforschung und kann, wie das letzte Beispiel zeigt, erst in Kooperation mit konstruktivistischen Kontextanalysen zu einem umfassenden Verständnis biologischer Strukturen und Prozesse von Geschlechtskörpern gelangen.
Die Autorin ist Professorin für Naturwissenschafts- und Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität. - Den ersten Teil der Serie Gender in der Forschung, "Keine Angst vorm bösen Gender" von Ilse Lenz, lesen Sie hier.
Kerstin Palm