Ostdeutscher Blick auf die 68er: Ort einer fernen Freiheit
Zwischen Sehnsucht und kritischer Distanz: Wie DDR-Bürger die westdeutsche Studentenbewegung erlebten – und was daraus seit 1989 wurde. Ein Gastbeitrag.
Das Verhältnis der Deutschen zu „68“ ist, im Westen wie im Osten, komplex. Ist jedoch nur das Jahr 1968 gemeint, so besteht ein deutlicher Unterschied. Denn in diesem Jahr blickten die meisten Ostdeutschen nicht nach dem Westen Deutschlands, sondern nach Prag. Würde es dem „Prager Frühling“ gelingen, dem Sozialismus „ein menschliches Antlitz“ zu geben? Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei zerstörte nicht nur diese Hoffnung. Er beendete auch dauerhaft die Illusion, es könne im Osten aus dem System heraus einen „linken“ Wandel zum Besseren geben. Das war eine Erfahrung, die bis 1990 und darüber hinaus wirksam blieb.
Für Menschen in der DDR zeigte sich der Westen auch durch das antiautoritäre Selbstverständnis der „Achtundsechziger“ und deren herbe Kritik an Staat und Gesellschaft als Ort einer für sie fernen Freiheit. Das schloss kritische Distanz zu radikalen Positionen und kulturrevolutionären Aktionen durchaus mit ein. Wer sich ideologieberauscht gegen alles Bestehende und Gewachsene wendete und vor Gewalt nicht zurückschreckte, hatte im Osten – wie im Westen – nur wenige Bewunderer.
'68 an DDR-Hochschulen: Die Partei unterwirft die Wissenschaft
Sympathie und Verständnis hatten dagegen viele in der DDR für die sich durch „68“ im Westen verstärkende Forderung, ehemalige Nazis aus führenden Positionen der Bundesrepublik zu entfernen und sich endlich der Frage zu stellen, wie es in Deutschland zum nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und in dessen Folge zum verbrecherischen Krieg kommen konnte.
Was gleichwohl bei vielen im Osten blieb, war der Respekt, ja, die Bewunderung für die gelungene Gründung und den wachsenden Erfolg der „Bonner Republik“. Obwohl diese Leistung bis heute im bundesdeutschen Feuilleton als „dunkle Adenauerzeit“ abgewertet wird, blieb im Osten die Bundesrepublik im Vergleich mit der DDR auch nach 1968 der Maßstab und überdies für viele der Sehnsuchtsort.
Nimmt man „1968“ genauer als Chiffre für eine studentische Bewegung, die mit dem Ruf nach überfälligen Reformen in den Hochschulen begann, so war der sich darin artikulierende Wunsch nach größerer Freiheit und Selbstbestimmung für nicht wenige im DDR-Hochschulwesen vor allem ein Kontrastprogramm, nämlich zu der 1968 durch Beschluss der SED-Führung von oben durchgesetzten
„3. Hochschulreform“. Denn diese beseitigte die letzten Reste einer – wenn auch professorenbestimmten – akademischen Selbstverwaltung, fügte die Hochschulen fest in das hochzentralisierte Herrschaftssystem der SED ein und unterwarf das wissenschaftliche Leben den Doktrinen des Marxismus-Leninismus.
Die Studentenbewegung entfaltete 1989 an den Ost-Hochschulen ihre Wirkung
Die Erinnerung daran kam in der DDR nach dem revolutionären Herbst von 1989 zur Wirkung. Denn die sich jetzt für Aufbruch und Erneuerung engagierenden Studenten fühlten sich dadurch in ihrem Wunsch bestärkt, eine wirkliche studentische Mitbestimmung innerhalb der Hochschule durchzusetzen. Diese Rolle hatte bisher die FDJ beansprucht, die sich bekanntlich als „Kampfreserve der Partei“ bezeichnete. Doch auch wenn sich die neuen studentischen Wortführer durch das Beispiel der bundesdeutschen „Achtundsechziger“ ermutigt fühlten, hielten sie an ihrem Anspruch auf selbstbestimmtes Handeln fest. Zwar waren sie sich durchaus dessen bewusst, zu eigenen Positionen erst noch unterwegs zu sein, doch wollten sie sich nicht vereinnahmen lassen. Der selbstgewisse Anspruch von Deutschen aus dem Westen, ihre Ratschläge und Meinungen für nicht hinterfragbar zu halten, hat dann ja auch nicht nur bei Studenten zu jenen Spannungen geführt, welche bis heute nicht ausgestanden sind.
Konkret sei das am Beispiel der Berliner Humboldt-Universität nachgezeichnet. Dort war es eine studentische Initiative, welche am 18. Oktober 1989 die FDJ-Kreisleitung entmachtete und zu einem mit großer Beteiligung gewählten Studentenrat führte, der dann auf dem – ebenfalls neu gewählten – Konzil im Februar 1990 seine Forderungen streitbar vertrat. Was aus diesem verheißungsvollen Beginn geworden ist, zeigte ein Artikel in der während des revolutionären Umbruchs entstandenen Studentenzeitschrift „Unaufgefordert“, den der Tagesspiegel am 16. November 2017 gekürzt übernahm: Die heutige studentische Wahlbeteiligung ist schockierend gering, das heutige „Studierendenparlament“ (StuPa) und sein „ReferentInnenrat“ (RefRat) sind fest in der Hand einer linksradikalen Clique, welche mit den Rechtsnormen für die Tätigkeit der studentischen Repräsentanz freizügig umgeht und dafür durch die obligatorischen Semesterbeiträge aller Studenten reichlich mit Geld versehen ist. So der Bericht.
Erben der '68er: gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung
Leider ist das schreiende Missverhältnis zwischen studentischem Vertretungsanspruch und realer Legitimation durch die studentische Wählerschaft an der Humboldt-Universität überhaupt kein Einzelfall, sondern heute an einer beschämend großen Zahl deutscher Hochschulen zu beobachten. Das hängt wiederum mit der Realität der bis heute von nicht wenigen als demokratischer Höhepunkt bundesdeutscher Geschichte gefeierten „68“ zusammen. Denn schon damals ging es maßgeblichen Wortführern und Akteuren weniger um studentische Mitbestimmung in den Hochschulen als vielmehr um die revolutionäre Veränderung von Staat und Gesellschaft. Dem entsprachen ja auch ihr Hohn über die verachtete „FDGO“ (freiheitliche demokratische Grundordnung) und ihr Kampf gegen einen handlungsfähigen demokratischen Staat.
Es passt also durchaus ins Bild, wenn heute an der Humboldt-Universität in den Gesellschaftswissenschaften prominente Professoren linksradikalen Attacken ausgesetzt sind oder Vorträge demokratisch legitimierter Repräsentanten der Politik massiv gestört oder verhindert werden. Der demokratische Grundsatz der Pluralität gilt den Störern nichts. Für sie besteht Demokratie nur dort und dann, wenn allein ihre Meinung gilt. Mit den politischen Überzeugungen der studentischen Mehrheit hat das nicht viel zu tun. Das entschuldigt deren Abstinenz allerdings nicht. Denn leider gelingt es den radikalen Schreiern immer wieder, für Aktionen gegen jede Art von Ordnung und Leistungsanspruch studentische Unterstützung zu mobilisieren. Auch das sind zwar meist nur Minderheiten, doch gaukeln sie der Öffentlichkeit eine Art demokratischer Legitimation vor. Eine Entschuldigung für Hochschulpolitiker, die solche Zustände schönreden oder gar befördern, oder für handlungsschwache und leisetreterische Hochschulleitungen ist das nicht.
Der Wunsch nach deutscher Einheit galt als "Revanchismus"
Freilich ist dies nur Teil der gesellschaftlichen Debattenlage im vereinigten Deutschland. Denn der unbestreitbare und andauernde Erfolg der sich auf „68“ Berufenden folgte ja vor allem aus ihrer Strategie, die politische Auseinandersetzung als Attacke auf die Generation ihrer Eltern und Lehrer zu inszenieren. Was sich schon deshalb anbot, weil von denen die meisten ein schlechtes Gewissen hatten oder doch jedenfalls nur ungern an die von ihnen erlebte Vergangenheit zurückdachten. Sie hatten zwar danach in einem geistig wie materiell zerstörten Land eine stabile Republik und eine lebenswerte Existenz aufgebaut, doch galt das ihren Kindern und Schülern im Blick auf zwölf Jahre zutiefst beschämender Geschichte wenig bis nichts.
Überdies lockte die kulturrevolutionäre Absage an die strikte Bürgerlichkeit, welche die „Achtundsechziger“ praktizierten, auch nicht wenige unter jenen, welche mit ihnen politisch nicht sympathisierten. Trotz des offenkundigen Misserfolgs von „68“ als Versuch eines radikalen Gesellschaftswandels ergab sich daraus für nicht wenige der antibürgerlichen Revolutionäre und für viele ihrer Bewunderer, welche sich jetzt auf den Weg in die Institutionen machten, ein offenbar unschlagbares Erfolgsmodell: Man offerierte die Freistellung von geistigen und gesellschaftlichen Bindungen. Und man diskreditierte jeden Gegner oder auch nur Kritiker als beschränkten Nationalisten, wenn nicht gar als gefährlichen Nazi. Bündeln lassen sich Angebot wie Drohung in einer radikal kritischen Haltung zu Deutschland, ja, in der prinzipiellen Absage an Deutschland.
Für Rudi Dutschke stand der Wunsch nach deutscher Einheit nicht infrage. Und ganz selbstverständlich war er 1968, kurz vor dem Attentat auf ihn, nach Prag gefahren und hatte dort gesprochen. Beides wäre jenen nicht in den Sinn gekommen, die in der bundesdeutschen Gesellschaft nach „68“ unter der antipluralistischen Losung „Gegen rechts“ ihre kulturelle Hegemonie etablierten. Für sie war der Wunsch nach deutscher Einheit „Revanchismus“. Und die Bürgerrechtler und Gesellschaftskritiker im Osten Störenfriede bei dem Versuch, sich mit den Mächtigen im Osten zu arrangieren. Wurde so nicht das Ziel von „Wandel durch Annäherung“ faktisch aufgegeben?
Vorwurf an die Ostdeutschen, "so deutsch" zu sein
Willy Brandts bewegendes Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ war schwerlich im Sinne jener, die in Deutschland nur einen Hort des Bösen sehen wollten. Nun werfen sie den neuen Bundesbürgern im Osten gern vor, noch „so deutsch“ zu sein. Unbestreitbar gibt es im Osten ein schockierendes Maß an Fremdenfeindlichkeit. Doch wer behauptet, es gebe überhaupt keine deutsche Kultur, wer die deutsche Sprache durch eine Art englisches Globalesisch ersetzen will, wer die Freiheits- und Humanitätstradition in der deutschen Geschichte missachtet, wer den Heimatbegriff als „kontaminiert“ denunziert und wer überdies Asyl und Migration ständig ineinander verrührt, der bringt sich selbst in den Verdacht, Deutschland auf einen geografischen Begriff reduzieren zu wollen. Und bereitet so nationalistischen Kräften den Boden.
Der Autor ist Professor i. R. für angewandte Sprachwissenschaft (Englisch) und ehemaliger Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst.