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Attacke auf die Ordinarienuniversität. Am 9. November 1967 halten Studenten das Spruchband „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ im Audimax der Universität Hamburg. Anlass ist die Amtsübergabe des alten an den neuen Rektor. Während des Festakts forderten Studenten lautstark in Sprechchören die Beschleunigung der Hochschulreform.
© picture alliance / DB/dpa

1968 und die Folgen: Wie die Bürokratie an den Hochschulen siegte

Die Revolte von 1968 führte zu Werteverfall und besiegelte das Ende der alten Universität. Der Staat füllte das Machtvakuum

In der Wahrnehmung vieler, nicht zuletzt wegen manch verklärter Berichte, erscheint die Jahreszahl 1968 als einschneidende Zäsur für die Hochschulreform. Was nicht alles den „68ern“ zu verdanken und wofür sie andererseits verantwortlich seien!
Von Berkeley/Californien, wo der Protest sich gegen den Vietnam-Krieg richtete, ergoss sich die Welle über Paris nach Berlin. Dies scheint kein Zufall gewesen zu sein. Wegen des Viermächte-Status unterlagen Einwohner von Berlin (West) nicht der Wehrpflicht. Das zog Wehrdienstverweigerer und „Linke“ in besonderem Maße an. Als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten beim Besuch des Schahs von Persien anlässlich einer Demonstration erschossen wurde, war dies ein Auslöser für Gewalttätigkeiten und Straßenschlachten mit der Polizei.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurde von der jungen Generation das Erstarken der Bundesrepublik in den zwanzig Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend kritischer betrachtet. Dem kapitalistischen Wirtschaftssystem wurde ein baldiges Ende vorhergesagt. An den Universitäten kam es zu einer Wiederbelebung des Marxismus. Allmählich entwickelte sich eine Außerparlamentarische Opposition, APO genannt. Als ein Grund dafür wird auch die Tatsache angesehen, dass es im Bund eine Große Koalition gab und damit keine der sog. Volksparteien als Opposition wirkte. Die APO hatte ihre prägenden Kräfte im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), von dem sich die SPD bereits 1961 getrennt hatte.

Alles wurde in Frage gestellt

Die Vorstellung, es habe ein theoretisch geschlossenes Selbstverständnis oder klare Ziele „der 68er“ gegeben, ist irreführend. Es gab keine fest umrissenen „68er Ideen“. Man sprach zwar von „konkreten Utopien“; was darunter verstanden wurde, blieb nebulös. Die Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung sollten offen bleiben. Allenfalls orientierte man sich an marxistischen Vorstellungen. Personelle Leitfiguren waren unter anderem Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas. Sie gelten als die geistigen Väter der Bewegung.

Die „Bewegung“ kritisierte in erster Linie die bestehenden Verhältnisse. Alles wurde in Frage gestellt: Religion, Weltanschauung, wissenschaftliche Erkenntnisse, Pflichten der Bürger, sämtliche als Tugenden bezeichneten Einstellungs- und Verhaltensweisen. Die Haltung, „gegen“ etwas zu sein, kam in den drei Grundüberzeugungen zum Ausdruck: Antifaschismus, Antikapitalismus und Antiimperialismus. Die erste richtete sich gegen die bislang nicht stattgefundene Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (Bewältigung der Vergangenheit), die zweite gegen die bestehende Wirtschaftsordnung, die als ausbeuterisch und sozial ungerecht empfunden wurde, und die dritte gegen die angebliche Unterjochung der Länder der Dritten Welt. Diese Gegnerschaft bildete gewissermaßen den Hauptnenner aller Gruppierungen.

Man versuchte, die Universitäten zu Ausgangsstätten für die erstrebte Revolution zu nutzen. Wegen der aktuellen Probleme, die zunächst ins Visier genommen wurden, fanden „Aktionen“ durchaus die Sympathie der Mehrheit der Studenten. Die explodierenden Studentenzahlen, als mangelhaft empfundene Betreuung und die als „Herrschaft der Ordinarien“ gegeißelte Organisationsstruktur führten zu Solidarisierungen. Vorlesungsstörungen und Institutsbesetzungen, die Androhung und auch die Verwirklichung von Gewalt gegen Sachen und Personen waren keine Einzelerscheinungen.

Gewalt gegen Sachen und Personen

Das Bild von den Studenten änderte sich radikal. Veränderte Lebensgewohnheiten, die demonstrative Geringschätzung konventioneller Formen, „Kommunen“ genannte Wohngemeinschaften, Rücksichtslosigkeit gegenüber Vermietern, die bewusste Vernachlässigung von Äußerlichkeiten wie Kleidung und Frisur machten den – „linken“ Studenten für weite Bevölkerungskreise zu einem Bürgerschreck. Die andersartigen Formen des Auftretens und Verhaltens haben andauernde Wirkungen entfaltet, weil viele bis dahin gültige Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens fortan unbeachtet blieben. Dabei sind gewiss auch manche „alte Zöpfe“ abgeschnitten worden, um die es nicht schade ist.

Auf der Strecke blieben aber auch Regeln und Usancen, die man als Voraussetzung für ein zivilisiertes Zusammenleben rechnen darf. Die Zahl der Aktivisten war gering. An den Demonstrationen nahmen je nach Zielsetzung zwischen acht bis 35 Prozent der Studierenden teil, die wenigsten an denen gegen die Ordinarienuniversität, die meisten an den großen „Demos“ gegen die Notstandsgesetze, die im Mai 1968 vom Bundestag verabschiedet wurden.

Eindeutig kriminell waren „Aktionen“ wie Besetzungen von Hörsälen, Verwüstung von Bibliotheken bis hin zu Bombenanschlägen auf politisch missliebige Professoren. So konnten einige Hochschullehrer ohne Gefahr für Leib und Leben die Universität nicht mehr betreten, Vorlesungen fielen wochenlang aus, weil sie „bestreikt“ wurden.

Mit dem teilweisen oder geschlossenen Fernbleiben der Studenten von Vorlesungen und anderen Lehrveranstaltungen, im Grunde ein Boykott und kein Streik, sollten Forderungen gegenüber der Hochschulleitung oder der Wissenschaftsverwaltung durchgesetzt und/oder ein allgemeiner Protest bekundet werden. Zugleich bemühte man sich um Solidarität mit der Arbeiterschaft – unter anderem durch die Verwendung des Begriffs „Streik“. Weil der Versuch, die Bevölkerung, vor allem die Arbeiterschaft, zu gewinnen, erfolglos blieb, konzentrierten sich die Wortführer wieder auf die Universitäten. Dort wurde versucht, sie zu Ausgangsstätten für die zukünftige Revolution „umzufunktionieren“.

Sympathisantentum mit dem Terrorismus

Das Ziel, den liberalen Staat als angeblichen Interessenvertreter des Kapitals und der Repression zu zerschlagen, hatte die APO nicht erreicht. Gelungen war es ihr indessen, mannigfachen politischen und sozialen Wandel von nicht geringem Ausmaß in Gang zu bringen, der zu weitgehenden Veränderungen im öffentlichen und individuellen Bewusstsein führte. Seine Folgen wirken in vielerlei Formen weiter. Ein großes Problem stellte das Sympathisantentum mit dem Terrorismus dar. Darunter verstand man das vornehmlich aus Intellektuellen bestehende Umfeld vielfach von den Hochschulen kommender Terroristen der Roten-Armee-Fraktion (RAF), das deren Aktionen duldete oder sie sogar aktiv unterstützte.

Die Täter nahmen für sich in Anspruch, dass es bei der Gewaltanwendung auf die Motive ankomme. Wer eine „normale“ Straftat begehe, sei schuldig, wer dies aus politischen Beweggründen tue, verdiene eine andere Beurteilung.

Wenn der Eindruck erweckt wird, die 68er-Bewegung hätte eine positiv zu bewertende Reform an den Universitäten in Gang gesetzt, bedarf das der deutlichen Relativierung. Reformen an den Universitäten waren bereits Ende der 50er/Anfang der 60er, unter anderem auf Empfehlungen des Wissenschaftsrats in Gang gesetzt worden. Gelegentlich wird geäußert, dass die Hochschulrevolte „nicht hätte kommen müssen“, wenn die Chance einer Hochschulreform nach 1945 nicht vertan worden wäre. Allerdings trifft wohl zu, dass es des Umwegs über massive Proteste bedurfte, weil sonst verkrustete Strukturen nicht hätten aufgebrochen werden können. Ebenso richtig ist, dass es Exzesse gab und dauerhafte Beschädigungen gibt.

Der „Marsch durch die Institutionen“ über den Journalismus, die Lehrerschaft, Kirche, Justiz und Verwaltung bis zu einflussreichen Positionen ist zum Teil durchaus geglückt. Mit leichtem Zynismus kann man sagen, dass die Universität eine Art Übungsstätte für künftige Politiker darstellte, die oft gar keinen „bürgerlichen“ Beruf ausgeübt haben und außer Schule, Hochschule und Parlament beruflich keinen anderen Lebensraum als eigenes Betätigungsfeld kennen.

„68“ ist eine Chiffre für die Studentenbewegung. Die Jahreszahl wird als eine Art Scheidewand zwischen zwei Epochen verstanden. Bis dahin sei die Bundesrepublik ein restauratives Land gewesen, bestenfalls eine angepasste Demokratie; nunmehr sei das Land gekennzeichnet durch „mehr Demokratie“ und Partizipation.

Antiautoritäre Lebensstilkonzepte

Für die Entwicklung der studentischen Subkultur war die Studentenrevolte von entscheidender Bedeutung, da die konventionelle bürgerliche Lebensart in Frage gestellt und neue, antiautoritäre Lebensstilkonzepte entwickelt wurden, die, anders als die damals vertretenen politischen Utopien, inzwischen in vielen Bereichen Eingang in die Gesellschaft gefunden haben. „1968“ war nicht zuletzt ein Medienereignis. Die bewusst provokativen Regelverletzungen, Happenings mit zum Teil entwaffnender Komik und nicht ohne Hintersinn erregten eine außergewöhnliche mediale Aufmerksamkeit.

Ein wichtiges Resultat jener zum Teil dramatischen Entwicklung war, dass die alte Universität als europäische Bildungsanstalt auf der Strecke blieb. Die außerparlamentarische Opposition hatte ein Machtvakuum an der Universität aufgedeckt, das nun die Staatsverwaltung mit ihren Mitteln füllte. Die Exponenten der Universitäten reagierten verunsichert und mit einer gewissen Hilflosigkeit. Siegerin blieb in dieser Entwicklung die Bürokratie. Gewiss hat „68“ Einfluss auf die Lebensstile und Umgangsformen gehabt. Es wurde deutlich, welche Folgen und „Nebenwirkungen“ „68“ mit sich gebracht hatte: Verlust von Autorität, Werteverfall in bestimmten Bereichen und das teilweise Fehlen von allgemein gültigen Maßstäben. Auch wenn Gräben aufgerissen worden sind, sieht es so aus, als werde in der Rückschau von den einen manches weniger verklärt, von den anderen manches nicht mehr ganz so kritisch gesehen. Das wird den Gegebenheiten dann einigermaßen gerecht.

Der Text stammt aus dem soeben erschienenen Buch des Autors: Hochschulreformen. Eine unendliche Geschichte seit den 1950er Jahren. Duncker und Humblot, 381 Seiten 79,90 Euro.

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