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Am 11. April 1968 feuerte der 23jährige, gescheiterte Fremdenlegionär Josef Bachmann am Kurfürstendamm in Berlin drei Schüsse auf Rudi Dutschke ab. Der SDS-Ideologe verlor sein Gedächtnis und seine Sprechfähigkeit. Das Foto zeigt den Studentenführer und SDS-Ideologen Rudi Dutschke im Dezember 1967.
© dpa

1968 im Tagesspiegel: Mordanschlag auf Rudi Dutschke in Berlin

Vor 50 Jahren schockierte das Revolver-Attentat auf Rudi Dutschke am Kurfürstendamm

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 12. April 1968 schrieb der Tagesspiegel über das Attentat auf Rudi Dutschke.

Der 28jährige Berliner SDS-Ideologe Rudi Dutschke ist gestern nachmittag am Kurfürstendamm von einem noch nicht identifizierten Täter durch mehrere Revolverschüsse lebensgefährlich verletzt worden. Er erlitt unter anderem einen Hirnsteckschuß, der eine mehrstündige Operation im Westend-Krankenhaus erforderlich machte.

Der Täter, der nach dem Attentat in einen nahegelegenen Keller geflüchtet war, wurde nach einer Stunde von der Polizei überwältigt, die zunächst Tränengas eingesetzt hatte, später aber in einen Schußwechsel verwickelt wurde. Dabei wurde dem etwa 25jährigen Täter ein Oberarm durchschossen; der Täter wurde operiert.

Bundeskanzler Kiesinger hat in einem Telegramm an Frau Dutschke seine Genesungswünsche übermittelt und zugleich betont: "Es darf in unserem Lande nicht dazu kommen, daß Meinungsverschiedenheiten durch brutale Gewalt ausgetragen werden."

Die Nachricht von dem Anschlag auf Rudi Dutschke hat zu zahlreichen Stellungnahmen geführt, in denen Besorgnis über die innenpolitische Entwicklung geäußert wurde. In Berlin und Westdeutschland kam es zu Studentendemonstrationen, die in den späten Abendstunden noch andauerten. Für die vergangene Nacht wurde für alle Berliner Polizeikräfte Alarmstufe I wegen der Aufmärsche angesetzt.

Gegen 23 Uhr kam es zu einer schweren Straßenschlacht am Springer-Haus. Die Garage und zahlreiche Vertriebsfahrzeuge des Verlages gerieten in Brand. Es kam zu Steinwürfen, Schlägereien und zum Einsatz von Wasserwerfern.

Aus dem Rathaus Schöneberg verlautete gestern abend, daß Bürgermeister Neubauer den Regierenden Bürgermeister Schütz auffordern werde, unverzüglich von seinem Urlaubsort Kämpen auf Sylt nach Berlin Zurückzukehren. Schütz, der zur Teilnahme an der gestrigen Sitzung des Abgeordnetenhauses seinen Urlaub unterbrochen hatte, war nach 17 Uhr in die Bundesrepublik zurückgeflogen. Am Abend übermittelte er Frau Dutschke telegraphisch seine Genesungswünsche und erklärte: "Wir verabscheuen die verbrecherische Tat," Das Senatspresseamt teilte gegen 23 Uhr mit, Schütz werde heute vormittag in Berlin zurückerwartet.

Über die Verletzungen Dutschkes berichtete Bürgermeister Neubauer, ein Schuß habe die rechte Wange getroffen, einer die rechte Brust, und der letzte sei ein Steckschuß im Gehirn.

Operation um 23 Uhr 30 beendet

Die Operation, die um 18 Uhr 45 begonnen hatte, war um 23 Uhr 30 beendet. Einer der leitenden Arzte teilte nach dem Eingriff mit, zwei der drei Kugeln seien entfernt worden. Der dritte Einschuß sei relativ harmlos. Den Zustand des Patienten bezeichnete der Arzt als gut; sein Kreislauf sei in Ordnung; ob der Kopfschuß das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen habe, könne erst nach Ablauf von 48 Stunden festgestellt werden. Der Täter ist nach Auskunft der behandelnden Ärzte weder vernehmungs- noch transportfähig. Es gibt bisher keine Anhaltspunkte, daß er Komplicen hatte.

Studenten-Demonstrationen

Hunderte von Studenten zogen gestern abend von der Technischen Universität zum Verlagshaus Axel Springer. Zuvor hatte der Bundesvorstand des SDS in Frankfurt erklärt, die „hemmungslose Hetzkampagne von Berliner Senat und Springer-Presse gegen Minderheiten" habe alle Oppositionellen zu Freiwild gemacht. Der Berliner SDS kündigte für heute, 15 Uhr, eine Demonstration am Lehniner Platz an. Als „unverantwortlich" hat ein Sprecher der Bundesregierung die in Zusammenhang mit dem Attentat vom SDS und anderen Vertretern der außerparlamentarischen Opposition erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen. „Es ist unverantwortlich, wenn jetzt die demokratischen Parteien oder der Berliner Senat be- schuldigt werden, sie hätten das Attentat möglich gemacht." Auch Bundestagspräsident Gerstenmaier wies die Behauptung, die politische Führung habe versagt, als Unterstellung zurück. Solche Vorwürfe erinnerten ihn an die Sprache von 1925 bis 1932, sägte Gerstenmeier.

Eine Erklärung Neubauers

In einer ersten Stellungnahme erklärte Bürgermeister Neubauer um 19 Uhr in einer  Pressekonferenz, der Senat verstehe die Empörung und Erregung über diese Tat, die auch er auf das schärfste verurteile. Der Senat bittet die Bevölkerung, besonders die junge Generation, die Polizei bei der Aufklärung des Verbrechens zu unterstützen. „Diese Tat hat eine harte und unmißverständliche Sühne zu finden."

Das Attentat auf Dutschke ereignete sich vor dem Grundstück Kurfürstendamm Nr. 142 an der Einfahrt zu einer Tankstelle. Etwa 30 Meter von dem Tatort entfernt, in dem Haus Kurfürstendamm Ecke Johann-Georg-Straße, be- finden sich die Geschäftsräume des SDS. Der Täter, der sich nach Zeugenaussagen vor dem Verbrechen im SDS-Haus nach Rudi Dutschke erkundigt haben soll, schoß aus einem Trommelrevolver, als Dutschke auf einem Fahrrad den Kurfürstendamm in östlicher Richtung entlangfuhr.

Rudi Dutschke wurde von drei Schüssen im Kopf und in der Brust getroffen. Er stürzte vom Fahrrad und wankte blutüberströmt und schreiend zum SDS-Haus zurück. Mehrere Passanten stützten ihn, brachten ihn zu einer Bank vor dem SDS-Haus und warteten auf die inzwischen alarmierte Feuerwehr, die nach wenigen Minuten eintraf und den Schwerverletzten in das Albrecht-Achilles-Krankenhaus brächte. Dort wurde Dutschke operiert.

Dutschke wurde später in das Westend- Krankenhaus weitergebracht, weil dort bessere Voraussetzungen für eine Hirnoperation be- standen. Es fand dort eine zweite mehrstündige Operation statt. Um 20 Uhr 30 verlautete, die Operation dauere noch an. Dutschkes Zustand war schon zuvor als sehr ernst, jedoch als nicht völlig hoffnungslos bezeichnet worden.

Täter nach Feuergefecht mit der Polizei gefaßt

Der Täter war nach dem Attentat, von mehreren Passanten verfolgt, den Kurfürstendamm entlang zur Nestorstraße geflüchtet. Dort ver- schanzte er sich im Keller eines im Bau befindlichen Wohnhauses zwischen den Häusern Nestorstraße 53 und 55. Die Polizei umstellte sofort mit starken Kräften den .Wohnhaus- komplex und versuchte, mit Tränengas den Täter aus seinem Versteck herauszutreiben. Starker Luftzug trieb die Tränengasschwaden jedoch aus dem Keller. Außerdem warf der Täter mehrere der Tränengaspatronen ins Freie zurück. Drei Polizisten drangen daraufhin mit gezogenen Pistolen in das Gebäude ein.

Der Täter eröffnete sofort das Feuer aus seinem Trommelrevolver, wobei ein Polizist leicht an der Hand verletzt wurde. Daraufhin schössen die Polizisten zurück. Von einer Kugel getroffen brach der Täter zusammen. Er wurde mit einem komplizierten Oberarm-Schußbruch in ein Krankenhaus gebracht. Bei ihm fand die Polizei noch 31 Patronen. Bei dem Trommelrevolver handelt es sich um eine durchbohrte Gaspistole. In den Abendstunden war der Täter noch nicht identifiziert.

Unmittelbar nach dem Attentat hatte zunächst die Abteilung I der Kripo, die für die Verfolgung politischer Verbrechen zuständig ist, die Ermittlungen übernommen. Da aber am Tatort nicht festgestellt werden konnte, ob es sich um ein politisches Verbrechen handelte, wurde die Mordkommission mit den weiteren Ermittlungen beauftragt.

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