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Zwei junge Männer tragen ein Plakat mit der Aufschrift "Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren", dahinter gehen zwei Männer in akademischen Roben.
© picture-alliance/ dpa

50. Todestag von Benno Ohnesorg: Umstürzendes Bewusstsein

Antiautoritär, aufmüpfig, links: Der 2. Juni 1967 veränderte die Bundesrepublik – die Hochschulen allerdings weniger. Ein Gastbeitrag zum 50. Todestag von Benno Ohnesorg.

Das hatte es zuvor noch nicht gegeben: Ein Student, Benno Ohnesorg, der mit etwa tausend anderen vor der Deutschen Oper gegen den Schah von Persien friedlich demonstriert, wird im Rahmen eines brutalen Polizeieinsatzes getötet, von einem Polizisten von hinten in den Kopf geschossen (wie sich bald herausstellt). Dieser Polizeieinsatz setzte überfallartig ein, als der Schah schon sicher in der Oper war (und die Demonstranten nach Hause gegangen wären): eine – auch aus heutiger Sicht – unverständliche und unbegründbare Aktion.

Was später „68“ genannt wurde, die Studentenbewegung von 1966 bis 1968, hatte an diesem 2. Juni 1967 einen grauenhaften Höhe- bzw. Tiefpunkt. In ganz Deutschland, auch außerhalb der Hochschulen, gab es Solidaritätsbekundungen. Am 3. Juni 1967 herrschte in Berlin eine Art Ausnahmezustand, es galt ein generelles Demonstrationsverbot, auch der Henry-Ford-Bau blieb verschlossen. Zum Glück: Der Dekan der Wi-So-Fakultät öffnete uns die Fakultätsräume. Aber das Gefühl, in einem wild gewordenen Polizeistaat zu leben und auch von der eigenen Universitätsleitung alleingelassen worden zu sein, sollte sich tief einprägen. Ein Umsturz in unserem politischen Bewusstsein, schlagartig, ins Umstürzlerische.

Der Trauerfeier für Benno Ohnesorg am 8. Juni folgte der Trauermarsch, an dem über 15 000 teilnahmen, und die Überführung des Sarges nach Hannover, zur Beerdigung im Kreis seiner Familie.

Die Kennzeichen der Studentenbewegung

Der sich anschließende Kongress von Hannover führte wieder zurück zum Argumentieren und Debattieren. Denn dies waren – auch im Rückblick – die Kennzeichen der Studentenbewegung: der Glaube an die Kraft des Wissens und des Arguments; der Glaube an die Kraft, die autoritären Traditionsbestände in Deutschland aufzubrechen; und die Überzeugung, dass Politisierung und Demokratisierung notwendig sind.

Die kritischen Positionen (Vietnam, Dritte Welt, Kapitalismus, Autoritarismus, Pressekonzentration und Notstandsgesetze) waren auch aus heutiger Sicht nicht nur vertretbar, sie waren historisch richtig. Wir hatten damals – gegen die ganz herrschende Meinung – bei diesen Themen einfach recht. Und zugleich waren wir Teil der globalen Kulturrevolution, die alle Lebensbereiche aufmischte: Musik, Kleidung, Lebensstile, Ausdrucksformen usw. „Wir wollen nicht haben, wir wollen sein.“

Auf dem Kongress in Hannover wurde gleichwohl bereits erstaunlich hochschulnah debattiert. Es ging um gesellschaftliche Verantwortung und Relevanz von Wissenschaft („Elfenbeinturm“), um die verkrusteten Hochschulstrukturen („Ordinarienuniversität“), um die Reform der Studiengänge („Forschendes Lernen“), um den Zusammenhang von Wissenschaft und beruflicher und politischer Praxis („Organisationsfrage“), um die Freiheit von Lehren und Lernen („free speech movement“). Diesen Themen und Konflikten wandte sich die Studentenbewegung nach dem 2. Juni 1967 wieder stärker zu. Sie sollten noch lange Zeit aktuell bleiben und zu tiefgreifenden Veränderungen vor allem im Bildungssystem führen. Drei Beispiele:

Am OSI raufen sich Studenten, Assistenten, Professoren zusammen

1. Am Otto-Suhr-Institut rauften sich Studenten, Assistenten und Professoren zusammen und erarbeiteten ein für damalige Verhältnisse revolutionäres Strukturmodell, das alles thematisierte und regelte, was die Debatten über die Reform von Struktur, Organisation und Inhalt der Universität in den nächsten Jahren bestimmen wird. Von der Mitbestimmung in den Gremien und ihrer personellen Zusammensetzung über neue Formen der Institutsleitung bis zur fachwissenschaftlichen Ausgestaltung der Prüfungsordnungen und damit der Studiengänge. Die exzellente wissenschaftliche Blaupause (unsere „Bibel“) für diese Hochschulreform hatten vier SDS-Köpfe schon 1965 vorgelegt: „Hochschule in der Demokratie“.

Das OSI-Modell, das nur von wenigen ganz radikalen OSI-Studenten als reformistisch abgelehnt wurde, fand breite Unterstützung, auch bei vielen OSI-Professoren. Aber die neue Satzung bedurfte der Zustimmung auch des Akademischen Senats – und hier mauerten die Ordinarien. Erst durch ein Gesetz des Abgeordnetenhauses gab es im Juni 1968 Rechtssicherheit für die Reform. Aber die immer hektischer werdenden Auseinandersetzungen (Streiks gegen die Notstandgesetze, Besetzungen von Räumen) führten zu Aktionsformen, durch die immer mehr, auch gutmeinende Lehrer, nicht nur abgeschreckt, sondern gelegentlich auch verunglimpft wurden. Ein Reformprozess also, mit Opfern in den eigenen Reihen.

Die Gründung der "Kritischen Universität"

2. Nach intensiven Vorarbeiten wurde am 1. November die „Kritische Universität“ gegründet. Aus den Forderungen nach einer Gegenuniversität (und den Erfahrungen in den USA) war ein anspruchsvolles Konzept entwickelt worden, das in intensiven Seminaren und Arbeitsgruppen, auch unter Beteiligung von Assistenten, diskutiert, dann aber auch verwirklicht wurde. Dass es nicht zuletzt um Fragen der politischen Praxis ging und deren wissenschaftsgestützte Analyse und Reflexion, liegt auf der Hand. Zugleich sollte die Trennung zwischen politischer Freizeit und unpolitischer fremdbestimmter Arbeit durchbrochen und die Arbeit selbst zum Gegenstand antiautoritärer Praxis gemacht werden. Mit ähnlich großem argumentativen Aufwand versuchten Universitätsleitung und Senatsverwaltung dies Projekt zu verhindern. Aber die KU wird gegründet und bleibt bis ins Jahr 1969 aktiv. Der Vietnamkongress im Februar 1968 ist eines der sichtbarsten Projekte.

3. Im „FU-Spiegel“, dem offiziellen Organ der Studentenschaft, werden in dieser Zeit erstmals in Deutschland „Vorlesungsrezensionen“ veröffentlicht. Dies war ein Musterbeispiel für den Antiautoritarismus der Studentenbewegung: die Anmaßung, auch an Ordinarien und Honoratioren Kritik zu üben, sich einfach auf die gleiche Stufe mit ihnen zu stellen. An der FU brach ein Sturm der Entrüstung los. Aber das Thema war gesetzt: Wie steht es um die Qualität der Lehrveranstaltungen unserer Ordinarien und das Recht der Studenten auf Kritik?

Es gab kein Abrutschen in Dauerprotest

Wie immer man den Erfolg dieser Projekte einschätzen mag: Historisch wichtig ist, dass in den Monaten nach dem 2. Juni 1967 kein Abrutschen in Dauerprotest und gar Gewalt stattfindet, sondern eine anspruchsvolle Diskussion über Sinn und Unsinn von Studien- und Hochschulreformen. Daran haben sich Tausende beteiligt. Sie führten – auch unabhängig von der Kritischen Universität – zu einer Vielzahl von Arbeitsgruppen, Zirkeln und Zellen, in denen systematisch Marx (und dann auch Freud) rezipiert wurde.

Über die Thematisierung („Agenda Setting“ würden wir heute sagen) hinaus haben diese Projekte aber eine längerfristige Wirkung nicht gehabt.

Die Situation an der FU änderte sich dramatisch. Einerseits nahmen eher anarchische Aktionen seitens der Studenten zu, in einigen Fachbereichen kommt es zu fast chaotischen Zuständen, in denen Lehren und Lernen im eigentlichen Sinn nicht mehr möglich waren. Andererseits versuchen die Hochschulpolitiker in Berlin und im Bund, den Geist wieder in die Flasche zu kriegen. In Berlin wird der Asta per Gesetz abgeschafft. Das Bundesverfassungsgericht verwirft 1973 Reformmodelle mit Drittelparitäten und legt fest, dass Professoren in Fragen der Wissenschaft über eine Mehrheit in den Gremien verfügen müssen. Das Hochschulrahmengesetz des Bundes von 1976 gibt einheitliche Regelungen für die Bundesrepublik vor.

Und der Zeitgeist dreht sich weiter. In den neunziger Jahren werden Organisationsstrukturen in Industrie und Banken vorbildlich: Präsidenten erhalten gehäufte Machtbefugnisse und werden von extern (hochschulfremd) besetzten Hochschulräten (vulgo Aufsichtsräten) kontrolliert. Im Prozess der europäischen Einigung wird auch ein (grundsätzlich sinnvoller) Hochschulraum geschaffen, in dem alle in allen Ländern unter vergleichbaren Bedingungen studieren können sollen. Bologna, diese altehrwürdige Stadt, muss den Namen hergeben für eine Reform, die dann aber doch eher mehr Effizienz durch Output-Orientierung garantieren soll: BA und MA heißen nunmehr europaweit die Abschlüsse, Modularisierung die Studienreform.

Proteste heute prallen von der Gummiwand der Massenuni ab

Ein Übriges tat die Demografie: An der FU waren Ende der sechziger Jahre etwa 15 000 Studenten, Anfang der Neunziger über 60 000 (heute über 30 000). Hierbei ist die FU keine Besonderheit. Inzwischen erwerben nicht mehr sechs Prozent eines Jahrgangs, sondern gut 50 Prozent eine Studienberechtigung. Da macht es wenig Sinn, an 50 Jahre alte Erfahrungen anzuknüpfen. Heute, so scheint es, werden auch die phantasievollsten Provokationen gleichsam von einer massenuniversitären Gummiwand abgefangen.

Wo bleibt das Positive? Im November 1967 wird im Hamburger Audimax das wunderbare Transparent entrollt: „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“. Damit wird ein Thema medienwirksam angesprochen, das auch in Berlin viele Mitstreiter hatte: die Frage nach der NS-Belastung, auch der Universitäten („Braune Universität“). In dieser Frage lässt sich eine erstaunlich positive Entwicklung in Deutschland feststellen: Selbst in den großen Ministerien hat eine Aufarbeitung stattgefunden, allerdings dabei ein Maß an personeller Kontinuität aufgezeigt, das auch heute noch erschüttern muss. Wenn wir damals gewusst hätten, was wir heute wissen, wessen Bewusstsein wäre da nicht noch radikaler geworden. Nebenbei: Auch in dieser Frage hatten wir recht.

1967 veränderte unser Bewusstsein

1967 veränderte unser Bewusstsein. Erstmals in der deutschen Geschichte ist die große Mehrheit der akademischen Jugend antiautoritär, aufmüpfig und: links! Schon dies ist ein Riesenerfolg der Studentenbewegung. (Und nicht die kleine Gruppe mörderischer Terroristen, auch wenn sich einige von ihnen „Bewegung 2. Juni“ genannt haben.) Die große politisierte Mehrheit der Engagierten begann mit verändertem, antiautoritärem Bewusstsein den „Marsch durch die Institutionen“, in Verbände, Parteien, Kirchen, Medien, Schulen. Auch in die Universität („Gruppenuniversität“), in der das Pendel dann aber doch etwas zu weit ausschlug und mitunter alle „bürgerliche“ Wissenschaft (und Professoren als „Scheißliberale“) zum Teufel geschickt werden sollten. Trotzdem: Die politische Kultur der Bundesrepublik war nach 1968 eine andere: demokratischer, pluraler, politischer, linker.

Der Autor hat an der Freien Universität Berlin seit 1965 Jura studiert und wurde 1966 zum Vorsitzenden des FU-Astas gewählt. 1967 war er Gründungsmitglied des Republikanischen Clubs in West-Berlin. Später war er in verschiedenen Positionen für die SPD tätig, von 2010 bis 2014 als Staatssekretär für Wissenschaft in Berlin.

Knut Nevermann

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