Medizin: Die wahre chinesische Medizin
TCM, die traditionelle chinesische Medizin, ist in der westlichen Welt sehr populär. Doch unser Bild fernöstlicher Heilkunde hat nur wenig mit der Tradition zu tun, sagt der Sinologe Paul Unschuld.
Ein Zug, der eigentlich schon voll ist. Trotzdem sind Trauben von Menschen auf dem Bahnsteig, bepackte Männer und Frauen, Kinder auf dem Arm, eilige Reisende bereits auf den Stufen des Waggons: „Auf den Zug aufspringen“ heißt das großformatige Gemälde, das in den 80er Jahren in der Volksrepublik China entstanden ist. Wer Paul Unschuld in der Berliner Uniklinik Charité besucht, ist schon in seinem Vorzimmer von dem detailgetreuen Kunstwerk in den Bann geschlagen. Was den Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte, Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften sichtlich freut.
Paul Unschuld, Pharmazeut, Politologe und Sinologe und ehemaliger Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, ist dabei nicht der Typ, der im letzten Moment auf einen vollen Zug aufspringen würde. Schon gar nicht auf einen, der sich schon ohne sein Zutun in Bewegung gesetzt hat. Auch für chinesische Medizin interessiert er sich nicht erst, seit es Mode ist.
Vor kurzlebigen Trends schützt den Gelehrten schon seine Gründlichkeit: In diesem Sommer hat der Verlag University of California Press die beiden letzten Bände des auf vier Bände angelegten „Huang Di Nei Jing Su Wen“-Projekts veröffentlicht. 23 Jahre Arbeit stecken in der englischen Übersetzung und sorgfältigen Kommentierung des Werks, das als „Klassiker des Gelben Kaisers“ bekannt ist. Zusammen mit seinem Kollegen Hermann Tessenow hat Unschuld damit einen der ältesten Texte der chinesischen Medizin für Leser aus aller Welt zugänglich gemacht.
Das 1600-Seiten-Werk enthält Texte, die bis ins zweite vorchristliche Jahrhundert zurückgehen, aber auch Teile, die erst 1000 Jahre später hinzugefügt wurden. Um das detailgenau zu rekonstruieren, wurden 700 Schriften chinesischer und japanischer Gelehrter des vergangenen Jahrtausends ausgewertet. Den Klassiker der antiken chinesischen Heilkunde nun erstmals nach allen Regeln der philologischen Kunst in die Gegenwart gerettet zu haben, verschaffe ihm durchaus die „Befriedigung einer Erstbesteigung“, sagt Unschuld. Sportlicher Ehrgeiz reicht als Begründung für ein Langzeitprojekt dieser Art jedoch nicht aus. Warum also gerade Huang Di Nei Jing Su Wen? Hier kommt die Schrift ins Spiel. Den Sinologen und Medizinhistoriker Unschuld fasziniert an der chinesischen Heilkunde, dass sie neben der westlichen, die auf die griechisch-römische Kultur zurückgeht, die einzige ist, die aufgrund von Texten lückenlos bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt werden kann. „Das gibt uns die wunderbare Möglichkeit, Antike mit Antike zu vergleichen.“ Und zwar nicht allein Heilkunde mit Heilkunde. „Die antike chinesische Medizin zu erforschen verschafft Einblicke in das Naturverständnis, in Kultur und Weltanschauung verschiedener Epochen.“
Dabei gebe es „die“ chinesische Medizin als abgeschlossenes Heilsystem nicht. „Sie hat sich zwei Jahrtausende lang ähnlich dynamisch fortentwickelt wie die Heilkunde im Abendland.“ Auch die therapeutischen Kenntnisse der „Barfußärzte“ aus den 60er und 70er Jahren basierten teilweise auf antikem Wissen.
"Um uns zu verstehen, müssen wir das kulturelle und historische Gepäck kennen"
Nicht zuletzt geht es Unschuld um die Gegenwart. „Traditionelle chinesische Medizin“, kurz TCM, erfreut sich in den westlichen Industrienationen seit einigen Jahren großer Beliebtheit. Vor allem die Akupunktur. Die Behandlung mit Nadeln wird bei einigen Formen chronischer Gelenk- und Kopfschmerzen aufgrund großer, nicht unumstrittener Studien seit einigen Jahren von den Krankenkassen bezahlt.
Es bleibt jedoch ein Unbehagen, schon deshalb, weil in den Untersuchungen auch die Nadelung an „falschen“, nicht der Lehre von den Meridianen entsprechenden Punkten Wirkung zeigte. „Muss man die Wirkmechanismen kennen?“, fragt sich Unschuld. „Und stimmen die veralteten Theorien dazu überhaupt?“ Als Pharmazeut stellt er solche Fragen auch in Bezug auf Substanzen in Arzneimitteln der TCM.
Die brisanteste Frage, die der Chinakenner sich erlaubt, betrifft jedoch das T im Kürzel TCM. Wie traditionell ist die „Traditionelle chinesische Medizin“ eigentlich, die seit den 50er Jahren in der Volksrepublik China propagiert wurde? TCM sei eigentlich ein Kompromiss, erläutert Unschuld. Ein Mittelweg zwischen der sofortigen Abschaffung der alten Heilmethoden, die die westlich ausgebildeten Ärzte und marxistische Theoretiker forderten, und der Fortführung eines Erbes, wie es die Konservativen verlangten. „Sie ist eine Interpretation, die die chinesischen Behörden in der Mao-Zeit geliefert haben. Es stellt sich die Frage, ob wir sie einfach übernehmen sollten.“
Um sie als solche zu erkennen, muss man allerdings Zugriff zu den alten Texten haben. „Wir müssen selbst Wissen über die Tradition der chinesischen Heilkunde erzeugen, um nicht von der heutigen chinesischen Interpretation abhängig zu sein“, fordert Unschuld. Im Land selbst gebe es kaum unabhängige medizinhistorische Forschung.
Um das Bild zu komplettieren, hat Unschuld im Laufe seiner zahlreichen China-Besuche mehr als eintausend handschriftliche Texte zur Heilkunde aus den vergangenen fünf Jahrhunderten gesammelt, die im Volk verbreitet waren. Sie warten nun in den Beständen der Staatsbibliothek zu Berlin und des Ethnologischen Museums auf Erforschung. Ein erster Katalog dieser bisher unbekannten Texte soll im Frühjahr erscheinen. Der hochgewachsene 68-Jährige zeigt in seinem Arbeitszimmer stolz Originalmanuskripte mit deutlichen Gebrauchsspuren.
Unschuld ist der Inbegriff des Buchgelehrten, warnt aber gleichzeitig davor, die Textweisheiten für bare Alltagsmünze zu nehmen. „Man darf nicht einfach die hohen Ideale der chinesischen Medizin, wie sie sich in den Büchern finden, mit der Alltagsrealität der medizinischen Versorgung hierzulande vergleichen“, mahnt er.
Wer die TCM als Alternative anpreise, müsse zudem auch zugeben, was sie alles nicht enthält. Chirurgie und die Lehre von den Infektionskrankheiten sind nur zwei Beispiele. „Nicht ohne Grund leistet sich die begüterte Oberschicht in China heute die beste moderne Medizin, die man sich denken kann.“ Doch spricht nicht die viel beschworene Ganzheitlichkeit für das Einbeziehen traditioneller Formen der Therapie und der Vorbeugung? „Keine Heilkunde ist so ganzheitlich wie die westliche Medizin. Diese Bandbreite gibt es in der chinesischen Medizin nicht“, widerspricht Unschuld. Der junge Wissenschaftler, der 1969 nach Taiwan reiste, befragte dort chinesische Pharmazeuten, wie sie die moderne Arzneimittellehre mit ihren Traditionen verbinden.
Die Frage, wie die westliche Medizin in Asien aufgenommen wird, beschäftigt Unschuld auch heute noch. So freut es ihn, dass das Bundesforschungsministerium am Horst-Görtz-Stiftungsinstitut ein deutsch-chinesisches Netzwerk fördert. „Um uns zu verstehen, müssen wir das jeweilige kulturelle und historische Gepäck kennen“, sagt Unschuld. Das Gemälde mit den Zugreisenden passt insofern doch ganz gut zu seiner Arbeit.