Mysteriöse Tropenkrankheit: Das unheimliche Nicken
Alle drei Sekunden fällt der Kopf nach vorne, manche wachsen nicht oder bleiben geistig zurück: In Ostafrika leben Kinder mit dem Kopfnicksyndrom. Bisher suchen Forscher vergeblich nach der Ursache des Leidens.
Vor dem Krankenhausbett sitzen zwei Jungen auf dem Boden. Der eine wirkt jugendlich, der andere wie ein Grundschüler. Der Größere reicht dem Kleinen einen Knautschball. Dieser kann den bunten Ball kaum drücken, geschweige denn zurückwerfen. „Mein Name ist Tabu, ich bin 22 Jahre alt“, sagt der Große. „Und das ist mein Bruder Kidega. Er ist 18.“
Vor zwölf Jahren begann Kidega zu nicken. Die Mutter brachte ihn in eine Klinik, aber die Ärzte konnten nichts gegen seine seltsamen Krämpfe tun und schickten die Familie wieder fort. Der Junge hörte auf zu wachsen. Heute kann er kaum noch sprechen, sich nicht alleine waschen, nicht laufen. Dafür suchen ihn regelmäßig Anfälle heim. „Kidega geht es immer schlechter“, sagt Tabu. „Wir sind nun das siebte Mal im Krankenhaus.“ Immerhin gibt es eine Diagnose: Kopfnick-Syndrom. Im Norden Ugandas weiß fast jeder, was damit gemeint ist.
Das Leiden befällt nur Kinder, irgendwann zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr. Während der Nick-Episoden sind sie wie weggetreten, ihr Kopf fällt bis zu 20-mal in der Minute nach vorne und wird reflexhaft wieder angehoben. Minutenlang, teilweise zehnmal am Tag. Im Laufe der Zeit bleiben viele von ihnen geistig und körperlich zurück. Manche stürzen bei einem Anfall in eine Feuerstelle oder in einen Fluss und verletzen sich schwer. Die Eltern müssen trotzdem arbeiten. Einige wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Kinder anzubinden. Die kranken Kinder finden keine Spielkameraden. Aus der Angst, sich anzustecken, wird ein Stigma.
Die Regierung befürchtete eine Epidemie mit einem unbekannten Erreger
Seit mehr als einem Jahrzehnt suchen Wissenschaftler in kleinen, prekär finanzierten Studien nach der Ursache der mysteriösen Krankheit. Sie stehen vor einem Rätsel. Ob und wie das Kopfnicksyndrom von Mensch zu Mensch weitergegeben wird, ist nach wie vor unklar. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat es nun in die Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten aufgenommen.
Anscheinend kommt das Leiden nur in Ostafrika vor. Bereits in den 1990er Jahren erzählte man sich in Uganda und im Sudan von einzelnen Kindern, die immer wieder geistesabwesend nicken. Eine offizielle Meldung erreichte das Gesundheitsministerium von Uganda erst 2003. Seitdem zählte die Behörde rund 3000 Fälle, allesamt aus drei Bezirken im Norden Ugandas. Auch in einem angrenzenden Gebiet, dem heutigen Südsudan, mehren sich die Berichte.
Ugandas Regierung befürchtete eine Epidemie mit einem neuen Erreger. Also bat sie die US-amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC um Hilfe. Die CDC hat eine Sondereinheit, deren Teams immer dann ausschwärmen, wenn irgendwo eine unbekannte Krankheit ausbricht. Eine Seuche, die sich eventuell bis in die USA ausbreiten könnte. Eines kam Ende 2009 und Mitte 2010 nach Uganda. Die Forscher sammelten Blut und Rückenmarksflüssigkeit, Urin- und Hautproben von Nick-Kindern. Bei 23 von ihnen leiteten sie über eine Art verkabelte Badekappe die Hirnströme ab. Während der Untersuchung bekamen zufällig zwei Kinder einen Anfall. Die Kurven zeigten, dass für einen Moment die Hirnströme unnormal waren. Dadurch waren die Nackenmuskeln nicht richtig angespannt – der Kopf fiel nach vorne. Die Studie bestätigte einen Verdacht: Eine Nick-Episode ist eine Art epileptischer Anfall. Das erklärt aber nicht, warum es dazu kommt.
"Die Erde ist hier voller toter Menschen."
„Ich glaube, die Krankheit ist eine Folge der Munition. Oder sie entsteht, weil die Erde hier voller toter Menschen ist“, sagt Martin Ocan. Der Mann lebt im Busch im Norden Ugandas. In dieser Gegend herrschte zwei Jahrzehnte lang ein Bürgerkrieg. Ganz in der Nähe ist Joseph Kony aufgewachsen, jener christliche Fundamentalist, der als Anführer der Lord’s Resistance Army folterte, mordete und Kinder zu Soldaten machte. Millionen flüchteten vor seinen Truppen. Auf der anderen Seite der Grenze kämpften Rebellen gegen Soldaten und Milizen um die Unabhängigkeit des Südsudans. Heute wird in dem neuen Staat wieder gemordet, wieder gibt es Flüchtlinge.
Im Dorf von Martin Ocan ist das im Moment weit weg. Er ruft fünf seiner 24 Kinder zusammen: Agnes, Joyce, Sarah, Jacob und Moses. Sie alle haben das Kopfnicken, erzählt er, als sie sich auf einer zerlöcherten Decke unter einem kleinen Baum niedergelassen haben. Sie waren alle noch klein, als die Familie von 2003 bis 2006 wegen des Bürgerkriegs in einem Vertriebenenlager gelebt hat. „Bedenklich finde ich das fremde Essen, das wir dort bekommen haben. Augenbohnen oder ein anderes Öl. Zu Hause essen wir Hirse, Mais, Bohnen und Erbsen.“
Die Forscher suchen nach Risikofaktoren, die die Kinder verbinden
Die Suche nach der Ursache des Kopfnicksyndroms funktioniert nach dem Ausschlussprinzip. Die Forscher überprüfen Risikofaktoren, die die kranken Kinder verbinden. Das Nicken beginnt zum Beispiel oft genau dann, wenn es Ugali gibt, einen typischen Brei aus Maismehl und Hirse. Das könnte ein Hinweis sein, dass bestimmte Nahrungsmittel das Kopfnicken auslösen. Eine Allergie. Unwahrscheinlich ist hingegen, dass die Lebensmittel schuld sind, die an die Flüchtlingscamps gespendet wurden. Es hatte schon vorher Kopfnick-Kinder gegeben.
Um die Krankheit ranken sich viele Gerüchte
Regelmäßig fällt der Verdacht auf den Erreger der Flussblindheit, Onchocerca volvulus. Anhand von Hautproben hatten einige Teams festgestellt, dass fast alle Kopfnick-Kinder mit diesem Parasiten infiziert sind – aber nur zwei Drittel jener Kinder, die nicht nicken. Erwachsene Exemplare nisten sich unter der Haut ein, die kleinen Fadenwürmer gerne im Augapfel, was zur Erblindung führen kann. Allerdings kommt die Flussblindheit auch in anderen Regionen Ugandas und des Südsudans vor. Und in etlichen Ländern, wo keine Kopfnick-Kinder bekannt sind. Ein paar Forscher vermuten deshalb, dass Onchocerca volvulus nicht selbst der Erreger, sondern nur der Überträger eines Virus oder anderen Keims ist. Belege gibt es für diese These nicht.
Affenfleisch, Umweltverschmutzung, die Seelen der gefallenen Rebellen, das Blut der getöteten Nachbarn. Um die Krankheit ranken sich viele Gerüchte. Im Sommer 2012 trafen sich Experten beim ersten und einzigen internationalen Symposium zum Kopfnicksyndrom, um alle möglichen und unmöglichen Auslöser zusammenzutragen und abzuwägen. Die WHO hatte nach Kampala geladen, in die Hauptstadt Ugandas. Ein Tagungsbericht fasst die Vorträge, Poster und Fachaufsätze zusammen. Die Konferenzteilnehmer schlossen Buschfleisch und die Wasserquellen vor Ort als Ursachen aus. Ebenso den Augenwurm Loa Loa, den Parasit für die Schlafkrankheit sowie Arsen, Blei, Kupfer, Quecksilber und Pestizide. Als unwahrscheinlich stuften sie unter anderem Malaria und Masern ein.
„Was bleibt da übrig“, fragt Abdinasir Abubakar, der für die WHO im Südsudan arbeitet. „Ich glaube, dass dieses Problem mit den Chemikalien für Waffen zu tun hat, denen die Menschen ausgesetzt waren.“ Mit seinem Bauchgefühl facht er das Misstrauen der Menschen an. Kämpfte eine der Bürgerkriegsparteien mit Bio- oder Chemiewaffen? Unwahrscheinlich, urteilten die Experten auf dem WHO-Treffen. Allerdings beruht diese Aussage auf zweifelhaften Daten.
"Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Gegend."
Zum einen ist da die Zusicherung der Regierung, es seien im Bürgerkrieg keine solchen Waffen benutzt worden. Das Gesundheitsministerium Ugandas habe mit der Armee die Kriegsmittel untersucht. Dabei war sie selbst an den Kämpfen beteiligt. Zum anderen beruft sich der Tagungsbericht auf die Untersuchung der CDC. Allerdings hatten die US-Forscher vor Ort weder nach Kriegsmunition gesucht noch in den Gewebeproben nach Rückständen möglicher Chemie- oder Biowaffen geschaut. Stattdessen hatten sie die Menschen im Bürgerkriegsgebiet befragt, inwiefern sie „Kontakt zu Munition“ hatten. Die Forscher konnten keinen Unterschied feststellen zwischen jenen Familien, die vom Kopfnicken betroffen sind, und jenen Familien, die keine nickenden Kinder haben. Abdinasir Abubakar bleibt trotzdem dabei: „Es stimmt irgendetwas nicht mit dieser Gegend.“
Zumindest verläuft die Epidemie hier anders. Im Mahenge-Gebirge Tansanias hatte eine norwegische Missionsärztin die Krankheit bereits in den 1950er Jahren beobachtet. Sie konnte zurückverfolgen, dass es selbst in den 1930er Jahren nickende Kinder gegeben hat. „Das waren immer etwa gleich viele“, sagt Andrea Winkler. Sie leitet die Forschungsgruppe Globale Neurologie am Krankenhaus rechts der Isar der Technischen Universität München. Außerdem würden in Tansania die Kopfnick-Kinder nicht so sehr abbauen wie jene in Uganda und Südsudan. Entweder sei das Kopfnicken in Tansania eine mildere Form. Oder es sei etwas Ähnliches, aber doch anderes, vermutet die Neurologin. Hier wie da müsse man drei Gruppen unterscheiden. Manche Kinder haben nur das Kopfnick-Syndrom, andere haben eine gewöhnliche Epilepsie und wieder andere haben beides. Winkler nennt es „Kopfnicken plus“.
In Uganda und im unsicheren Südsudan bleiben die meisten Forscher nur ein paar Tage, für eine kleine Studie. Der ugandische Neurologe Richard Idro ist eine Ausnahme. Er beobachtet seit Jahren Kopfnick-Kinder, um die Krankheit so genau wie nie zu beschreiben. Fünf Phasen der Erkrankung hat der Arzt ausgemacht. Es beginnt mit Schwindelattacken, dann folgt das Nicken und eventuell zusätzlich epileptische Anfälle. Mit der Zeit kommen Wachstumsstörungen, deformierte Knochen und Probleme mit dem Hören und Sprechen hinzu. Schließlich haben die Kinder eine schwere körperliche und geistige Behinderung. Bis sie schließlich sterben.
Fürsorge und Mittel gegen Epilepsie lindern die Symptome
Doch es gibt Hoffnung. Antiepileptika können die Symptome lindern, zeigte Idro. In einer seiner Studien bekamen fast 500 Kopfnick-Kinder Tabletten mit Valproinsäure und besseres Essen. Es gab für sie eine Rehabilitation mit Kraftübungen und Sprachtherapie. Nach einem Jahr galt ein Viertel der Kopfnick-Kinder als „anfallsfrei“. Das bedeutete zwar nicht, dass das Nicken völlig verschwunden ist. Aber es lag mindestens ein Monat zwischen zwei Episoden. Fast die Hälfte der Kinder konnte (wieder) zur Schule gehen. Und fast alle konnten sich selbst versorgen, berichteten Idro und seine Kollegen kürzlich im Fachblatt „BMJ Open“.
Ähnliches hat Suzanne Gazda beobachtet. Die amerikanische Neurologin hat die Organisation „Hope for HumaNS“ gegründet (Hoffnung für Menschen). Die letzten beiden Großbuchstaben stehen als Abkürzung für das Nodding Syndrome. Im August 2012 eröffnete ihr Team ein Camp in Odek, Uganda. „Wir dachten, dass es das erste Kinderhospiz von Uganda würde“, erinnert sich Gazda. Als sie nach anderthalb Jahren zurückkehrte, erwartete sie eine Überraschung. „Die Kinder sterben nicht. Im Gegenteil. Viele verwandeln sich in gesunde Körper und Kinder.“ Gazda spricht von einer „phänomenalen Besserung“, auch wenn die Kinder ab und an Anfälle bekommen oder wegen der Wachstumsstörungen oder Verbrennungen Probleme haben. Sie singen und tanzen, lernen und putzen sich alleine die Zähne.
Allerdings lindert die Fürsorge nur die Symptome, sie heilt nicht die Krankheit. Ein paar Wissenschaftler forschen weiter. Vielleicht sind es Gifte von Schimmelpilzen in den Nahrungsvorräten, die das Kopfnick-Syndrom verursachen? Oder es lässt sich in den Genen der kranken Kinder eine Erklärung finden?
Tabu würde gerne zur Schule gehen und müsste eigentlich auch seiner Mutter im Haushalt helfen. Stattdessen kümmert er sich im Krankenhaus weiter um seinen kranken Bruder. Ins Camp in Odek können sie nicht, das ist längst voll. Tabu geht kurz aus der Baracke, in dem Kidega und andere Kopfnick-Kinder liegen, und kommt mit einem Rollstuhl zurück. „Das mag er“, sagt er. Tabu hievt seinen Bruder in den Sitz und schiebt ihn nach draußen. Dort flitzen sie ein paar Minuten an der Hauswand hin und her. Bis Tabu schwitzt und Kidega lacht.
Franziska Badenschier
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