Ohne Deutschkenntnisse nicht in die Schule?: Expertin für Sprachförderung widerspricht CDU-Politiker Linnemann
Zu wenig Deutsch, um in die Schule zu gehen? Diese Forderung von Unionsfraktionsvize Linnemann sei „exkludierend“, sagt eine Potsdamer Expertin.
"Wir brauchen Schulen für unsere Kinder und nicht Kinder für unsere Schulen." Damit widerspricht die Potsdamer Professorin für Sprachförderung Sandra Niebuhr-Siebert dem Vorstoß des CDU-Politikers Carsten Linnemann, der gefordert hat, Kinder, die kein Deutsch sprechen, vom Grundschulbesuch zurückzustellen.
"Schulen müssen als Lernorte unserer Kinder verstanden werden und zwar aller Kinder, ob sie Deutsch sprechen oder nicht, ob sie laufen können oder nicht oder ob sie beim Essen noch schmatzen oder nicht", sagte Niebuhr-Siebert am Dienstag dem Tagesspiegel.
Jede Sprachbiografie ist anders
Unionsfraktionsvize Linnemann hatte im Interview mit der "Rheinischen Post" eine Vorschulpflicht für betroffene Kinder vorgeschlagen. Sprachstandserhebungen, die Defizite vor der Einschulung sichtbar machen, reichten nicht aus. Niebuhr-Siebert appelliert dagegen an die Politik, an Kita-Erzieherinnen und Lehrkräfte, auf die individuellen Entwicklungsbedingungen von mehrsprachig aufwachsenden Kindern einzugehen. "Es gibt viele Kinder, die in mehreren Sprachen einen sehr guten Sprachinput erhalten und zwei und mehr Sprachen deshalb sehr gut beherrschen." Aber nicht jedes Kind habe solche Entwicklungsbedingungen, jede Sprachbiografie sei anders.
"Dass Sprachkenntnisse nicht ausreichend sind, um in unseren Schulen etwas zu lernen, lasse ich nicht gelten", sagt Niebuhr-Siebert. Ein solches "exkludierendes Kriterium" dürfe nicht angesetzt werden, "wenn es um die Bildungswege unserer Kinder geht". Wie sprachliche Integration in der Kita und in der Schule auch bei unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder gelingen kann, hatte die Professorin für Sprachförderung im Dezember 2018 in einem Tagesspiegel-Interview erklärt. Aus Anlass der aktuellen Debatte veröffentlichen wir es noch einmal.
Interview: "Die Kinder nicht scheitern lassen"
Frau Niebuhr-Siebert, Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen mit familiärer Migrationsgeschichte ist in Deutschland seit Jahrzehnten Realität. Trotzdem wird immer wieder von politischer oder pädagogischer Seite kritisiert, dass Schüler und Schülerinnen zu Hause „nur“ ihre Muttersprache sprechen. Wie nehmen Sie die Diskussion wahr?
Als absurd. Denn in den Familien lernen die Kinder selbstverständlich ihre Muttersprachen. Sie sind die Herzenssprachen für die ganze Familie und nur in ihr kann die Familie zusammenleben. In den allermeisten Fällen können die Eltern die Sprache Deutsch gar nicht ausreichend bedienen. Es ist sogar kontraproduktiv, wenn Mütter oder Väter, die selbst am besten Arabisch oder Türkisch, Russisch, Englisch oder Französisch sprechen, mit ihren Kindern auf Deutsch kommunizieren. Wenn ein Vater keine Ahnung von Mathematik hat oder eine Mutter keine Geige spielt, überlassen sie das Üben doch auch anderen.
Problematisiert wird Mehrsprachigkeit vor allem, wenn es um Arabisch- oder Türkischsprechende geht.
Die Sicht auf die außereuropäischen Sprachen ist häufig kulturpessimistisch. Aber hier geht es ja erst einmal nur um Mehrsprachigkeit und nicht darum, wie nah oder fern uns Kulturen sind oder erscheinen. Gleichzeitig liegt der Gesellschaft zu Recht etwas daran, dass die Kinder Deutsch lernen, denn das ist für die meisten hierzulande die Standardsprache. Da die Kinder Deutsch aber nicht von ihren Eltern lernen können, müssen die Institutionen, wie Kita oder Schule diese Aufgabe übernehmen.
Wie können Kitas und Schulen mehrsprachigen Kindern gerecht werden?
Zu allererst müssen Kinder in ihrer Mehrsprachigkeit gesehen werden. Ein mehrsprachig auswachsendes Kind kann nicht mit einem einsprachigen verglichen werden, das in sämtlichen Situationen Deutsch spricht. Ein mehrsprachiges Kind spricht in seinem Alltag unterschiedliche Sprachen und mischt diese je nach Situation und Kommunikationspartner. Wenn pädagogische Fachkräfte oder Lehrkräfte in der Sprache vor allem eine Möglichkeit sehen könnten, in der wir uns als soziale Wesen konstituieren, ist schon viel gewonnen. Jedem Kind, egal mit welchen Sprachkenntnissen, sollten wir zeigen: Schön, dass du da bist. Ich bin neugierig auf deine Sprache und auf dich. Mit mir kannst du Deutsch sprechen und wenn du Lust hast, mit mir zu sprechen, dann bringe ich dir diese Sprache gern bei. Ich achte nicht auf Fehler, sondern auf das, was Du mir sagen möchtest.
Und doch geht vieles schief beim Spracherwerb in den Bildungseinrichtungen. Kita-Erzieherinnen und Lehrkräfte sind überfordert von Gruppen, die zu über 90 Prozent kein Deutsch von zu Hause mitbringen.
Dahinter steht oftmals der Druck, dass die Kinder unbedingt Deutsch lernen müssen, um in der Schule erfolgreich zu sein. Dafür halten wir die Barrieren der Deutschkompetenz gerade in den Schulen sehr hoch. Wenn ein Lehrer davon ausgeht, dass nur ein Schüler, der gut Deutsch spricht, etwas lernen kann, bedeutet das, dass viele Kinder auf der Strecke bleiben. Sagen sollten wir: Du bist mehrsprachig und ich gehe in meiner Didaktik darauf ein, ich bewerte dich nicht danach, wie perfekt du Deutsch sprichst. Dann kann sich das Kind gemeinsam mit der Lehrkraft auf den Weg machen, Dinge zu verstehen. Es lernt in einem angstfreien Raum. Die Barrieren, über die Kinder stolpern, errichtet die Mehrheitsgesellschaft selbst. Sie lässt die Kinder scheitern.
Lehrkräfte haben aber immer wieder den Eindruck, sie müssten vieles ausgleichen, was die Elternhäuser versäumt haben.
Wenn in unseren Einrichtungen der einsprachige Habitus hochgehalten wird, dann wird Kindern indirekt gesagt, Deutsch ist besser als das, was du sprichst und möglicherweise als die Kultur oder kulturellen Werte, die du mitbringst. Hinzu kommt, dass wir Sprachen in einen wirtschaftlichen Raum setzen, sie als Kapital sehen, indem wir beispielsweise denken, Englisch sei besonders wichtig für den späteren Erfolg, Türkisch oder Tamil hingegen seien weniger wichtig. Für ein Kind fühlt sich das so an: Ich bin falsch, das, was ich kann, ist nicht gut genug. Genau diese Form der institutionellen Diskriminierung passiert, wenn wir Kindern ihre Sprache in unseren Einrichtungen nicht lassen. Mit jedem „Deine Sprache wollen wir nicht!“ beschädigen wir die Kinder in ihrer Identität.
Welche Folgen hat das?
Wenn Kinder immer wieder aufgrund ihrer Sprache diskriminiert und beschädigt werden, kann es passieren, dass sie Schulen als Lernraum meiden, weil sie sich nicht wohl fühlen. Sie hören auf zu lernen und an sich zu glauben. Um lernen zu können, benötigen Kinder positive Lernerfahrungen, gerade wenn sie in einer Sprache lernen müssen, die nicht ihre Muttersprache ist. Viele Jugendliche sprechen Deutsch in der Alltagskommunikation weitgehend unauffällig, beherrschen aber die Bildungssprache nicht ausreichend, um weiterführende Bildungswege gehen zu können.
Nun ist es aber gerade die Bildungssprache, die sie brauchen, um Abitur machen zu können, eine anspruchsvolle duale Ausbildung zu beginnen oder zu studieren.
Bildungssprache baut auf Schriftsprache auf und die können Kinder erfahren, wenn sie literarische Erfahrungen machen – auf Deutsch und in ihrer Muttersprache. Es ist wichtig, dass mehrsprachige Bilderbücher und Geschichten in Kitas und Grundschulen vorhanden sind. Das gibt mehrsprachigen Kindern Sicherheit. Diese Bücher können von Eltern oder mehrsprachigen Fachkräften in verschiedenen Sprachen vorgelesen werden. Einen besonderen Schatz bergen Märchen in sich, weil wir in fast allen Kulturen ähnliche Märchenstoffe vorfinden. So können Kinder das wertvolle Gefühl von Gemeinsamkeit erfahren.
In manchen Familien, die schon seit Generationen in Deutschland leben, sind diese Kulturen abgerissen, da werden keine literarischen Geschichten erzählt. Woran sollen Schulen und Kitas da anknüpfen?
Beim Vorlesen und Geschichten erzählen geht es nicht in erster Linie darum, Kinder schlau für die Schule zu machen. Es geht um die Situation, als Mutter oder Vater mit ein oder zwei Kindern beieinander zu sitzen, und in ein Zusammensein einzutauchen. Egal was erzählt oder vorgelesen wird, es entstehen Schlüsselsituationen von familiärer Geborgenheit. Also ein Grundnahrungsmittel für jegliches Lernen. So entsteht auch die Liebe zur Sprache, die Kinder brauchen, um jenseits der deutschen Verkehrssprache und der richtigen Reihenfolge von Subjekt, Prädikat und Objekt beim Spracherwerb weiterführende Kompetenzen zu erwerben.
Was tun, wenn am Ende der Grundschulzeit noch immer die sprachlichen Grundlagen fehlen, etwa um einen Aufsatz über eine U-Bahnfahrt durch Berlin zu schreiben?
Eine Pädagogin muss ihre Schülerinnen und Schüler nicht am Lernen scheitern lassen, wenn nicht ausreichend deutschsprachige Kompetenz vorhanden ist. Kinder und Jugendliche benötigen lernmotivierende Kontexte. Wenn das Wortfeld zur Beschreibung öffentlicher Verkehrsmittel fehlt, erwarte ich von einer guten Pädagogin, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen zu einer U-Bahn zu fahren, vor Ort über die Erfahrungen zu sprechen. Wenn Erfahrungswelten aktiv und unmittelbar erlebt werden, fällt es Kindern leichter, sie etwa auf das Konzept des öffentlichen Nahverkehrs und die entsprechende Lexik zu übertragen.
Eine deutsch sprechende Lehrkraft, 25 Kinder oder Jugendliche, deren gemeinsame Sprache Arabisch ist – kann so der Dialog gelingen?
Wenn 90 Prozent der Kinder einer Klasse untereinander Arabisch sprechen, dann tun sie das, weil es ihre Muttersprache ist. Eine Lehrkraft muss sich dann etwas einfallen lassen, damit Deutsch für die Kinder attraktiv wird. Sie könnte Situationen schaffen oder an Orte gehen, an denen Kinder merken, dass es Spaß macht, Deutsch zu lernen. Und natürlich kann sie an die Gruppe appellieren, Deutsch als gemeinsame Sprache für alle zu benutzen – für sie und für diejenigen Kinder, die kein Arabisch sprechen und verstehen.
Benotet werden die Kinder aber in der Sprache Deutsch. Darauf beruht nun einmal unser Bildungssystem.
Für welche Kompetenz bekommen die Kinder wirklich eine Note? Wenn sie in einem Aufsatz ihre Gedanken niederschreiben und eine Lehrkraft sie durchfallen lässt, weil zu viele Schreibfehler gemacht wurden, sagt die Note nichts über die Gedanken des Kindes. Es wird die Verpackung, nicht der Inhalt benotet. Die Normierung der Orthographie ist wie ein Korsett, dass wir uns gesellschaftlich selber anlegen. Und Noten gleichen in vielen Fällen eher einer Disziplinierungsmaßnahme als einer angemessenen Bewertung. Wir lernen aber aus uns selbst heraus am allerbesten und am liebsten. Stellen wir den Kindern und Jugendlichen doch echte Fragen, trauen wir uns doch, echte Dialoge zu führen, Kindern etwas zuzutrauen, anstatt sie ständig zu bewerten.
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