Schule im Wandel: Was schwachen Schülern wirklich hilft
Vor der neuen Pisa-Studie: Die Deutsch-Didaktikerin Beate Lütke erklärt, wie Lehrkräfte Schüler mit sprachlichen Schwächen am besten fördern können.
Frau Lütke, die deutschen Schüler haben sich bei der letzten Pisastudie von 2012 zwar verbessert, aber beim Lesen gibt es immer noch eine zu große Risikogruppe von Schülern, die nur ein unteres Kompetenzniveau erreichen. Rechnen Sie für Pisa 2015 mit einem erneuten Sprung nach vorn?
Es ist zwar viel im Bereich der schulischen Leseförderung angelaufen und parallel wird dazu geforscht. Was aber teilweise noch fehlt, sind gezielte Förderkonzepte: Was müssen wir etwa Kindern aus sozial benachteiligten Familien anbieten, die keine Lesevorbilder haben? Welche sprachlichen Hilfen brauchen Kinder mit geringen Deutschkenntnissen, um im Fachunterricht zurechtzukommen? Dass es weiterhin eine zu große Gruppe gibt, die Probleme beim Verstehen einfacher Texte zeigt, ist also nicht verwunderlich. Ich gehe aber gleichwohl von einem positiven Trend bei den aktuellen Pisa-Leseleistungen aus – allein deshalb, weil es seit über einem Jahrzehnt große Förderanstrengungen gibt, wenn sie auch noch zu unspezifisch sind.
Wie sollte eine optimale Sprach- und Leseförderung für Kinder und Jugendliche aus Familien aussehen, in denen Deutsch auf einem niedrigen Niveau gesprochen und nicht zum Vergnügen gelesen wird?
Schon kleine Kinder müssen mit den Mustern von Schriftsprache in Berührung kommen. Das geht gut über Hör- und Bilderbücher. Kitaerzieher sollten nicht nur vorlesen, sondern mit den Kindern über Bilder und Texte sprechen. In der Schule muss systematisch an der Leseflüssigkeit gearbeitet werden. Geübt wird sie etwa über halblautes, gemurmeltes Lesen oder durch Lesen im Tandem. Die besseren Leser ziehen dabei die schwächeren in einen Lesefluss hinein. Nur wer flüssig, also automatisiert lesen kann, liest verstehend. Das sollte drei Mal in der Woche für 20 Minuten über mehrere Monate trainiert werden.
Was hat die Überforderung vieler Lehrkräfte mit zunehmend heterogenen Klassen konkret für Auswirkungen auf ihrem Umgang mit den Schülern?
Ein großer Teil der heute aktiven Lehrkräfte wurde ausgebildet, als Deutsch als Zweitsprache noch kein Thema in der Lehrkräftesausbildung aller Fächer war. Viele unterrichten aus einer einsprachigen, monokulturellen Perspektive. Wer sprachliche Schwierigkeiten mit fachlichen Lernproblemen gleichsetzt, kann die eigentlichen Stärken seiner Schüler übersehen. So wurde ja gerade wieder für Berlin nachgewiesen, dass mehrsprachig Aufwachsende in den Fremdsprachen keine Nachteile, sondern oft Vorteile haben. Andererseits dürfen wir nicht zu viel von den Lehrkräften verlangen: Noch ist kaum untersucht, welche sprachbildenden Unterrichtskonzepte sich positiv auf heterogene Gruppen auswirken.
Welche Ansätze für gelingenden Unterricht gibt es bereits?
Studien aus den USA legen nahe, dass ein sehr strukturierter Unterricht helfen kann: Die Lehrkräfte haben für jede Stunde sprachliche und fachliche Zielvorstellungen und integrieren Sprachförderung in das Fachthema. Wichtig ist auch, Sprachförderung als gesamtschulisches Ziel zu verstehen. Schulen müssen sich dafür Hilfe holen, sich untereinander und mit Experten von außerhalb vernetzen.
Ihre Professur für Deutsch als Zweitsprache ist die erste ihrer Art in Berlin. Und doch ist die Bezeichnung schon wieder veraltet. Denn statt um DaZ soll es heute um die umfassendere Sprachbildung gehen. Was steht dahinter?
Die didaktische Beschäftigung mit Deutsch als Zweitsprache hat sich aus dem Förderbedarf von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund entwickelt, die zu Hause wenig oder kein Deutsch sprechen. Statistisch gesehen haben diese Familien häufiger einen niedrigen Sozialstatus, der sich negativ auf die Schulleistungen auswirkt. Meine Professur ist aber auf alle Schüler ausgerichtet, die sprachlich gebildet werden sollen. Dazu gehören genauso Kinder und Jugendliche mit deutscher Erstsprache und Sprachförderbedarf.
Umfassender ist auch der Fächerkanon, auf den DaZ und Sprachbildung heute zielen: Lehrkräfte müssen in allen Fächern auf unterschiedliche Sprachniveaus eingehen. Wie offen sind die Fachdidaktiken dafür?
Unterschiedlich offen, obwohl mittlerweile alle wissen müssten, dass sich sprachliche Kompetenzen in allen Unterrichtsfächern auswirken. Trotzdem ist das ein junges Gebiet, auf dem noch viel geforscht werden muss. Die Mathematikdidaktik setzt sich bereits intensiv mit der Rolle und Funktion von Sprache für das fachliche Lernen auseinander. Dabei geht es nicht mehr nur darum, warum Schüler Textaufgaben nicht verstehen. Es erschwert allgemein das mathematische Lernen, wenn Schüler Rechenwege nicht erklären und begründen können.
Wie interessiert sind die Lehramtsstudierenden an dem DaZ-Modul, das seit 2007/08 verpflichtend ist und vor einem Jahr ausgebaut wurde?
Jedenfalls sehen sie die Notwendigkeit! Sie wissen, dass es ungeachtet der Schulart keine homogenen Klassen mehr gibt. Im neuen Berliner Praxissemester im Lehramtsmaster erleben sie die ganze Bandbreite – und kommen mit vielen Fragen zur Unterrichtsplanung an die Uni. Wenn ich im Geschichtsunterricht das Mittelalter behandle: Wie gehe ich damit um, dass viele Schüler kein sprachliches und inhaltliches Vorwissen zum Mittelalter mitbringen? Wie kann ich sie sprachbezogen unterstützen, damit sie sich das Thema erarbeiten können?
Wie sieht diese Unterstützung idealerweise aus?
Sprachliche Muster, die Schülerinnen und Schüler kennen müssen, um dem Unterricht zu folgen, sind viel komplexer als die Alltagssprache. Bei dieser Bildungssprache geht es um Wortschatz und Grammatik, um bestimmte Textsorten, darum, zu beschreiben, zu berichten und zu begründen. In Mathematik wird anders argumentiert als in Deutsch. Ein vielversprechender Ansatz ist das Scaffolding: Dabei bauen die Lehrkräfte eine Art Gerüst aus sprachlichen Hilfestellungen, das Stück für Stück abgebaut wird, je mehr sprachliche Kompetenzen die Schüler haben. Schüler sagen etwa in der ersten Beschreibung eines Experiments mit kochendem Wasser: „Da steigt so Rauch auf.“ Die Lehrkraft greift das auf und sagt: „Ja, das Wasser verdampft.“ Dann gilt es, diese Formulierungen zu wiederholen und in der Schriftsprache zu festigen.
Gleichzeitig wird gefordert, dass Lehrkräfte basale Kenntnisse über die grammatischen Eigenheiten der Familiensprachen ihrer Schüler brauchen, um ihnen besser Deutsch beibringen zu können. Müssen und können Lehrer das wirklich leisten?
Natürlich kann nicht jede Lehrkraft die über 100 Herkunftssprachen kennen, die die Berliner Schüler mitbringen. Aber es ist wichtig zu wissen, dass es anders gebaute Sprachen und Schriftsysteme gibt, die zu Schwierigkeiten beim Deutscherwerb führen können. Am wichtigsten ist aber, sprachsensibel zu sein. Ein Klassiker ist, dass Kinder Verbformen übertragen: Er spielte, er kommte. Das sollte man nicht gleich als Grammatikfehler anstreichen, sondern als Merkmal des Spracherwerbs erkennen. Wer weiß, dass Deutsch als Zweitsprache anders erworben wird, beurteilt sprachliche Leistungen einfach angemessener.
Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin will die Mehrsprachigkeit stärken. Ein fertiges Modell dafür gibt es noch nicht. Was würden Sie raten?
Erst einmal finde ich es großartig, dass die Politik Mehrsprachigkeit jetzt positiv besetzt. Sie wurde zu lange als Defizit gesehen. Wir brauchen jetzt dringend Fortbildungen, um die Ideen, wie Mehrsprachigkeit im Unterricht sinnvoll genutzt werden kann, in die Praxis zu bringen. Der Bedarf ist riesig, Angebote fehlen bislang.
Was sind das für Ideen?
Die sprachlichen Ressourcen der Kinder sollten eingebunden werden: Etwa, indem sie sich in der Gruppenarbeit über ein neues Thema in allen ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen austauschen dürfen, um ihr Vorwissen zu aktivieren. Zum Einstieg in das Thema „Mittelalter“ können sie also auch in ihren Familiensprachen über Filme oder Fantasy-Spiele sprechen. Dann wird das Thema in der Unterrichtssprache Deutsch weitergeführt, Texte dazu gelesen und geschrieben.
Das Gespräch mit der Deutsch-Didaktikerin Beate Lütke führte Amory Burchard. Lütke (47) ist seit November Professorin für Didaktik der deutschen Sprache/Deutsch als Zweitsprache an der Humboldt-Universität und leitet das Projekt "Sprachen - Bilden - Chancen".