zum Hauptinhalt
Geduldsprobe. Es dauert in der Regel zwanzig Jahre, bis eine von tausend Ideen im Labor zur Therapie wird.
© Foto CureVac

Biomedizin-Boom in Berlin: „Eine Berliner Luftblase“

Soll sich Berlin das Biotech-Mekka Boston zum Vorbild nehmen, um die Stadt zum wichtigsten Biomedizinstandort Europas zu entwickeln? Ein kritischer Gastbeitrag.

Berlin könne im Bereich der Lebenswissenschaften Boston „mindestens ebenbürtig“ werden – eine steile These, die vergangene Woche im Tagesspiegel im Essay von Nikolaus Rajewsky, dem Direktor des Berlin Institute of Medical Systems Biology, geäußert wurde.

Natürlich ist es wünschenswert, Boston nachzueifern, keine Frage. Und doch hat der Satz leider eher den Charakter einer Berliner Luftblase im Stil der Werbung der BVG.

Nicht falsch verstehen: ich bin ein großer Verfechter der deutschen Biotechnologie seit über 20 Jahren. Aber gerade aus dieser Erfahrung heraus werde ich jetzt Klartext sprechen: Solange die Stellschrauben im deutschen Innovationssystem sich nicht grundlegend (mit grundlegend meine ich wirklich grundlegend) verändern, wird sich der Traum von einem „BOSlin“ doch sehr schnell ausgeträumt haben.

Hohe Investitionen in die Biotechnologie

Bevor man sich mit Boston vergleicht, sollte man sich zunächst einmal bewusst machen, wie es Boston überhaupt geschafft hat, zum Mekka der Biotechnologie zu werden. Schon 2008 kündigte der damalige Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, auf der weltweit größten Biotechnologie Messe, der Bio Convention in San Diego, einen zehnjährigen Investmentplan in Höhe von einer Milliarde US-Dollar zur Unterstützung der Biotechnologie in dem US-Bundesstaat an.

Deutsche Politiker waren damals auf dieser Konferenz nicht sichtbar. Und in diesen Betrag sind die Förderungen, die direkt von Bostoner Institutionen kommen, noch gar nicht enthalten.

Biomedizin in Berlin.
Biomedizin in Berlin.
© Tsp/Julia Schneider/Manuel Kostrzynski

Ebenfalls nicht zu unterschätzende Faktoren sind die Elite-Institutionen in Boston und Cambridge wie das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Harvard University, die schon seit vielen Jahren ebenfalls Milliardenbeträge in angewandte Forschung investieren.

Ingmar Hoerr ist Biologe sowie Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender des Tübinger Biotech-Unternehmens CureVac, das Therapien und Impfstoffe auf Basis von Boten-RNA entwickelt. Er ist im Beirat des Europäischen Innovationsrats und Juror im Gründerwettbewerb Weconomy.
Ingmar Hoerr ist Biologe sowie Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender des Tübinger Biotech-Unternehmens CureVac, das Therapien und Impfstoffe auf Basis von Boten-RNA entwickelt. Er ist im Beirat des Europäischen Innovationsrats und Juror im Gründerwettbewerb Weconomy.
© CureVac

Diese Institutionen haben ein ganz anderes Verständnis für akademische Forschung als ihre deutschen universitären Pendants. Grundlagenforschung ist wichtig, aber es gibt dort immer kluge Köpfe, die mit ihren Ergebnissen aus der Grundlagenforschung sofort einen Weg in die Anwendung suchen. Patente und Lizenzeinnahmen spielen eine große Rolle für die Reputation und die Finanzierung dieser Institutionen. Universitätsnahe Startups und Professoren, die eigenes Geld in Gründungen investieren, sind in den USA die Regel.

Entmutigend - aber die Dinge könnten sich zum Besseren wenden

Dieses vibrierende Umfeld hat die weltweit relevantesten und größten Risikokapitalgeber, große Biotechnologie- und Pharma-Unternehmen angezogen. In diesem Ökosystem kommen die besten Köpfe der Welt zusammen, um ihren Traum von der Wissenschaft und den wissenschaftlichen Anwendungen zu verwirklichen. Da kann man jetzt einmal innehalten und fragen: quo vadis, Berlin?

Trotz dieser für Berlin offensichtlich entmutigenden Situation, habe ich die Hoffnung, dass sich die Dinge für die Biotechnologie in Deutschland zum Besseren wenden. Aber es ist komplett kontraproduktiv, sich im gegenwärtigen Zustand mit Boston vergleichen zu wollen.

Mehr zum Thema: Wie kann Berlin zum Boston Europas werden? Ein Aufruf, Berlin zur „Zellklinik“ nach dem Vorbild Virchows zu entwickeln.

Natürlich hat unsere, die Biotechnologie-Branche mehr zu bieten als Batteriewerke. Und ja, es stimmt: Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Aber es hat über Jahrzehnte der politische Wille gefehlt, auf dieser Exzellenz weiter aufzubauen. In deutscher Mentalität wurden Risiken immer über Chancen gestellt. Es war der erklärte politische Wille, dass alle erdenklichen Behörden gemeinsam die Ärmel hochkrempeln, um eine regelrechte Regulierungswut an den Biotechnologieunternehmen auszutoben.

Hoch innovative biotechnologische Produktionsprozesse, wie zum Beispiel die Insulinproduktion, sind aus Deutschland schon vor Jahrzehnten abgewandert. Ein Blockbuster Medikament wie etwa Humira (das für seinen amerikanischen Käufer einen jährlichen Umsatz um die 20 Milliarden US-Dollar erwirtschaftete), wurde von einem deutschen Pharma-Unternehmen zu einem Spottpreis verhökert. Diese Nachwirkungen spüren wir heute noch. Solange kein grundlegendes Umdenken stattfindet, sollten wir den Namen Boston nicht in den Mund nehmen.

Die Coronavirus-Epidemie zeigt, wie wichtig biomedizinische Innovationskraft ist

Die Covid-19-Epidemie zeigt uns derzeit, wie sehr wir auf biotechnologische Innovationen angewiesen sind. Das ist nur ein Beispiel, wie dringend notwendig diese Innovationen sind. Nicht nur zur Bekämpfung von Epidemien, sondern auch für unheilbare Krankheiten wie Krebs, für den Gesunderhalt einer immer älter werdenden Bevölkerung, für die Ernährung der Welt und gegen den Klimawandel durch CO2-Fixierung und Nutzung neuartiger biologischer Energiequellen. Das sind die Zukunftsthemen, für die wir in Europa eine Lösung bieten müssen.

Erste Initiativen gehen in die richtige Richtung, wie zum Beispiel der European Innovation Council (EIC) oder die deutsche Agentur für Sprunginnovationen (SprinD), die versuchen, eine höhere finanzielle Förderung in die Hochtechnologie zu pumpen.

Noch weitaus wichtiger ist, dass sie auch einen Paradigmen-Wechsel einzuleiten versuchen. Etwa indem zum ersten Mal das Wort „Scheitern“ offensiv in den Mund genommen wird: Denn Scheitern gehört zum nachhaltigen Erfolg dazu. Ohne ein erstmaliges Scheitern ist eine disruptive Technologie, eine „Sprunginnovation“, nicht bereit für den Markt. Die Bereitschaft zur Übernahme eines gewissen Risikos muss in der breiten Bevölkerung ankommen.

Stellen wir uns einmal vor, die deutschen Versicherungen und Pensionsfonds würden nur ein Prozent ihres Vermögens in Biotechnologie investieren. Dann stünden jährlich fünf Milliarden Euro für unsere Innovationskraft zur Verfügung. Und das Risiko, einen von einhundert Euro der persönlichen Rentenvorsorge in Biotechnologie zu investieren, sollte auch für die Privathaushalte überschaubar sein. Wenn das passiert, wäre ich tatsächlich bereit, in dem Begriff „BOSlin“ mehr als nur heiße Luft zu sehen.

Ingmar Hoerr

Zur Startseite