Flickenteppich der Schulclouds: Digitale Baustellen
Eine Studie der Telekom-Stiftungen und aktuelle Empfehlungen an die Kultusminister zeigen, wo Deutschland bei digitalen Lernplattformen steht.
Bayern, Bremen, Hamburg und Sachsen seien mit ihren Schulclouds „gut unterwegs“, Berlin dagegen gehöre zu den Bundesländern beziehungsweise Großstädten, in denen zwei oder mehrere digitale Lernplattformen nebeneinander existieren. Das teilt die Deutsche Telekom Stiftung zu einer von ihr beauftragten Studie über Lernmanagementsysteme (LMS) der 16 Länder mit, die am Donnerstag vorgestellt wurde.
Der vom Institut für Informationsmanagement an der Uni Bremen (ifib) erstellte Ländervergleich zeichnet das Bild einer „heterogenen Landschaft“ von Plattformen und ihren Betriebsmodellen (den Link zur vollständigen Studie finden Sie hier).
„Wir sehen Länder, die ihren Schulen früh Angebote gemacht und damit Orientierung geboten haben. Andere haben später angefangen und sind jetzt damit konfrontiert, dass es auf kommunaler Ebene bereits eine Vielzahl an Lösungen gibt“, erklärt Studienleiter Andreas Breiter.
Die Vielzahl der Lösungen, die kommunale Selbstbestimmung der Schulträger sowie die Schulautonomie machten eine bundesweit einheitliche Schulcloud-Lösung für alle Schulen sehr unwahrscheinlich, lautet die zentrale Botschaft der Studie.
Eine solche Lösung sollte die HPI Schul-Cloud bieten, die das Potsdamer Hasso-Plattner-Institut im Auftrag der Bundesregierung von 2016 bis Sommer 2021 programmiert und betreut hat. Als eine Art Leitstern des milliardenschweren Digitalpakts für die Schulen geplant, konnte sich die HPI-Lösung jedoch nicht bundesweit durchsetzen.
Die HPI-Cloud wird von nur drei Ländern weitergeführt
Nach einer Pilotphase mit dem Schulnetzwerk MINT-EC sollen zwar mittlerweile 4000 Schulen mit 1,4 Millionen Nutzer:innen angeschlossen sein. Aber nur drei Länder – Brandenburg, Niedersachsen und Thüringen – setzen die Plattform flächendeckend ein. Nach dem Ende der Bundesförderung im Juli dieses Jahres wird das System in einem Verbund der drei Länder betrieben.
Auch für Thomas de Maizière, den Vorsitzenden der Stiftung steht fest: „Die Studie zeigt klar, dass die immer wieder geforderte bundeseinheitliche Schulcloud eine Utopie ist.“ Angesichts der Vielfalt der Lernplattformen gelte es vielmehr, diese durch gemeinsame Standards und Schnittstellen miteinander zu verbinden.
„Wenn es so kompliziert ist“, sagte de Maizière in einer Online-Pressekonferenz am Donnerstag, „brauchen die Schulen Hilfe.“ Jeder Schule müsse technischer Support zur Verfügung gestellt werden, wofür im Digitalpakt auch 500 Millionen Euro vorgesehen, bislang aber kaum abgerufen sind. Gefragt sei auch pädagogischer Support von Bildungstechnologen, die konkrete Lernszenarien entwickeln können.
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Nach einer ebenfalls am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme gegenüber der Kultusministerkonferenz (KMK) durch führende Bildungsforscher:innen ist eine bundesweite Lösung zumindest als Dachkonstruktion keineswegs vom Tisch. Die Ständige wissenschaftliche Kommission (Stäwiko) der KMK fordert die „Entwicklung einer länderübergreifenden Struktur zur Verknüpfung von Plattformen, die die entwickelten digitalen Technologien und Werkzeuge als Open Educational Ressources bereitstellen“.
Konkurrenz der verbindenden Systeme
Mit Mundo, der „Offenen Bildungsmediathek der Länder“, wird eine solche Dachkonstruktion allerdings schon aufgebaut, zumindest für digitale Lerninhalte. Dort finden sich derzeit knapp 40.000 Medien für den Unterricht. Mundo konkurriert indes mit Wir lernen online, einer weiteren - in diesem Fall vom Bund geförderten - Suchmaschine und Plattform für freie Bildungsmaterialien.
Ein anderer „Baustein einer föderalen, digitalen Infrastruktur“ ist Vidis, der im Rahmen des Digitalpakts geförderte „Vermittlungsdienst für das digitale Identitätsmanagement in Schulen“. Vidis soll zukünftig ein datensicheres Einloggen in alle Online-Dienste für die Schulen anbieten.
Auch hier gilt: Viele Bausteine bilden eine unübersichtliche Baustelle für die Digitalisierung von Schule und Unterricht, auf der noch viel zu tun ist. Zumindest aber sind sich die private Bildungsstiftung der Telekom und die Berater:innen der KMK hinsichtlich der notwendigen Schnittstellen zwischen den Systemen einig.
Was die Stäwiko unter dem Vorsitz der Erziehungswissenschaftlerin Felicitas Thiel (FU Berlin) und Olaf Köller vom Leibniz–Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (Uni Kiel) an anderer Stelle empfiehlt, hebt sich von den Aussagen der Studie für die Telekom-Stiftung jedoch durchaus ab.
Stäwiko-Kritik Kritik an kommerziellen Angeboten
Kommerziellen Angeboten „auf dem unübersichtlichen Markt für digitale Lernsoftware“ etwa spricht die Stäwiko die Qualität ab: „Häufig sind diese Tools auf eine Unterstützung der Prüfungsvorbereitung ausgerichtet und vernachlässigen wichtige Funktionen der Lehr-Lern-Prozesse.“
Eine Einzelbewertung der Plattform-Lösungen in den Bundesländern nehmen aber weder die Stäwiko noch die Telekom-Stiftung vor. „Im Hinblick auf die Eignung oder Nicht-Eignung eines spezifischen Produktes“ sei dies wegen der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen nicht möglich und nicht sinnvoll, stellen Breiter und sein Team fest.
Doch ein Vergleich zwischen Bayern und Berlin lässt dann doch Rückschlüsse auf unterschiedliche Entwicklungsstände zu. So umfasst die „Bayern Cloud Schule“ laut ifib-Studie das Videokonferenz-Tool Visavid, das Schulportal und die Lernplattform Mebis sowie den integrierten Dienst teachSHARE, der Lehrkräften einen schulübergreifenden Austausch von Unterrichtsmaterialien und Konzepten in Bayern ermöglicht. Zu Mebis gehören auch eine browserbasierte Tafelsoftware, eine Mediathek, ein Prüfungsarchiv sowie ein Infoportal.
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In der Mediathek können „rechtlich abgesicherte und pädagogisch didaktisch geprüfte Video- und Audioinhalte“ abgerufen werden. Die Erweiterung „mebis Tube“ soll es Lehrkräften zudem ermöglichen, selbst erstellte Erklärvideos unter einer Creative-Commons-Lizenz zu veröffentlichen. Und im Prüfungsarchiv stehen zentrale bayrische Abschlussprüfungen, Jahrgangsstufen- und Vergleichsarbeiten sowie Grundwissenstests bereit.
Viele Quellen für Online-Tools und -Material in Berlin
Das alles klingt nach einem deutlich umfassenderen und konzentrierteren Angebot, als es Berlin mit zwei Lernplattformen bereitstellen kann. Der seit einigen Jahren bestehende Lernraum Berlin wird seit Anfang 2021 mit Unterstützung der Schulverwaltung durch den kommerziellen Anbieter itslearning ergänzt. Für beide Systeme stehen als integrierte Dienste die Open Source Videokonferenzlösung BigBlueButton und Lerntools als Landeslizenz zur Verfügung.
Zu den weiteren Angeboten des Landes gehören ein extern gehosteter Datenspeicher und webbasierte Dienste zur Stunden- und Vertretungsplanung sowie für ein digitales Klassenbuch. Auf Online-Medien können Schulen über den Bildungsserver Berlin-Brandenburg, das Landesmedienzentrum und das Medienforum zugreifen.
Eine OER-Plattform sei noch im Aufbau. Die Plattformen für Online-Medien sollten „zukünftig ebenfalls über das sich in Entwicklung befindende Schulportal zu erreichen“ sein. Noch eine Menge digitaler Baustellen also auch für Berlin.
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In der abschließenden Gesamtbewertung durch den ifib-Studienleiter und sein Team wird die „Bedeutung von standardisierten Schnittstellen, Datenformaten und Protokollen“ betont. Erst sie würden „eine sichere Datenhaltung, einen sicheren Datentransfer und damit eine alltagstaugliche, verlässliche, verteilte IT-Systemlandschaft ohne unnötige Medienbrüche ermöglichen“.
Präsenzunterricht – und die Digitalisierung stagniert?
Zum Fazit der Studie gehört auch, dass Deutschland im internationalen Vergleich bei der Nutzung von Lernmanagementsystemen noch zurückliege. Länder wie Großbritannien, Dänemark oder die Niederlande hätten schon seit mehr als einer Dekade den Schulen LMS zur Verfügung gestellt oder „über den Markt angeboten“.
Damit sind die digitalen Tools im Unterricht dort auch wesentlich tiefer verankert als in Deutschland. Und ohne die coronabedingten Schulschließungen drohen die im Fernunterricht erzielten Fortschritte gerade wieder in Vergessenheit zu geraten. In der aktuellen Präsenzphase geht es vielmehr darum, Kindern und Jugendlichen endlich wieder einen geordneten Unterricht zu bieten.
Die Ständige wissenschaftliche Kommission der KMK merkt kritisch an, dass Deutschland dem Schulbarometer zufolge bei den Schulschließungen 2020 nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler über Online-Lernplattformen erreichte, während es in Österreich und der Schweiz zwei Drittel waren.
KMK-Berater:innen: Digitale Medien breit verankern, auch in Tests
Das soll sich ändern: Zu einer „robusten IT-Infrastruktur“, die jede Schule in Deutschland brauche, gehört laut Stäwiko „der dauerhafte Betrieb von Lernmanagementsystemen und Lernplattformen“. Voraussetzung dafür sind Anschlüsse ans schnelle Internet, leistungsfähige Schulserver samt Herstellersupport, verlässliche Unterrichtsstrukturen sowie ausreichend flexibel einsetzbare Endgeräte und die dazugehörigen „mehrjährigen Wartungsverträge“, schreibt die Stäwiko in ihrer „Stellungnahme zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie Bildung in der digitalen Welt“.
Grundsätzlich gut sind laut Kommission kostenfrei zugängliche digitale Materialien, also Open Education Ressources, die einen Mehrwert gegenüber analogen Unterrichtselementen haben. Dafür müssten sie auf lernpsychologischen und fachdidaktischen Theorien beruhen – und auf technologischen Innovationen aus der KI, beispielsweise durch eine „automatische Bewertung sprachproduktiver Leistungen“.
Die Bildungsexpert:innen fordern deshalb von der KMK einheitliche Standards für die Zulassung schulischer Medien und entsprechende Zertifizierungsverfahren, die die 16 Länder gemeinsam entwickeln.
Insgesamt sollen der Stäwiko-Stellungnahme zufolge digitale Medien viel stärker als bisher in den Unterricht, aber auch in Klassenarbeiten und Schulleistungsstudien integriert werden. Einsetzen solle man die Tools beispielsweise, um die „kognitive Aktivierung und Übung von Fertigkeiten“ zu verbessern – etwa durch interaktive Visualisierungen und digital unterstützte kollaborative Arbeitsformen. Auf dem Weg dorthin müsse die KMK „den Stellenwert des Fachs Informatik in den Stundentafeln der Länder“ klären.
Auch diese Forderungen zeigen, wie sehr Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen und des Unterrichts noch am Anfang steht. Digitalisierungsexperte Andreas Breiter vom ifib ist indes vorsichtig optimistisch: Alle Bundesländer hätten die Digitalisierung des Unterrichts auf dem Programm.
Digitale Instrumente und Medien würden auch „nach Corona“ integraler Bestandteil bleiben – „in der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, beim Austausch von Materialien und beim Zugriff auf aktuelle Inhalte“.