Aufruf für eine neue Bildungspolitik: Macht endlich digitale Schule ohne Scheuklappen!
Die Bildungspolitik muss das in der Pandemie verspielte Vertrauen zurückgewinnen – mit Pädagogik, Digitalisierung und Qualitätsmaßstäben. Ein Gastbeitrag.
Berlins ehemaliger Schulsenator wirft in seinem Gastbeitrag einen kritischen Blick auf die Bildungspolitik in der Coronakrise. E. Jürgen Zöllner ist Mediziner und SPD-Politiker. Er war von 1991 bis 2006 Bildungs- und Wissenschaftsminister in Rheinland-Pfalz, danach bis 2011 Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin und bis Juni 2021 Vorstand der Stiftung Charité. Eine längere Version des Artikels ist im Magazin der Wübben-Stiftung erschienen, deren Kuratorium Zöllner angehört.
Die Pandemie hat uns alle zu Lernenden gemacht. Wir mussten uns ins Offene wagen und großflächig probieren – also Dinge tun, die im sicherheitsverwöhnten und scheingenauigkeitsbesessenen Deutschland weitgehend aus der Mode gekommen waren.
Über die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen in den Schulen kann man dabei sicher unterschiedlicher Meinung sei: Masken, Lüften, Luftfilter, Wechsel- oder Präsenzunterricht für alle – oder nur für Abschlussklassen. Was trägt jede dieser Maßnahmen oder ihre Kombination bei, um das Virus zu hemmen? Und wann soll man welche Maßnahmen ergreifen? Ab einer Inzidenz von 35, 50 oder 100 – das konnten nur grobe Orientierungen sein.
Gemeinsame Beschlüsse der Ministerrunde wurden diskreditiert
Entschieden werden musste aber. Und es musste schneller entschieden werden, als unsere deutschen parlamentarischen, grundsätzlich erst einmal pandemieuntauglichen, weil langsamen Strukturen das gekonnt hätten. Unter hohem Druck und sich schnell ändernden Pandemieentwicklungen wurden in der Runde der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin zunächst klare Beschlüsse gefasst, was wann – auch in Kita und Schule – zu tun ist.
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Wir wissen: Die meisten Maßnahmen haben nicht dann Erfolg, wenn sie verordnet, sondern wenn sie von der Bevölkerung akzeptiert werden. Dafür muss Politik glaubwürdig bleiben. Dies wurde aktiv auch von Bildungspolitikern verspielt, die gemeinsame Beschlüsse – oft populistisch motiviert – schon diskreditierten, unterminierten oder ersetzten, als die Tinte noch nicht einmal trocken war.
Ein einheitliches kluges Modell, um geschlossene Kitas und Schulen zu vermeiden? Fehlanzeige. Sie versäumten zudem auch die Chance, im Wettbewerb um die besten Schulorganisations- und Unterrichtsformen unter Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Inzidenzzündstufen Best-Practice-Konzepte heranzubilden, die im nächsten Schuljahr, jetzt in der vierten Welle, allen zur Verfügung stehen.
Übertriebener Datenschutz versus Kontakt zur Lehrkraft
Der Befund versäumter Chancen gilt absolut zentral auch für Übertreibungen des Datenschutzes, der praktisch in allen von der Pandemie betroffenen Bereichen eine entscheidende Rolle spielt und wichtiger erscheint als das Leben, der Wohlstand, die berufliche Existenz. Datenschutz ist zum Kult geworden, der zum Selbstzweck mutierte – und kaum jemand hat den Mut, das anzusprechen, weil er den unweigerlichen Shitstorm von Aktivisten befürchtet.
Im digitalen Unterricht sei Schülern*innen nicht zuzumuten, die Kamera ihres Tablets einzuschalten. Lehrkräfte unterrichten lammfromm vor 28 Kacheln, die wie oft berichtet teilweise auf Ansprache nicht reagieren, weil die hinter der Kachel verborgenen Schüler*innen sich nicht zuletzt mangels direkten Kontakts zur Lehrkraft längst mental und vielleicht auch physisch verabschiedet haben. Wie die Bildungspolitik unter Umständen digitalen Unterricht begründet, in dem die zentrale Beziehung Lehrkraft Schüler*in als Grundlage pädagogischen Arbeitens quasi ausgeblendet wird, bleibt ihr Geheimnis.
Die Diskussion um instabile Netze oder fehlende Endgeräte ist nur ein Blitzlicht unserer frappierenden Rückständigkeit. Die schlimmere Erkenntnis ist die von digitalem Fortschritt vollkommen abgekoppelte Methodik und Didaktik in vielen Schulen, die nicht allein in Hardware, sondern in digitaler (Plattformen, Programme) und personeller (Fortbildung von Lehrkräften) Software wurzelt.
Digitale Lernprogramme nutzen nur die ohnehin Aktiven
Schon längst hätten wir im Land der Tüftler und Denker das gebraucht, was in anderen Ländern bereits Alltag ist: belastbare Lernplattformen, spannende Lernprogramme mit Korrektur und Binnendifferenzierung, selbst organisiertes Lernen der Schüler*innen mit systematischer Rückkoppelung zu den Lehrkräften sowie Unterrichtsanteile, die nicht im Präsenzunterricht erbracht werden müssen. Viele Konzepte sind längst zu Papier gebracht – das geduldig der Umsetzung in der Breite harrt.
Viele wirksame Selbst-Lernprogramme und Tutorial-Videos werden unterdessen nur von denen genutzt, die ohnedies aktiv unterwegs sind. Die Schere zwischen den Schulen ist leider nicht nur in der Schülerschaft weit geöffnet. Innovative Schulen mit ebensolchen Lehrkräften leben es vor und kämpfen wiederum mit oft absurden bürokratischen und datenschutzrechtlichen Steinen, die ihnen in den Weg gelegt werden.
Die Pandemie ist Chance und Notwendigkeit zugleich: Warum wird zum Beispiel nicht systematisch auf bereits vorhandene digitale Angebote zurückgegriffen und warum werden kaum kommerzielle Anbieter einbezogen? Warum wird nicht systematisch auch in den Zeiten geöffneter Schulen ein Anteil des Unterrichts im Fernunterricht realisiert, um im Falle eines Shutdowns auf eingespielte Prozesse zurückzugreifen zu können?
Ein zukünftiges, besseres Schulsystem im digitalen Zeitalter
Eine Digitalisierungsoffensive ist nicht mit Geld und Hardware getan. Sie erfordert eine bedarfsgerechte und verpflichtende Fortbildungsoffensive für diejenigen, die vor stetiger Qualifizierung für die Anforderungen ihrer Zeit zurückschrecken. Es braucht dann zwingend Unterstützung und begleitendes Controlling in der Umsetzung sowie last not least klare Konsequenzen, falls Fortbildung und Umsetzung verweigert werden.
Die zentrale Rolle der Lehrkraft als Anreger, Bildungsbegleiter und entscheidende Bezugsperson bleibt. Die zusätzlichen Möglichkeiten der Digitalisierung zum Wohle unserer Schüler*innen aber werden den künftigen Unterricht entscheidend verändern. Erfahrungen aus der Pandemie können wichtige Erkenntnisse über ein zukünftiges, besseres Schulsystem im digitalen Zeitalter vermitteln.
Das muss nichts weniger leisten als unsere Kinder zu befähigen, in der digitalen Welt nicht nur Schritt zu halten, sondern sie in ihren Möglichkeiten und notwendigen Begrenzungen aktiv mitzugestalten.
Nicht als Klagen, dabei können auch Kinder an der Krise wachsen
In der öffentlichen Diskussion und in Medien dominierte das Leiden und Klagen. Bildung aber ist mehr als Wissen: Was sagt es über unser Land, dass niemand die Entwicklungschance für die jungen Menschen thematisiert, Krise zu lernen? Es ist für die Persönlichkeitsentwicklung vielleicht ein größerer Reifesprung, als er mit Reisen, Freunde treffen und Party machen erreicht worden wäre. Dafür braucht man jedoch eine positive Einstellung, die Herausforderung annehmen zu wollen. Zudem müsste der Jugend Flexibilität vorgelebt werden: Ich habe jedoch keine ernsthafte Diskussion gehört, im Shutdown der Schulen die Winterferien um vier Wochen zulasten der Sommerferien zu verlängern, die dann nur noch zwei Wochen lang gewesen wären.
Der Bund stellt trotz fehlender Zuständigkeit für die Bildung beträchtliche zusätzliche Mittel bereit: Sieben Milliarden Euro aus dem „Digitalpakt Schule“ und zwei Milliarden Euro aus dem „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“. Der spärliche Mittelabruf aus dem „Digitalpakt Schule“ ist nicht nur ein Umsetzungsproblem, sondern belegt fehlende Konzeptionen für einen effizienten Mitteleinsatz.
Guter Rat für die KMK - noch ist es nicht zu spät
Die Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (StäWiKo) wird dabei trotz ihrer hervorragenden Besetzung nicht entscheidend helfen können. Durch ihre Beschränkung auf Beratung und Empfehlungen ist sie eher eine Abwehrreaktion der Länder gegen den geforderten Bildungsrat. Die Probleme sind aber nur lösbar, wenn es ein Entscheidungsgremium unter Beteiligung des Bundes gibt, das sich auch mit der Setzung von Qualitätsstandards und deren Kontrolle befassen kann.
Erst dann kann aus der scheinbaren Schwäche der föderalen Struktur im Bereich Bildung eine Stärke werden, bei der in einem qualitätssteigernden Wettbewerb alle profitieren, ganz nebenbei auch viele Familien mit ihren Probleme beim Schulwechsel von einem Bundesland zum anderen.
Die neue Bundesregierung sollte deshalb eine Verfassungsänderung anstreben, die es dem Bund ermöglicht, in Kooperation mit den Ländern Bildungsstandards zu setzen und zu überprüfen. Dabei bliebe die Zuständigkeit der Länder für die schulische Bildung erhalten, gleichzeitig aber würden einheitliche Qualitätsstandards einen qualitätssteigernden Wettbewerb zwischen den Ländern ermöglichen – und Familien die Mobilität erleichtern.
Artikel 91b Absatz 1 des Grundgesetzes hieße dann neu formuliert: „Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Setzung von Bildungsstandards sowie deren laufender Überprüfung und der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken.“
E. Jürgen Zöllner