Umfrage zu Lernlücken und zum Schulstart: 80 Prozent der Schüler sehen sich im Rückstand
Die meisten Schüler sind sich Lernverlusten aus der Krise bewusst, 27 Prozent sehen deutliche Lücken. Mehr als 90 Prozent sehnen sich zurück in den Klassenraum.
Wie viel Schulstoff haben Kinder und Jugendliche in der Coronakrise seit dem Frühjahr 2020 verpasst? Während Deutschland auf Ergebnisse erster Lernstandserhebungen nach den Ferien wartet und auf größere Studien, die erst 2022 veröffentlicht werden, hat die Telekom Stiftung die Betroffenen selbst gefragt.
Vier von fünf Schülerinnen und Schülern geben demnach an, nach gut einem Jahr Homeschooling, Quarantänezeiten und Wechselunterricht mit dem Schulstoff im Rückstand zu sein. 27 Prozent sehen sich sogar „deutlich im Rückstand“ – und nur zehn Prozent „gar nicht“. 61 Prozent der Eltern sind wegen des verpassten Lernstoffs in Sorge.
Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung im März und April dieses Jahres hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurde (zur vollständigen Studie geht es hier). Die Umfrage knüpft an eine Studie zum Bildungsverständnis von Kindern und Jugendlichen von vor einem Jahr an.
Mit der Qualität des Digitalunterrichts ist nur etwas mehr als die Hälfte der rund 1000 befragten Kinder und Jugendlichen der Klassen 5 bis 10 zufrieden oder sehr zufrieden, 41 Prozent sind weniger oder gar nicht zufrieden. Mit dem Lernen von zu Hause gut oder sehr gut zurechtgekommen sind nach eigener Aussage immerhin 58 Prozent der Schüler:innen (sehr gut: 11 %).
[Wie groß sind die Lernrückstände wirklich? Lesen Sie dazu einen Artikel auf Tagesspiegel Plus (T+)]
Dass sie weniger gut zurechtgekommen sind, sagen 30 Prozent, acht Prozent sind gar nicht klargekommen. An Haupt- und Realschulen ist die Gruppe, die im Homeschooling nicht mitkam, mit 48 Prozent doppelt so groß wie an Gymnasien.
Bessere Noten von den Schüler:innen bekommt die digitale Ausstattung ihrer Schule, 57 Prozent finden sie gut oder sehr gut. Die 500 befragten Eltern dieser Altersgruppe sind kritischer, nur ein Drittel konstatiert, dass die Schule heute digital besser ausgestattet sei als vor der Coronakrise.
Zwischen Präsenzunterricht pur und Wechselmodell
Auch wenn sich zwei Drittel der Schüler:innen bescheinigen, im Umgang mit digitalen Anwendungen viel dazugelernt zu haben: Eine überwältigende Mehrheit von 93 Prozent wünscht sich zurück in den klassischen Präsenzunterricht in der Schule.
Hier wurde allerdings differenziert gefragt: Ausschließlich in der Schule mit direkter Anleitung durch die Lehrkräfte wollen 54 Prozent ins neue Schuljahr starten. 39 Prozent aber würden ein Modell bevorzugen, in dem sie "überwiegend in der Schule und ab und zu digital zu Hause" unterrichtet werden.
Dass mehr als 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen ausschließlich oder überwiegend in der Schule lernen wollen, "ist das größte Kompliment an Schule", sagte Thomas de Maizière, der Vorsitzende der Telekom-Stiftung, bei der Präsentation der Umfrage per Videokonferenz.
Auch bei den Eltern fällt das Plädoyer für den Lernort Schule nach 16 Monaten mit wiederholten Homeschooling-Phasen deutlich aus: Drei Viertel wünschen sich ausnahmslosen Präsenzunterricht. "Wenn die Eltern vor einem Horror haben, sind es unzuverlässige Schulbedingungen, die sie nicht berechnen und planen können", sagte Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher.
Für ihre Kinder sind sie allerdings die wichtigsten Lernhelfer - 71 Prozent sehen in ihnen die ersten Ansprechpartner, wenn sie Unterstützungsbedarf beim Lernen oder bei den Hausaufgaben haben. Damit liegen die Eltern weit vor Freund:innen (45 Prozent) und Lehrkräften (27 Prozent). Gleichzeitig sagt nur ein Drittel der Eltern, dass sie sich zutrauen, ihr Kind zu Hause angemessen zu fördern.
Ebenfalls nur ein Drittel der befragten Schüler:innen möchte sich weiterhin Inhalte hin und wieder selbst erarbeiten. Dabei haben die Kinder und Jugendlichen genau hier Fortschritte gemacht. So bestätigt mehr als die Hälfte, sich beim Recherchieren von Informationen, beim selbstständigen Erarbeiten von Themen und in der Selbstorganisation verbessert zu haben.
Regulärer Unterricht soll helfen, Defizite aufzuholen
Also alles zurück zu den Vor-Corona-Zeiten? Die Eltern erwarten von den Lehrkräften womöglich mehr als vorher: 90 Prozent sehen die Schulen in der Pflicht, die Lernrückstände auszugleichen. Zugetraut wird dies nicht etwa zusätzlichen Lernangeboten am Nachmittag oder in den Ferien, die durch das eine Milliarde Euro schwere Aufhol-Paket des Bundes finanziert werden. Dieses Programm allerdings war zum Zeitpunkt der Umfrage auch noch gar nicht beschlossen.
De Maizière warnte vor einer Rückkehr zum konventionellen Unterricht ohne digitale Inhalte. "Auch in der Schule muss der Unterricht etwa durch den Einsatz digitaler Lernplattformen besser werden."
[Unter welchen Bedingungen geht es "back to school"? Lesen Sie einen vorläufigen Überblick auf Tagesspiegel Plus]
Schulen haben schon begonnen, Lernlücken aufzufüllen
Beruhigend ist, dass die Schüler:innen schon im Frühjahr von Unterstützungsmaßnahmen ihrer Lehrkräfte berichtet haben, die helfen sollen, Rückstände aufzuholen: 55 Prozent bekamen zusätzliche Übungsaufgaben, 41 Prozent sogar digitale Lernangebote. Aber nur 44 Prozent gaben an, selber aktiv zu werden, um Versäumtes nachzuholen (Gymnasiast:innen: 50 Prozent).
Hier zeigten sich große soziale Unterschiede, sagt Renate Köcher. Gute Schüler aus der Mittel- oder Oberschicht seien in der überwiegenden Mehrheit mit dem Homeschooling gut zurechtgekommen und bemüht, ihre Rückstände schnell aufzuholen. Schüler dagegen, bei denen geringeres Einkommen und Bildung der Eltern mit schwächeren Leistungen in der Schule korrelieren, seien auch weniger bereit und in der Lage, die gewachsenen Lernrückstände aufzuholen.
Nicht nach besuchter Schulart und soziökonomischen familiären Hintergrund unterschieden haben die Meinungsforschenden bei der Frage nach der Lernmotivation. Hier zeigen sich aber allgemein leichte Unterschiede in den Befragungen vor und nach Corona. So sagten im März/April dieses Jahres nur noch 60 Prozent, dass sie lernen, um sich neue Wissensgebiete zu erschließen. Von den unmittelbar vor der Coronakrise Befragten waren es 64 Prozent.
Zu lernen, um gute Noten zu bekommen, finden 71 Prozent wichtig (2020: 74 Prozent), 75 Prozent lernen, weil es später für die Arbeit wichtig ist (2020: 78 Prozent). Auch die Lernmotivation, eine Belohnung zu erhalten, ist leicht gesunken - von 23 auf 19 Prozent. Ein Wert bleibt indes unverändert: In beiden Befragungszeiträumen lernten nur 30 Prozent, "weil es mir Spaß macht".
Wenig verwunderlich ist, dass Digitales in der Coronakrise die Freizeitgestaltung dominiert hat. Auf die Frage, was sie "wegen Corona neu angefangen bzw. häufiger gemacht" haben, nennen 52 Prozent allgemein das Internet, 47 Prozent haben Computerspiele für sich entdeckt oder verstärkt genutzt, bei den sozialen Medien sind es 46 Prozent und bei Streamingdiensten 39 Prozent.
All dies ist bei den Jungen sehr viel ausgeprägter als bei den Mädchen, die auch analoge Hobbys wie Kochen, Backen, Handarbeiten oder Bücher lesen ausgebaut haben. Außerhalb des häuslichen Bereichs haben beide Gruppen vor allem ihre Sportvereine vermisst (66 Prozent).
Thomas de Maizière spricht sich dafür aus, "Bildungs-Ökosysteme" zu schaffen, um Kindern und Jugendlichen zu helfen, den Anschluss ans schulische Curriculum zu schaffen. Schulen und die Lernorte um sie herum, etwa Jugendhäuser, Musikschulen und Bibliotheken, sollten zusammenwirken. "Damit jeder die Lerngelegenheit erhält, die er braucht."
Die Kinder und Jugendlichen, die dem Bildungssystem in der Coronazeit "verloren gegangen sind" und die sich jetzt nicht für freiwillige Förderangebote melden, müssten mit verpflichtenden Kursen in den Ganztagsschulen erreicht werden, sagte de Maizière.