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Eine Frau steht vor einem Gemälde, das eine schwarze Frau beim Betrachten einer weißen, schlafenden Frau zeigt.
© Daniel Reinhardt; picture alliance / dpa

"Critical Whiteness": Die unsichtbare weiße Norm

„Critical Whiteness“, die "kritische Weißseinsforschung", versteht Rassismus als gesellschaftliche Struktur und beschreibt „Weißsein“ als häufig unerkanntes Privileg.

Unmittelbar nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht titelte der „Focus“ mit einem Bild, das einen von schwarzen Handflächen besudelten weißen Frauenkörper zeigte. Die physische Markierung der blonden Weißen durch die schwarzen Hände offenbarte dabei jene symbolische Markierung, mit der Menschen of Colour im Kontext einer „weißen“ Wissensbildung bis heute versehen werden. Die Darstellung bediente sich des Stereotyps vom dunkelhäutigen, triebgesteuerten Orientalen als minderwertigem Gegenbild zum weißen, vernunftzentrierten Abendländer.

Rassismus hat trotz der wissenschaftlichen Diskreditierung des Rassekonzepts weltweit Konjunktur, zumal in Deutschland, wo sich die sogenannte „Volkszugehörigkeit“ ungeachtet der Schoah bis heute über Abstammung definiert. Auch wenn sich die Gesetzeslage allmählich aufweichen sollte, ist das Ius sanguinis tief in den Köpfen der Menschen verankert.

Deutsch wird mit weiß - und christlich - in eins gesetzt

Dass die Jurorin einer beliebten deutschen Casting-Show ihre dunkelhäutige Teilnehmerin auf deren vermeintliche Fremdheit verpflichtet, obwohl diese Deutschland als Herkunftsland aufführt, bringt die ganze Misere auf den Punkt. Nicht bloß wer in Sachsen „Wir sind das Volk“ skandiert, auch wer einem Schwarzhaarigen mit dunklerem Teint zu seinen guten Sprachkenntnissen gratuliert oder fragt, wo dieser denn eigentlich herkomme, setzt deutsch mit weiß (und christlich) in eins.

Die "Critical Whiteness" hat längst die deutschen Unis erreicht

Gerade vor dem Hintergrund der in Deutschland aufkeimenden Volksdiskurse lohnt ein Blick auf das in den letzten Jahren viel diskutierte, aus den Thinktanks der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung herrührende Konzept „Critical Whiteness“. Anfang der Nullerjahre gelangte es unter dem etwas sperrigen Label „Kritische Weißseinsforschung“ nach Deutschland und wird seither von verschiedenen Fachbereichen wie der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Afrikanistik rezipiert. Gleichzeitig haben die theoretischen Grundsätze Eingang in die antirassistische Praxis verschiedener Autoren- und Aktivistengruppen gefunden. Weit davon entfernt, eine einheitliche Theorie zu sein, ist den verschiedenen Ansätzen jedoch eines gemeinsam: Rassismus wird nicht als alleiniges Problem zu spät gekommener Hinterwäldler, sondern als eine die Gesellschaft strukturierende Matrix verstanden.

"Rasse existiert nicht, doch sie tötet Menschen"

Den Vertretern der Critical Whiteness zufolge ist es mit Gleichheitspostulaten nicht getan, weil die soziale Realität leider eine andere ist. Obwohl dem Rassekonzept jede wissenschaftliche Basis fehlt, es sich längst als biologisch unsinnig erwiesen hat, müssen wir mit den Termini „weiß“, „schwarz“ und „coloured“ operieren, um die Position, die einem Menschen in der Gesellschaft ob seiner Haut- und Haarfarbe zukommt, adäquat beschreiben zu können. Farbenblindheit ist deshalb keine Lösung, weil der Rassismus eine reale Fiktion darstellt. Oder in den Worten von Colette Guillaumin: „Rasse existiert nicht, doch sie tötet Menschen.“

Ein Ausgangspunkt der Theorie ist die Beobachtung, dass People of Colour von Weißen als abweichend und schlicht bemerkenswert wahrgenommen werden. Das eigene Weißsein wird dabei unbewusst als Norm vorausgesetzt und nicht weiter reflektiert. Die Aufklärung zeitigte dereinst den kolonial-ethnologischen Blick auf den Fremden, der in seiner als exotisch wahrgenommenen Andersartigkeit zum Objekt des abendländischen Wissens und zum Opfer rücksichtsloser Ausbeutung wurde. Westliche Geistesgrößen wie Kant und Hegel lieferten mit ihrer hierarchischen Anthropologie die theoretische Grundlage der Unterdrückung des angeblich vernunftlosen (Kant) und geschichtslosen (Hegel) Schwarzen.

Neue Perspektive der Rassismusforschung - von den Opfern zu den Tätern

Analog zu dieser Perspektive nahm auch die herkömmliche Rassismusforschung lange die Opfer der Ausgrenzung in den Blick, anstatt sich mit den Tätern zu befassen. Die Critical Whiteness, zu deren Pionieren auch Denker der Entkolonialisierung wie Frantz Fanon gezählt werden, veränderte dann die Perspektive. Fortan schaute man nicht mehr auf die marginalisierten Schwarzen, sondern auf die als „normal“ daherkommenden Weißen, die sich ihrer gesellschaftlichen Privilegien häufig nicht einmal bewusst sind.

Denn vom „racial profiling“, von der Diskriminierung auf der Straße, bei der Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnungssuche, bekommt der Nutznießer der Herrschaftsverhältnisse selten etwas mit. Ein als „weiß“ wahrgenommener Mensch hat nie erlebt, dass ihm die Unterzeichnung eines Mietvertrags aufgrund der „falschen“ Haut- oder Haarfarbe verweigert wird; dass auf die bloße Nennung des eigenen Namens am Telefon ein Tuten in der Leitung folgt; dass sein Phänotyp den Türsteher eines vermeintlich weltoffenen Großstadtclubs zu einem „du heute leider nicht“ veranlasst. Für einen als weiß markierten Menschen ist die Hautfarbe schlicht unsichtbar, sie spielt im Alltag keine Rolle. Eine Weiße kann mit ihrem ureigenen Antlitz erscheinen, eine Schwarze wird zunächst auf ihre Hautpigmentierung zurückgeworfen und zum Abstraktum gestempelt, bevor man ihr erlaubt, ein Individuum zu sein.

Toni Morrison begründete Critical Whiteness als akademische Disziplin

Toni Morrison, eine maßgebliche Begründerin der Critical Whiteness als akademischer Disziplin, hat den Ansatz in ihrem bahnbrechenden Werk „Playing in the Dark“ wie folgt beschrieben: „Mein Projekt ist das Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden; von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu den Bedienten.“

Auch wenn die Kritische Weißseinsforschung als ein Konzept erscheine, das ohne die amerikanische Geschichte der Rassentrennung kaum vorstellbar sei, lasse sich der Ansatz auch auf Länder übertragen, in denen die Sklaverei und ihre Folgen keine direkte Rolle spielten und wo eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Menschen mit schwarzer Hautfarbe lebten, erklärt die in Bayreuth praktizierende Anglistin und Afrikawissenschaftlerin Susan Arndt: „Rassismus ist ein paneuropäisch-westliches Narrativ mit globaler Wirkung und immenser struktureller Macht. Weißsein ist auf der ganzen Welt eine Währung, an der ökonomische, gesellschaftliche und politische Privilegien hängen.“

Harsche Identitätspolitik und penible Sprachregelungen

Wie andere emanzipatorische Projekte auch, ist die „Critical Whiteness“ jedoch nicht davor gefeit, übers Ziel hinauszuschießen und die eigenen Anliegen zu hintertreiben. Wenn die Tugend radikal wird, bildet sie nicht selten jakobinische Züge aus, die Revolution schickt sich an, ihre Kinder zu fressen. Nicht zuletzt in Deutschland haben einige Vertreter der Theorie durch harsche Identitätspolitik, penible Sprachregelung und angemaßte Diskurshoheit selbst Formen von Diskriminierung geschaffen.

So gaben radikale Critical-Whiteness-Aktivisten unter anderem bei einem 2012 in Köln veranstalteten „No-Border-Camp“, das sich eigentlich mit den Bedürfnissen von Geflüchteten befassen sollte, wortwörtlich den Ton an. Die Kommunikation wurde durch aufgestellte Redeverbote gesteuert, „weiße“ Sprecher durften von People of Colour jederzeit ohne Angabe von Gründen in ihren Redebeiträgen unterbrochen werden, Träger von Dreadlocks wurden aufgefordert diese abzuschneiden, da die weiße Adaption dieser schwarzen Haartracht eine Form des „kulturellen Kannibalismus“ sei.

"Weiße" Selbstkritik ist geboten, weil Sprache Traumata auslösen kann

Vassilis Tsianos, Hamburger Migrationsforscher und Mitbegründer des in den späten Neunzigerjahren formierten antirassistischen Bündnisses Kanak Attak, empfindet ein solches Sektierertum als kontraproduktiv. Wenn „Weiße“ ihre antirassistische Arbeit einstellten, aus Angst, einen hegemonialen oder wenigstens paternalistischen Diskurs über People of Colour zu wiederholen, sei eigentlich niemandem geholfen, meint Tsianos.

Noch problematischer aber sei es, wenn sich „Weiße“ ihrerseits die Diskurshoheit anmaßten und gerade unter Verwendung eines bereinigten Vokabulars die Machtverhältnisse fortschrieben. „Natürlich ist es wichtig, eine herrschaftsneutrale Sprache zu bilden“, sagt Tsianos, „nicht aufgrund einer formalen Political Correctness, sondern weil Sprache – das N-Wort zum Beispiel – aktiv traumatisieren kann.“ Häufig sei Diskurshygiene aber nicht mehr als das differenzpolitische Projekt einer Reformelite.

Bei "Balkanschnitzel" weiter die eigenen "weißen" Privilegien genießen

„Die Bereinigung der Sprache übertüncht die eigene Verstrickung in normale rassistische Verhältnisse“, sagt Tsianos. Demnach attestiert man sich über die sprachliche Hygiene einen rassismusfreien Status jenseits der mehrheitsdeutschen Normalität und kann dann bei „Balkanschnitzel“ und „Schokokuss“ weiter seine „weißen“ Privilegien genießen.

Vollends absurd aber werde es, wenn die Reformelite ihr künstliches Vokabular den Benachteiligten antrage. Spätestens wenn der Hölle des Krieges entkommene Menschen – wie auf besagtem No-Border-Camp geschehen – von weißen Mittelständlern ob der Verwendung „kontaminierter Begriffe“ gemaßregelt werden, und ihnen eingebläut wird, dass sie sich selbst doch bitte nicht als „Flüchtlinge“, sondern als „Geflüchtete“ bezeichnen sollen, hat man das Kind wohl mit dem Bade ausgeschüttet.

Wer die Sprachspiele der Communitys ignoriert, wer dem Ghetto einen sterilen Seminarsprech oktroyiert, wer die Straße zwingt, „People of colour“ zu sagen, (re)produziert laut Tsianos einen kulturarroganten Klassismus und hintertreibt das Projekt, den Geknechteten Gehör zu schenken. Nur diejenigen nämlich, die die Zeit haben, sich das saubere Vokabular in ihren Elfenbeintürmen anzueignen, sind dann moralisch auf der sicheren Seite.

Es reicht nicht, sich selbst als aufgeklärtes Subjekt zu inszenieren

Auch wenn die Critical Whiteness zuweilen absurde Blüten treibt, liefert sie insgesamt ein stabiles Besteck, um Rassismus als Gesellschaftsstruktur auseinanderzunehmen. Demnach reicht es nicht aus, sich selbst als aufgeklärtes Subjekt zu inszenieren, für das Haut- und Haarfarbe, kultureller Background und Religionszugehörigkeit keine Rolle spielen und Rassismus als eine Epidemie des sächsischen Sumpfs auszuweisen.

Will man als „weißer Deutscher“ der rechten Kulturrevolution Einhalt gebieten, sollte man sich im Sinne der Critical Whiteness zunächst mit den eigenen Privilegien und Vorurteilen und vor allem mit der unbekannten Erfahrungswelt der Diskriminierten befassen. Die deutsch-weiß-christliche Normalität wird demgemäß nicht bloß durch AfD-Agitprop und Pegida-Parolen lanciert, sondern von der Mitte der Gesellschaft stillschweigend – und oft unwissentlich – vorausgesetzt.

Christoph David Piorkowski

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