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"heilende" Hände
© Sandra Hoffmann, picture-alliance , gms

Alternativmedizin bei Krebs: Die Unheiler – das Geschäft mit der Angst

Was passiert, wenn man sich als Krebspatient an Alternativpraxen in Deutschland wendet? Eine Undercover-Recherche.

Hallo, mein Name ist Niko Scholze, ich bin 33 Jahre alt und habe Krebs. Genauer: ein Hodgkin-Lymphom, einen Tumor, der die Lymphknoten befällt. Vor einem Jahr habe ich eine Chemotherapie gemacht. Der Krebs verschwand, doch nun ist er zurückgekehrt. Mein Arzt drängt auf eine neue Chemotherapie.

Das ist zum Glück nur ausgedacht. An Krebs leide ich zum Schein, um Deutschlands Alternativmediziner auf die Probe zu stellen. Was raten sie einem, der mit einem aggressiven, aber von der „Schulmedizin“ gut behandelbaren Tumor zu ihnen kommt? Schätzungen zufolge probiert jeder zweite Krebspatient alternative Methoden aus. Dennoch wissen Behörden und Ärzte erstaunlich wenig darüber, was abseits der Kliniken passiert.

Also fahren meine vorgebliche Studienfreundin Claudia Ruby und ich – tatsächlich sind wir Wissenschaftsjournalisten – quer durch Deutschland. Claudia Ruby hat für ihren Dokumentarfilm „Krebs – das Geschäft mit der Angst“ die Besuche organisiert, den Diagnosebrief, den ich jedem Heiler vorlege, genauso wie eine DVD mit Computertomografien. Darauf sieht man, dass der Tumor die Milz befallen hat.

Die Reise beginnt in Öhringen, einem Städtchen im Norden von Stuttgart, wo die Heilpraktikerin Ursula Stoll ihre Patienten nach den „fünf biologischen Naturgesetzen“ behandelt. Diese angeblichen Gesetze gehören zur „Neuen Germanischen Medizin“. Ryke Geerd Hamer hat die Lehre in den 1980er Jahren als Reaktion auf die „jüdische“ Medizin begründet. Er verlor seine ärztliche Zulassung, praktizierte weiter, mehrere seiner Patienten starben. 2007 floh Hamer nach Norwegen, wo er bis heute als Rektor einer Scheinuniversität auftritt. Nach ihm wird international gefahndet.

Die Ursache der Krankheit? Selbstabwertung!

Selbst Ursula Stoll hält ihn für verrückt – nicht aber seine Theorie. Deren Kern: Alle Krankheiten seien Ausdruck eines Konfliktes. Hamer veranschaulicht das mit Beispielen aus dem Tierreich. Ein Hirsch, der aus seinem Revier verdrängt werde, erhöhe den Blutdurchfluss zum Herzen, um Kraft zu haben und sein Gebiet zurückzuerobern. Dem Menschen ergehe es ähnlich, wenn er eine Erniedrigung erlebt. Doch er kann die aufgestaute Energie nicht im Kampf freisetzen. Die Überschussreaktion führt zum Infarkt.

Stoll praktiziert in einem unscheinbaren Einfamilienhaus, sie trägt ein weißes Hemd und Hornbrille, die braunen Haare zum Zopf zusammengesteckt. Ich fange an, von meinem Hodgkin-Lymphom zu erzählen. Die Heilpraktikerin unterbricht mich: „Was ist Krebs?“ Ich habe erst mal nur eine Schwellung der Lymphknoten am Hals. Punkt. Die Ursache: eine Selbstabwertung, und zwar beruflicher Art. Hinzu käme existenzielle Angst, sagt sie. Wie ein Fisch an Land lagere ich Wasser in meinen Körper ein, um zu überleben. Metastasen? Gebe es nicht. Den ärztlichen Befund? Überfliegt sie beiläufig.

Ich erzähle ihr von einem Vortrag, der meinem Chef nicht gefallen hat. Ja! Das könne der Grund für die Krebserkrankung sein. Mein Körper versuche, sich selbst zu heilen. Die erste Chemotherapie habe den Vorgang unterbrochen. Ihr Rat, um den Krebs zu besiegen: Ich soll zu meinen Eltern ziehen, das Leben als Single überfordere mich, Berlin sei ohnehin eine furchtbare Stadt. Und ich soll lernen, mich selbst zu lieben. Was ist mit der Chemotherapie? „Ich persönlich würde das nicht machen“, sagt sie, „für meine Kinder und meine Eltern würde ich genauso entscheiden.“

Die Patienten wollten es so, urteilen viele Richter

Diese Formulierung begegnet mir immer wieder. Die Heiler wollen sich sowohl aus der rechtlichen Verantwortung stehlen. Hodgkin ist heilbar, eine Paradeerkrankung für die Krebsmedizin. Eine Chemotherapie ist die einzig sinnvolle Option. Verweigert man sich dieser Behandlung, gehen die Überlebenschancen gegen null. Niko Scholze wäre an diesem Rat verstorben.

Wir haben Ursula Stoll vor der Veröffentlichung dieses Textes gefragt, wie sie ihr Vorgehen rechtfertigt. Per E-Mail wiederholt sie ihre Standpunkte. Sie bleibt dabei, dass eine Chemotherapie mehr schadet, „als sie nützlich sein kann“. Hält daran fest, dass Krankheit „als eine Selbstregulation verstanden werden“ könne. Wiederholt, dass „die Wörter Krebs und Metastasen keine Aussagekraft haben“.

Maia Steinert, Fachanwältin für Medizinrecht in Köln, hat oft Hinterbliebene von Kranken vertreten, die sich in ihrer Not an Alternativmediziner gewandt hatten. Wer wie in diesem Fall einem jungen Menschen mit Heilungschancen über 50 Prozent von einer rettenden Therapie abrät, mache sich der arglistigen Täuschung und Körperverletzung strafbar, sagt sie. Doch es sei sehr schwer, vor Gericht eine Strafe durchzusetzen. In der Regel urteilten die Richter, jemand sei selbst schuld, wenn er sich sehenden Auges von einer etablierten Therapie abwende.

Alternativheilern den Boden entziehen

Und die Behandler sichern sich juristisch ab. Sie lassen die Patienten Verträge unterzeichnen, in denen steht, dass der Patient über die „Schulmedizin“ aufgeklärt wurde und diese eigenwillig ablehne. Was wäre die Lösung? Die Anwältin will keine Verschärfung der Gesetze. Sie wünscht sich, dass den Alternativheilern der Boden entzogen wird – etwa indem Arztgespräche besser von den Krankenkassen honoriert werden. „Die Medizin besteht heute oft nur noch aus einem Handschlag, einem Rezept und hochtechnischen Geräten.“

"Wir dürfen unser Leben nicht so kurz sehen"

Lothar Hollerbach, ein weißhaariger Arzt mit Alternativpraxis in einer Heidelberger Stadtvilla, sagt gleich, dass er nichts von einer Chemotherapie halte. Er bereitet mich auf meine Wiedergeburt vor. „Wir sind geistige Wesen und nur für kurze Zeit in einem Wohnmobil, das wir Körper nennen“, sagt er. Jede Krise sei eine Lektion, vielleicht für das nächste Leben. Er empfiehlt mir zur Gesundung die Vorträge von Rudolf Steiner, ein Gedicht von Hermann Hesse und das Buch eines brasilianischen Mediums. Es gehe bei einer Behandlung nicht nur darum zu überleben. Manche seiner Patienten seien in kurzer Zeit zu unglaublichen Erkenntnissen gelangt und hätten „bei der nächsten Inkarnation“ ein total anderes Leben führen können. „Wir dürfen unser Leben nicht so kurz sehen“, sagt er.

Es gibt Ausnahmen: Eine Praxis berät korrekt

Todessehnsucht auch bei den Geistheilern Wolfgang Bittscheidt und Teresa Schuhl in Siegburg bei Bonn, bei denen man erst nach langer Wartezeit einen Termin bekommt. Ihre Praxis wurde vorteilhaft in Fernsehreportagen besprochen. „Ich habe den Tod gesehen“, sagt Teresa Schuhl. „Glauben Sie mir, ich würde Ihnen, wenn ich könnte, all meine Jahre schenken und sagen: Ich gehe. Der Tod ist das Schönste was es gibt. Wie eine Reise in die Karibik. Warum fürchten wir uns davor? Auf diesem Folterplaneten hier?“ Von der „Schulmedizin“ dagegen hält sie offenbar nichts: „Mir kann keiner erzählen, dass eine Chemotherapie heilt.“ Dann verfällt sie ins Aramäische, um mir in einer Geistheilung den Tumor auszutreiben. Hollerbach und die Geistheiler haben im Nachhinein keine Stellung bezogen.

Von den acht Alternativpraxen, an die wir uns gewendet haben, hat uns nur die Stadtwaldpraxis Köln korrekt beraten. Auch gibt es ein Arsenal alternativer Behandlungen. Doch es wird ein kurzer Besuch. Die Ärztin sagt direkt: Bei Hodgkin ist Chemotherapie die einzig sinnvolle Behandlung. Der Arzt, der mir die Diagnose gestellt hat, sei eine Koryphäe. Diese Worte bleiben eine Ausnahme.

Wir fahren nach Greiz, am Rand des Erzgebirges befindet sich die „Klinik im Leben“. Sie wirbt viel versprechend mit „Biologischer Krebsmedizin“. Tatsächlich ist die „Klinik“ ein gelbes Mehrfamilienhaus. Uwe Reuter bittet uns herein. Der Arzt hört aufmerksam zu, und dann wirkt es eine Weile, als könne er sich nicht entscheiden, was er mir raten soll.

Die Kosten einer Therapie verleihen ihr Glaubwürdikeit

Ich soll zunächst eine „Diagnosereihe“ in seiner Klinik machen, sagt er dann. Drei oder besser fünf Tage, für rund 1000 Euro. Da seien „elektromagnetische Messungen“ für den „Energiehaushalt einzelner Organe“ inbegriffen. Das helfe bei der Entscheidung für den Behandlungsplan. „Hypnose, Homöopathie, Vitamin- B17-Infusionen“ werden wohl eine Rolle spielen, sagt Reuter. Was er nicht sagt: „Vitamin B17“ ist überhaupt kein Vitamin, sondern ein giftiger Stoff. Anders als die Chemotherapie hat er keinen nachgewiesenen Nutzen bei Krebs.

Reuter redet weiter. Eine „Fiebertherapie“ könne ebenfalls sinnvoll sein. Dabei würden mir abgestorbene Bakterien gespritzt. Zusätzlich zur Chemotherapie oder allein?, frage ich. Diese Entscheidung könne er mir nicht abnehmen, sagt der Arzt, ich soll sie von meinem „Inneren her“ treffen. Reuter schlägt am Ende vor, die Chemotherapie um ein Vierteljahr zu verschieben und mithilfe seiner Therapie „all das beiseitezuschieben, was die Heilung verhindert“ – Giftstoffe, Ablenkungen und Ängste. Die Kosten? Rund 10 000 Euro.

Der Preis erhöhe die Glaubwürdigkeit, kommentiert Hans Josef Beuth, Mikrobiologe an der Universität Köln und einer der führenden Alternativmedizin-Experten. Je mehr ein Patient zahle, desto mehr habe er das Gefühl, dass die Therapie ernst zu nehmen sei. Reuter muss ein sehr ernst zu nehmender Heiler sein. Als wir ihn später konfrontieren, geht er nicht darauf ein, sondern stellt unsere Vorgehensweise infrage: „Inwieweit diese Recherche ethisch und wahr ist, müssen Sie mit sich selbst ausmachen.“

"Ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein"

Auch im 3E-Zentrum in Remshalden bei Stuttgart wird es teuer. Die „medizinische Leitung“ Elke Tegel führt mich durch das lichte Haus, zeigt mir den „Innenweltreiseraum“, in dem traumatische Situationen bearbeitet werden, den Raum, in dem „Heilmusik“ abgespielt werde, und die Maschine für die „Hochfrequenztherapie“, die den Zellen elektrische Energie zuführe. Gesamtkosten: 13 670 Euro für fünf Wochen.

Krebs, sagt die blonde Heilpraktikerin, sei „unterdrückte Wut und unterdrückter Ärger“, gerade bei einem Hodgkin-Lymphom gehe es um Schuld. Sie fragt: „Wo fühlen Sie sich schuldig? Schuldig, ein Mann zu sein?“

Klaus Pertl, Geschäftsführer des 3E-Zentrums, verteidigt sich später schriftlich. Wir hätten nur eine „Hausführung“ gemacht und kein Beratungsgespräch bekommen. Der Preis beinhalte „das gesamte 5-Wochen-Programm plus Abholung von Stuttgart, plus Infusionen und Nahrungsergänzungsmittel.“ Medizinische Beratung könne man nicht erwarten, das Haus sei ein „Seminarzentrum“.

Die Patienten sehen das offensichtlich anders. Wir essen mit ihnen Mittag, bekommen wie sie die „Öl-Eiweiß-Kost“ aus Quark und Nüssen, die Tumoren bekämpfen soll. Die Sonne scheint durch die Fenster, wir schauen auf den Garten voll blühender Obstbäume. Es wird der bedrückendste Moment der Recherche. Tischgespräch ist die Hoffnung auf die Therapie, die Heilmusik, die Innenweltreisen, die Darmspülungen. „Ich habe vieles versucht“, sagt eine Patientin, „aber ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein“. Eine andere hat lange gespart, um sich die Therapie leisten zu können.

Lähmende Angst angesichts der Krebsdiagnose

Ich fühle mich schäbig, will etwas sagen. Aber wer bin ich, diesen Menschen die Hoffnung zu nehmen? Natürlich ist die Krebsmedizin nicht allmächtig, auch sie scheitert ständig an der Krankheit. Sie ist menschlich, macht Fehler, hat finanzielle Interessen, verwirft sicher Geglaubtes, lernt hinzu – nach ausgiebiger Prüfung und Forschung. Die alternativen Methoden entbehren dagegen meist jeder Plausibilität. Sie stützen sich auf Wunschdenken und Anekdoten. Und auf Angst. Es ist diese lähmende Angst angesichts der Krebsdiagnose, die ich in den dürren Gesichtern meiner Tischgenossen sehe. Die Angst vor dem Tod, die sich uns an jede scheinbar einleuchtende Erklärung klammern lässt, an jeden möglichen Sinn. An jede noch so vage Hoffnung auf Heilung.

- Hristio Boytchev ist Redakteur des Recherchezentrums correctiv.org. Correctiv finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Die Redaktion gibt Recherchen grundsätzlich kostenlos an Medien ab, ist unabhängig und nicht gewinnorientiert.

Hristio Boytchev, Correctiv

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