Medizin: „Der Krebs gehört zu uns“
Hoffnung und Hybris: Der New Yorker Arzt Siddhartha Mukherjee hat eine Biografie der Krankheit verfasst. Er nähert sich dem Krebs über die, die gegen ihn kämpfen.
Es war eine einfache Frage, die den jungen Krebsmediziner in Verlegenheit brachte. Der Magentumor seiner Patientin war abermals zurück. „Ich kämpfe weiter“, sagte sie. „Aber vorher muss ich wissen, gegen was ich antrete.“ Siddhartha Mukherjee hatte keine Antwort parat.
Das war 2004, Mukherjee absolvierte seine Facharztausbildung in einem der besten US-Krankenhäuser, dem Mass General in Boston. Der klinische Alltag auf der Krebsstation, der Onkologie, die Schicksale seiner Patienten – er war so nah dran, dass er die Details in Leuchtfarben sah, dabei jedoch das Gesamtbild aus den Augen verlor: Wo stehen wir im Krieg gegen den Krebs? Wie alt ist diese Krankheit? Was ist ihr Wesen? Es gibt tausende Krebsbücher, doch keines beantwortet diese Fragen, fand Mukherjee.
Er schrieb das Buch selbst – quasi nebenbei – und eroberte damit nicht nur die Bestsellerlisten in aller Welt, sondern gewann 2011 auch den Pulitzer-Preis für das beste Sachbuch. Nun ist „Der König aller Krankheiten“ im Dumont Buchverlag auf Deutsch erschienen.
670 Seiten Krebs, noch dazu von einem Wissenschaftler geschrieben, das verheißt schwere Kost. Siddhartha Mukherjee ist mit seinem Erstlingswerk jedoch ein Kunststück gelungen: ein spannendes, elegant geschriebenes und kenntnisreiches Buch, das in der Tradition des erzählenden Journalismus steht. Der amerikanische Autor Gay Talese hat 1966 auf legendäre Art und Weise Frank Sinatra porträtiert, obwohl er nie mit dem Star selbst, sondern nur mit seiner Entourage sprechen durfte („Frank Sinatra has a cold“). Ähnlich geht Mukherjee vor. Die Hauptperson dieser Biografie ist kapriziös, sie gibt keine Interviews. Mukherjee nähert sich dem Krebs über die, die gegen ihn kämpfen.
Darunter sind Patienten wie die persische Königin Atossa, die 500 vor Christus den blutenden Knoten in ihrer Brust von einem Sklaven herausschneiden ließ. Oder die Kindergärtnerin Carla Reed, die sich im Boston unserer Tage mit letzter Kraft gegen ihre akute myeloische Leukämie zur Wehr setzt. Dominiert wird das Buch allerdings von minutiös recherchierten Geschichten der Krebsforscher und Lobbyisten, von ihrer Hoffnung und Hybris, den Sackgassen und Irrtümern, Grabenkämpfen und Durchbrüchen.
„Wir stellen uns Krebs als Geißel unserer Zeit vor“, sagt Mukherjee. „Das ist falsch. Krebs gehörte immer zu uns. Er wird heute sichtbarer, weil wir andere Krankheiten heilen können. Die Menschen werden älter und damit steigen ihre Chancen, an Krebs zu erkranken.“
Was sich wandelt, ist unsere Vorstellung von Krebs. Der griechische Arzt Claudius Galen war davon überzeugt, dass der Übeltäter ein Übermaß schwarzer Galle sei. Einen Knoten herauszuschneiden, ist dieser Logik zufolge sinnlos. Vielmehr müsse das Gleichgewicht der Säfte wiederhergestellt werden. Seine Lehren hielten sich mehr als 1300 Jahre – bis der Anatom Andreas Vesalius 1530 partout keine schwarze Galle finden konnte, als er anhand von Leichenteilen den menschlichen Körper kartierte.
In den folgenden Jahrhunderten schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Der Tumor muss raus, koste es, was es wolle, meinte der amerikanische Chirurg William Stewart Halsted. 1877 tourte er zur Ausbildung durch Europa und sah den Großen seiner Zeit über die Schulter, darunter auch Richard von Volkmann, der in Halle eine Methode entwickelte, um Brustkrebs zu operieren. Doch der Krebs kam immer wieder, Volkmann stand vor einem Rätsel. Für Halsted war die Lösung klar: Offenbar seien an den Rändern einzelne Krebszellen zurückgeblieben, so wie es der englische Chirurg Charles Moore vermutete. Man müsse mehr herausschneiden. Viel mehr. Mitleid mit den Frauen sei fehl am Platze.
1894 wagte er es erstmals an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, einer Krebskranken die Brüste abzuschneiden und zusätzlich die Achselhöhlen bis zum Schlüsselbein auszuschälen. Fortan galt es jahrzehntelang als chirurgische Lehrmeinung: Beim Mammakarzinom müssen Brüste und die darunterliegenden Muskeln radikal entfernt werden. Gleichgültig, wie groß der Tumor ist.
Viel hilft viel, das ist ein Thema, das sich in der Geschichte der Krebsbehandlung wiederholt, egal ob es nun um die Operationen, die Chemotherapie oder die Bestrahlung geht. Wiederkehrend ist auch die Hoffnung, es gebe die eine Wunderwaffe gegen jeden Krebs.
Inspiriert durch erste Erfolge der Chemotherapie verbündeten sich der amerikanische Wissenschaftler Sidney Farber und die Lobbyistin Mary Lasker, um dem Staat einen Forschungsetat abzutrotzen. „Mr. Nixon, Sie können Krebs heilen“, rief eine ganzseitige Anzeige in der „New York Times“ dem Präsidenten zu. Erfolgreich, Nixon erklärte 1971 dem Krebs den Krieg. Innerhalb der nächsten 25 Jahre solle die Krankheit heilbar sein. Der Termin verstrich; Krebs ist immer noch da.
Es gibt ihn nicht, den einen Krebs, betont Mukherjee. Hinter dem Sammelbegriff verbergen sich hunderte Krankheiten. In Anlehnung an den ersten Satz aus „Anna Karenina“ schreibt Mukherjee: „Normale Zellen sind einander ähnlich; aber jede bösartige Zelle wird unglücklicherweise bösartig auf ihre eigene Art.“
Anders als in den 70er Jahren beginnen wir, mithilfe von Genetik und Grundlagenforschung, die Biologie der verschiedenen Krebsarten besser zu verstehen: „Jetzt können wir nach den jeweiligen Achillesfersen suchen, bestimmte Signalwege der Zellen gezielt angreifen“, sagt Mukherjee. Zielgerichtete Medikamente wie „Glivec“ und „Herceptin“ seien erst der Anfang. „Die Geschichte lehrt uns, dass wir uns trotzdem einen skeptischen Blick bewahren müssen – auf die Schulmedizin genauso wie auf neue Lösungen. Die Menschen hegen große Hoffnungen. Wir Ärzte sollten ihnen sagen, was wir wissen und was nicht. Manchen Krebs können wir heilen, andere vermeiden. Manche Patienten können lange mit ihrem Krebs leben. Aber wir können uns nicht von jedem Krebs befreien.“
Mukherjees Buch hilft dabei, diese Skepsis zu entwickeln. Mit unzähligen Geschichten macht er deutlich, wie Wissenschaft – dieses Gebäude aus Versuch und Irrtum – funktioniert. Er vermeidet Jargon und schafft es, selbst Molekularbiologie in verdaubarer Menge einzuschmuggeln und statistische Fallstricke zu erklären. Sein Fokus liegt zweifelsohne auf der Forschung in Amerika, wo er an der Harvard Medical School ausgebildet wurde und mittlerweile Assistenzprofessor an der Columbia-Universität in New York ist. Dort hatte er Zugriff auf Quellen und Zeitzeugen. Sein Thema jedoch ist universal.
Ihn selbst lässt der Krebs nie ganz los. Als gegen Ende der Facharztausbildung im Sommer 2005 seine erste Tochter geboren wurde, stand er nicht nur als Vater, sondern auch als Onkologe im Kreißsaal – gekleidet wie ein Chirurg, eine lange Spritze in der Hand. Er freute sich nicht nur über sein Kind, er war auf einen weiteren Schatz aus: die Blut-Stammzellen in der Nabelschnur. Für das gerade geborene Kind waren sie nutzloser Abfall, für seine Leukämiepatienten womöglich der Unterschied zwischen Leben und Tod.
- Siddhartha Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Dumont Buchverlag, 2012. 670 Seiten, 26 Euro