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Krebszelle, die von Killerzellen angegriffen wird
© Steve Gschmeissner / Science Photo Library

Immuntherapie gegen Krebs: Die entfesselte Abwehr

Einst Todkranke leben jahrelang weiter: Die Immuntherapie weckt bei Krebspatienten große Hoffnungen. Aber sie hilft längst nicht jedem. Eine vorläufige Bilanz.

Erschöpft sitzt Stefanie Seltmann am Schreibtisch. Seit Tagen stehen die Telefone nicht still. Weder im Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, wo der Schreibtisch der Sprecherin steht, noch im benachbarten Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) oder beim Krebsinformationsdienst. Krebspatienten, deren Freunde oder Angehörige fragen nach der Behandlung, „über die die Medien berichteten. Mit dem jungen Mann, für den es vor einem Jahr keine Hoffnung gab und der doch noch lebt.“ Das Dumme ist nur: Die Therapie gibt es offiziell noch gar nicht. Nicht in Deutschland. Nicht für jeden.

Der Mann, von dem die Anrufer sprechen, heißt Georgios Kessesidis. Mit seinen 27 Jahren ist er ausgesprochen jung „für einen Menschen mit einer derart aggressiven Krebsgeschwulst“, sagt sein Arzt. Ein nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom, das er „bei einem 70-jährigen Raucher“ vermuten würde. Die bösartigen Zellen verteilen sich willkürlich über die Lunge. Deshalb nahm der Hausarzt monatelang an, Kessesidis leide an Asthma, bevor er ihn zum Lungenfachmann schickte. Geht es nach den Krebsüberlebensstatistiken, sollte er längst tot sein.

Ist er aber nicht. Ziemlich lebendig steht Kessesidis Ende Januar in einem Seminarraum des Krebsforschungszentrums (DKFZ) und erzählt, warum es ihm gut geht. Er probiere eine neue Therapie aus, die sein Abwehrsystem angriffslustig macht. Es soll sich gegen die Krebszellen richten – so, wie es sonst Eindringlinge wie Bakterien oder Viren bekämpft.

Der Arzt verkündet eine "neue Ära der Krebsmedizin"

Mit Immuntherapien wollen Ärzte den Krebs langfristig kontrollieren. Die Realisten sprechen nicht mehr von gewonnen Monaten, sondern von Jahren, Optimisten sogar von Heilung. Zunächst für einige Patienten, die an aggressivem Haut-, Lungen-, vielleicht auch Blasen- oder Nierenkarzinomen leiden. Später sollen weitere Krebsarten nach dem gleichen Prinzip behandelt werden. Auch Dirk Jäger, Leiter der Medizinischen Onkologie am NCT und Kessesidis’ Arzt, verkündete eine „neue Ära der Krebsmedizin“, als er seinen Patienten der Presse vorstellt. Das Fachblatt „Science“ kürte die Immuntherapie 2013 zum „Durchbruch des Jahres“. Wie heikel solche Botschaften sind, zeigen kurze Zeit später die Anrufe verzweifelt hoffender Patienten. Seltmann und ihre Kollegen müssen immer wieder erklären, dass Kessesidis’ Geschichte ein Einzelfall und nicht die Regel sei. Und dass keine Studienplätze für Patienten mehr frei seien.

Schon 1960 glaubte der Präsident der Amerikanischen Krebsgesellschaft, Warren Cole, Krebs könne „bald von der Liste der Krankheiten mit hohen Todeszahlen gestrichen werden“. Ein frommer Wunsch. Auch US-Präsident Lyndon B. Johnson irrte, als er fünf Jahre später meinte, „wir werden diese Krankheit besiegen – nicht in Jahrtausenden, nicht in Jahrhunderten, sondern in den nächsten Jahrzehnten“.

Die Realität sieht anders aus. Krebs ist nach wie vor die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Etwa 1,5 Millionen Menschen leben hierzulande mit bösartigen Geschwulsten. Etwa 220 000 werden 2015 an ihren Karzinomen sterben. Wie kommt es also, dass sich Mediziner dennoch zu verheißungsvollen Aussagen hinreißen lassen? Sie glauben, endlich einen Weg gefunden zu haben, wie die Körperabwehr den Tumor loswerden kann.

Der Tumor legt die Abwehr in Ketten

Je länger eine Krebsgeschwulst wächst, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie das Immunsystem manipulieren kann: Irgendwann macht sich der Tumor förmlich unsichtbar, mit immer neuen Tricks. So verhindert er zum Beispiel, dass Abwehrzellen überhaupt von den Blutgefäßen aus zu ihm vordringen können. Oder er bremst die Todesschwadronen der Abwehr, die T-Zellen, aus.

Eine solche Bremse ist CTLA-4. Wie Antennen sitzen diese Rezeptoren auf den T-Zellen. Können sie im Lymphknoten bei einer anderen Zelle andocken, heißt das für die Killerzellen: „Kein Angriff!" und die Abwehrreaktion wird beendet. Derartige Kontrollpunkte (Checkpoints) schützen den Körper vor übereifrigen Truppen. James Allison, der heute am Anderson Cancer Center in Houston forscht, erkannte die Bedeutung dieses Kontrollpunktes Anfang der 90er Jahre. Er kreierte einen Antikörper, der den Rezeptor blockiert und damit die Bremse löst. Die Killerzellen vermehren sich und können den Krebs bekämpfen. Der Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb (BMS), der den Antikörper unter dem Namen Ipilimumab weiterentwickelte, berichtete 15 Jahre später von Patienten, die trotz eines aggressiven und metastasierten schwarzen Hautkrebses durchschnittlich mehr als zehn Monate überlebten.

„Das war eine Sensation“, sagt Peter Mohr, Dermatologe an den Elbe-Kliniken in Buxtehude. Musste er doch bis dahin hilflos zusehen, wie seine Patienten oft binnen sechs Monaten starben. „Inzwischen leben sie zwei, drei und mehr Jahre mit dieser Therapie“, sagt Mohr. „Bei einigen würde ich von Heilung sprechen.“ Er selbst hat mehr als 500 Hautkrebskranke so behandelt. Groben Schätzungen zufolge floss Ipilimumab insgesamt 10 000 Menschen durch das Blut.

Der Eingriff in das Immunsystem ist nicht ungefährlich

Doch an einem Drittel der Patienten geht die Therapie nicht spurlos vorbei. Denn die gelöste Bremse kann eine Attacke auf Zellen in Organen des Körpers ermöglichen. Etwa in der Haut, die sich rötet oder entzündet, wenn die Killerzellen sie bekämpfen. Das sei meist gut in den Griff zu bekommen, sagt Mohr. „Schlimmer ist, wenn die Hirnanhangdrüse angegriffen wird oder der Darm.“ Wird das nicht erkannt, bohren die Abwehrzellen die Darmwand von innen auf. Deshalb schärft er jedem Patienten ein, bei Durchfall sofort in die Klinik zu kommen. Er fordert, dass diese Immuntherapie nur in die Hände von Ärzten gehört, die die ersten Anzeichen einer Autoimmunreaktion deuten können. „Dann ist sie auch sicher“, sagt er. Die Alternative für die Patienten hieße Sterben.

Langsam verschwindet der Krebs

CTLA-4 ist nicht der einzige Kontrollpunkt auf den Killerzellen, der als Bremse wirkt (siehe Grafik). Es gibt viele weitere. Auch PD-1 – kurz für: progammierter Zelltod (programmed death) – unterbindet gewöhnlich ungewollte Immunreaktionen. Tumoren nutzen das, sie legen mit einer Täuschung die T-Zellen kurz vor ihrem Ziel in Ketten. Neue Wirkstoffe blockieren entweder die Kontaktstelle an der T-Zelle (PD-1) oder die am Tumor (PD-L1). So wie die Antikörper, die alle zwei Wochen für eine Stunde ins Blut von Georgios Kessesidis tröpfeln und die Fesseln seiner Killerzellen lösen.

„Zuerst ging das Wasser in der Lunge zurück, ich konnte wieder atmen“, sagt er. Nun verschwindet langsam der Krebs. „Das zeigt, dass das Abwehrsystem den Tumor als Feind erkennt und bekämpft“, erklärt Dirk Jäger, sein Arzt. Kein Fieber, kein Haarausfall, keine Übelkeit plagen den Patienten. Im Vergleich zur Chemotherapie ginge es ihm gut, sagt Kessesidis. Tatsächlich zeigen Studien bisher, dass die PD-1 und PD-L1-Antikörper verträglicher als alle Alternativen sind. Wohl weil sie direkt am Tumor ansetzen, glauben Experten.

Vier von fünf Patienten helfen die neuen Therapien nicht

Bislang wurden drei Checkpoint-Therapien in den USA zugelassen – im Schnellverfahren. Nur sechs Tage statt mehrerer Wochen benötigte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Juni letzten Jahres, um dem PD-1-Hemmer Nivolumab von BMS das Okay zu geben. Auch die Wirkstoffe von Merck und Roche bekamen „Durchbruch-Zulassungen“. Weil die Wirkung in kurzer Zeit überzeugend war, verzichtete man aus ethischen Gründen auf eine Kontrollgruppe. Eine große Studie der Phase III, die über Jahre das Schicksal von mehr als 100 Teilnehmern dokumentiert, steht noch aus. „Dabei tritt die Frage nach den Langzeitfolgen bei derart tödlichen Krebsarten in den Hintergrund“, sagt Stefan Endres, Leiter der klinischen Pharmakologie an der Universität in München. Das könnte sich ändern, wenn mehr Patienten Immuntherapien bekommen.

Ungeklärt ist auch die Frage, warum sie bei vier von fünf Patienten versagen. Unter Hochdruck suchen Mediziner und Wissenschaftler nach Zeichen, die vorhersagen, ob eine Therapie wirkt. Erste Hinweise finden sie inzwischen bei der Arglist der Tumoren. Schafft es die Geschwulst, T-Zellen erst gar nicht zu sich vordringen zu lassen, läuft die Immuntherapie ins Leere. Das trifft immerhin auf etwa 50 bis 60 Prozent der Tumoren zu. Nun versuchen Ärzte, mit Strahlen- oder Chemotherapie beziehungsweise einer Kombination zweier Immuntherapien den Tumor so zu verwunden, dass er selbst Killerzellen anlockt. „Vielleicht erreichen wir mit solchen Kombinationen, dass die Hälfte oder mehr Patienten über eine lange Zeit auf die Therapie ansprechen“, sagt Hautkrebsspezialist Mohr.

Goldgräberstimmung in der Pharmaindustrie

Eine weitere rätselhafte Beobachtung: Menschen, deren Tumoren sich rasch verändern, profitieren eher von den Immuntherapien. Bisher gehörten bösartige Geschwulste mit großer genetischer Variabilität zu den gefährlichsten Krebsarten, denn sie fanden immer Wege, einer Therapie zu entkommen. Die Industrie ignorierte sie wegen mangelnder Erfolgsaussichten. Nun werden sie interessant. Analysten gehen von einem Markt von bis zu 35 Milliarden US-Dollar aus, zumindest wenn die Mittel nicht „zu gut“ wirken. Sie meinen, in den nächsten zehn Jahren würden 60 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittenem Krebs mit den teuren Immuntherapien behandelt. Eine Vision, die die Gesundheitssysteme vor große Probleme stellen würde.

Tatsächlich sei eine Goldgräberstimmung in der Pharmaindustrie ausgebrochen, sagt Ottmar Wiestler, Vorstandsvorsitzender des DKFZ. Pfizer etwa kooperiert mit dem Tübinger Unternehmen immatics. Hans-Georg Rammensee, Immunologe an der Universität Tübingen und Leiter der Firma, gelang das scheinbar Unmögliche: Er entwickelte eine therapeutische Impfung gegen Nierenkrebs, die dem Immunsystem beibringt, den Krebs künftig zu bekämpfen. Das Prinzip ist auf andere Tumorarten übertragbar (siehe Grafik). Der Impfstoff durchläuft derzeit die letzten Zulassungsstudien. Novartis arbeitet hingegen mit der Universität von Pennsylvania zusammen. Dort wurde im Jahr 2012 Medizingeschichte geschrieben. Ihre Helden sind ein Professor namens Carl June und ein neunjähriges Mädchen.

Emily starb fast an den Folgen der Therapie. Doch nun ist sie krebsfrei

Vor zwei Jahren war Emily dem Tod näher als dem Leben. Sie hatte Blutkrebs, eine Akute Lymphoblastische Leukämie. Jede Therapie versagte. Als es keine Hoffnung mehr gab, entschieden sich Emilys Eltern zu einem sehr riskanten Schritt: Sie ließen die Ärzte um Carl June die Abwehrzellen ihrer Tochter gentechnisch manipulieren. Im April 2012 wurden Emily Millionen T-Zellen entnommen. Im Labor schleusten die Forscher neue Gene in deren Erbgut ein. Sie ermöglichten es den Killerzellen, den Krebs zu bekämpfen, da sie nun jene Art weißer Blutkörperchen erkannten, die bei Leukämie entarten. Die so abgerichteten T-Zellen injizierten die Ärzte zurück in Emilys Blutbahn – ähnlich wie bei einigen hundert anderen Patienten. Den meisten hilft die Therapie. Einige gelten als geheilt.

Trotzdem ist es nur ein Anfang. Denn die Nebenwirkungen wären Emily beinahe zum Verhängnis geworden. Die Serienkiller in ihrem Körper waren so aktiv, dass sie eine kaum kontrollierbare Entzündungsreaktion auslösten, einen Zytokinsturm. Neuartige Rheumamittel konnten die Selbstzerstörung gerade noch stoppen. Emily lebt seitdem krebsfrei.

Darf man also von einem Durchbruch sprechen? Für Patienten wie Georgios Kessesidis, Emily und andere mit Haut-, Lungen-, Nieren- und Blasentumoren ist das naheliegend. Die meisten Krebskranken durchleben aber das altbekannte Schema: Operation, Bestrahlung, Chemotherapie. Stefan Frings, Medizinischer Direktor bei Roche Deutschland, glaubt an den einen Erfolg der Immuntherapien. Doch auch er sagt: „Bis wir diese Patienten erreichen, und dafür gibt es keine Garantie, werden nicht zwei, sondern eher zehn Jahre vergehen.“

Edda Grabar

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