Was die lebenswichtigen Zellprozesse ermöglicht: Die neue Biologie der Tröpfchen
Es ist eine Entdeckung, die das Verständnis der Zelle revolutioniert. Die erste Firma, die das neue Wissen für neue Therapien nutzt, kommt nun nach Berlin.
Fast schon hatte Phil Sharp aufgeben wollen. Jahrzehntelang hatte der Nobelpreisträger und Biochemie-Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge nach der Lösung einer der wichtigsten Fragen der Biologie gesucht: Wie schaffen es all die Millionen verschiedenen Moleküle in einer Zelle, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – etwa um die Erbinformation in den Genen abzulesen?
Hunderte und Tausende von Proteinen hatten Sharp und andere Forscher über die Jahre identifiziert, die zusammenarbeiten müssen, damit die vielen lebenswichtigen chemischen Reaktionen ablaufen können. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Zellinneren alle zufällig zueinanderfinden, ist gleich null. „Ich hatte mich im Grunde schon von der Sache abgewendet, weil ich mir einfach keinen Reim auf all das machen konnte“, sagt Sharp.
Eine neue Biologie, eine neue Firma - in Berlin
Doch dann machte ein britischer Forscher in Dresden eine Entdeckung, die alles änderte. Ein wissenschaftlicher Durchbruch, wie er nur sehr selten passiert, die Aufdeckung eines Phänomens, das Sharp zufolge „das Herz praktisch jeglicher biologischer Vorgänge“ ist. Und auf dieser Grundlage will das in Boston und Dresden neu gegründete Biotech-Unternehmen Dewpoint eine völlig neue Art von Medikamenten entwickeln – und zwar nach Tagesspiegel-Informationen jetzt auch in Berlin, auf dem Gelände der Pharmafirma Bayer, die Dewpoint mit 90 Millionen Euro unterstützt.
Praktisch jede Aufgabe in einer Zelle wird von Dutzenden, mitunter Hunderten oder Tausenden von Proteinen und anderen Molekülen erledigt, die wie die Arbeiter und Maschinen einer Autofabrik agieren. Doch während am Fließband alles seinen Platz und jeder Handgriff seine Zeit hat, war es Zellbiologen bislang ein Rätsel, wie die wild im Zellplasma umhertreibenden Proteine zusammenfinden, um gemeinsam und aufeinander abgestimmt die lebensnotwendigen Prozesse durchzuführen.
Die Lehrbücher der Biochemie drückten sich bislang um eine Antwort. Dabei ist sie essenziell wichtig: Wenn ebendiese Zusammenarbeit nicht funktioniert, sind Krankheiten die Folge – Alzheimer, Parkinson, Krebs und andere. Und wer des Rätsels Lösung kennt, könnte einschreiten und neue Therapien dagegen entwickeln. „Tony war es, der die entscheidende Beobachtung machte“, sagt Sharp.
Gemeint ist Anthony Hyman, ein Brite, der beinahe gar kein Forscher geworden wäre. Als er nach der High School, wo er eher nicht brillierte, für 30 Pfund pro Woche am University College in London jobbte, ließ ihn einer der Forscher durchs Mikroskop schauen und ein Experiment versuchen. An einem Freitagabend, als alle Labormitarbeiter in den Pub aufbrachen, blieb Hyman lieber am Mikroskop sitzen, um sein Experiment zu beenden.
In den Tröpfchen hundert- bis tausendfach höher konzentriert
Seitdem ließ ihn die Faszination für das, was lebende Zellen ausmacht, nicht mehr los. Hyman studierte Biologe, forschte, wurde Direktor am Dresdner Max-Planck-Institut für Zellbiologie und Genetik und machte dort die entscheidende Entdeckung: So wie sich die fein verteilten Wassermoleküle aus der Luft auf einem Blatt oder an einer kalten Fensterscheibe in Form eines Tropfens absetzen, so kondensieren in der Zelle auch die fein verteilten Proteinmoleküle unter bestimmten Bedingungen zu winzigen Tröpfchen.
Ähnlich wie sich Essigtropfen vom umgebenden Öl absetzen, trennen sich dabei zwei flüssige Phasen. Entscheidend bei dieser Phasentrennung ist: In den Tropfen sind die Proteine hundert- bis tausendfach höher konzentriert als außerhalb im Zellplasma. Erst dadurch werden die lebenswichtigen chemischen Prozesse überhaupt möglich.
„Die Frage, wie biologische Makromoleküle organisierte Ansammlungen bilden, stellte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, schrieb Hyman 2012 in einem viel beachteten Artikel für das Fachblatt „Science“. Schon damals beobachteten Biologen im Inneren von Zellen „dicht gepackte flüssige Kolloidpartikel“ – diverse Tropfen, separiert vom übrigen flüssigen Zellplasma, ohne aber ihre Rolle oder Entstehung zu verstehen.
Manche tauchen nur auf, wenn die Zelle in Stress gerät, andere („P-Granulen“ genannt) bereiten die Entwicklung von Keimzellen vor, und wie Sharp und andere Forscher inzwischen herausgefunden haben, gibt es solche winzig kleinen Tröpfchen auch im Zellkern, wo sie das Abschreiben der Geninformation aus dem Erbgut bewerkstelligen.
Dutzende solcher kugeliger Tropfen mit unterschiedlichsten Funktionen driften durch Zellen. Schätzungsweise 30 Prozent des Volumens eines Zellkerns besteht aus Kondensaten, die für das Abschreiben der Geninformation (der Transkription) und andere dort zu erledigende Prozesse nötig sind. Aber erst seit ein paar Jahren stehen die Techniken zur Verfügung, um zu verstehen, wie die Tröpfchen zustande kommen.
Das Prinzip der Nudel
Nach vielen Beobachtungen mit speziellen Mikroskopie-Verfahren, mit denen sich einzelne Proteine in lebenden Zellen verfolgen lassen, und etlichen Experimenten dämmerte es Hyman und seinem Team: Offenbar kondensieren immer solche Proteine zu einem Tropfen, die eine bestimmte Struktur gemeinsam haben, sogenannte „IDRs“, Intrinsisch Desorganisierte Regionen. Diese „Domänen, die im gesamten Protein-Universum reichlich vorhanden sind, haben Biologen lange verwirrt, aber unsere Experimente unterstützen die Idee, dass sie sich entwickelt haben, um das Entmischen von flüssigen Phasen zu ermöglichen“, so Hyman.
Offenbar lagern sich diese Molekülschwänze, die IDRs, aneinander, haften dabei aber nur sehr schwach – „wie Nudeln“, sagt der Biochemiker und Biophysiker Denes Hnisz, der die Kondensate am Max- Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin-Dahlem erforscht. So wie Nudeln im heißen Wasser manchmal verklumpen, so lagern sich auch die „Nudel“-Domänen der Proteine, die IDRs, in der Zelle aneinander und bilden plötzlich eine eigene flüssige oder auch gelartige Phase inmitten des Zellplasmas. Diese „Phasenseparation“ bildet den Proteintropfen, das „Kondensat“.
Ein fundamentales biologisches Prinzip - das bisher übersehen wurde
„Wir sehen diese Kondensat-Biologie überall in der Zelle“, sagt Sharp. „Es ist ein fundamentaler Faktor in biologischen Systemen und wird ständig benutzt in menschlichen Zellen.“ Sie spielen eine Rolle in den Nervenenden, den Synapsen, die Signale weiterleiten; sie sind nötig für die Verdopplung des Erbguts bei der Zellteilung; und sie sind in das Ablesen der Geninformation, die Transkription, involviert, die Sharp schon so lange Zeit erforscht.
„Wir denken seit Jahrzehnten darüber nach, wie Transkription funktioniert“, sagt Sharp. Und nie habe er eine Erklärung finden können, wie all die nötigen Bestandteile für die Transkriptionsmaschinerie zusammenkommen. „Kondensate, die Tautropfen in der Zelle, scheinen die Antwort zu sein.“ Und wenn man erst verstehe, wie genau Kondensate gebildet und aufgelöst werden, dann könne man auch Wirkstoffe entwickeln, die diese Prozesse hemmen oder stimulieren – um Krankheiten zu bekämpfen.
Denn offenbar hängen Kondensate mit krankhaften Veränderungen in der Zelle zusammen. So können die eigentlich flüssigen Kondensate mitunter einen weiteren Phasenwechsel durchlaufen und einen festen Zustand annehmen. Das scheint in Nervenzellen von Alzheimer- Patienten zu den bekannten Beta-Amyloid-Plaques zu führen. „Wir beobachten hier wahrscheinlich eine Reihe von Prozessen, die die Amyloid-Entstehung erklären könnten“, sagt Sharp.
Defekte Kondensat-Tröpfchen sind Ursache von Krankheiten
Denes Hnisz ist aufgefallen, dass es eine ganze Reihe von Erbkrankheiten gibt, deren ursächliche Genmutationen Veränderungen in den IDRs, den Nudel-Abschnitten von Proteinen, verursachen. „Die Mutationen, die die Patienten krank machen, stören offenbar das Formen der Kondensate“, sagt Hnisz. Es gebe grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie Kondensate mit der Entstehung von Krankheiten in Verbindung gebracht werden können.
Die eine lässt sich beschreiben anhand des Proteins FUS. Patienten mit ALS – der Nerven zerstörenden Amyotrophen Lateralsklerose, unter der etwa der Physiker Stephen Hawking litt – haben meist Veränderungen in diesem FUS-Protein. Bislang wusste man nicht, warum das zu ALS führt, doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass dadurch bestimmte Kondensat-Tröpfchen in den Nervenzellen der Patienten statt flüssig eher gelartig werden und teilweise geradezu versteifen.
Ein anderer Weg zur Krankheit wird eingeschlagen, wenn die „Nudelabschnitte“ dutzend- oder hundertfach wiederholt werden – wie etwa bei der Erbkrankheit Huntington, die auch als „Veitstanz“ bekannt ist und tödlich verläuft. Bei zu vielen IDR-Wiederholungen gerät die Zusammensetzung der Kondensate durcheinander, was deren Funktion beeinträchtigt und zur Krankheit führt.
Die Krankheit dort bekämpfen, wo sie entsteht
In beiden Fällen können Veränderungen der Proteine beteiligt sein, die die Klebeeigenschaften der „Nudel“-Abschnitte verändern, Und solche chemischen Veränderungen lassen sich offenbar rückgängig machen. „Wir haben ein paar Moleküle gefunden, die ein falsch zusammengesetztes Kondensat in eines verwandeln konnte, das wie ein normales aussieht“, sagt Hnisz. Ob daraus irgendwann eine Therapie für Krankheiten wie ALS, Alzheimer oder gar Krebs werden kann, sei jedoch offen. „Aber die Idee ist, dass wir damit die Krankheit dort angreifen, wo sie ursächlich entsteht.“
Auch die Firma Dewpoint sucht nach Arzneien, die in die Kondensat-Biologie eingreifen und auf diesem Wege Krankheiten wie Alzheimer heilen oder zumindest verlangsamen könnten. Richard Young, Direktor am Whitehead Institute in Cambridge und mit Tony Hyman Gründer von Dewpoint, ist überzeugt, dass die Wirkstoffbanken „außerordentlich reich“ an Substanzen sind, die Kondensate beeinflussen können. Bisher habe das nur nie jemand überprüft.
Wer die Entstehung von Kondensaten steuern kann, kann Krankheitsverläufe beeinflussen
„Kondensate werden in faszinierender und komplexer Art und Weise von den klassischen Regulatoren biologischer Funktionen gesteuert: Kinasen, Phosphatasen, Ubiquitasen, also all diesen Enzymen, die in den vergangenen 50 Jahren als wichtige Regulatoren in der Biologie erkannt worden sind", sagt Young. Sie alle verändern Proteine, vor allem die Nudelabschnitte der Proteine, so, dass sie die „Klebeeigenschaften“ modulieren und damit die Fähigkeit der Proteine, ein Kondensat zu bilden oder Teil eines Kondensats zu werden. „In anderen Worten, sie kontrollieren die Zusammensetzung der Kondensate“, sagt Young, in dessen Labor Denes Hnisz Kondensate zu erforschen begann,. Schon jetzt gebe es eine ganze Reihe von Substanzen, mit denen sich diese Enzyme beeinflussen lassen.
Ein anderes Mittel, um Kondensate zu beeinflussen, könnten RNA-Moleküle sein, der DNA verwandte Nukleinsäuren. „Kondensate enthalten fast immer auch RNA“, sagt Young. „Sie spielen sogar eine ziemlich wichtige Rolle für das Verhalten der Tröpfchen.“ Die Menge der RNA-Moleküle in den Kondensaten zu verändern oder deren Eigenschaften im Tropfen, „könne ein vernünftiger Weg zu einer Therapie“ sein, meint Young.
Auch Phil Sharp, der Dewpoint wissenschaftlich berät, sieht das so: Biologen werden RNA nutzen, um die Funktion der Kondensate zu verändern und damit besser zu verstehen, wie sie funktionieren und zur Entstehung von Krankheiten beitragen. Denn so faszinierend die neue „Kondensat-Biologie“ auch sei, den Kinderschuhen sei sie noch nicht entwachsen, sagt Sharp, sie sei weit davon entfernt, „reif“ zu sein.