Krebsentstehung: Krebs ist der Preis, den Säugetiere zahlen
Tumorzellen nutzen ein Entwicklungsprogramm, das normalerweise Plazenta-Gewebe hervorbringt
Sie wachsen und vermehren sich rasant. Sie nisten sich in fremdes Gewebe ein. Sie bilden neue Blutgefäße aus. Und sie manipulieren sogar das Immunsystem, um der Körperabwehr zu entgehen. Nein, die Rede ist nicht von Krebs-, sondern von Zellen des Mutterkuchens (Plazenta). Jenes einzigartigen Gewebes, das den Embryo in der Gebärmutter verankert und mit Nährstoffen aus dem Blutkreislauf der Mutter versorgt.
Offenbar ist es kein Zufall, dass Krebszellen ähnliche Eigenschaften besitzen wie die für die Ernährung aller Säugetierembryonen so wichtigen Plazentazellen. Sie nutzen das gleiche Entwicklungsprogramm, berichtet eine Forschergruppe um den Stammzellbiologen Alexander Meissner vom Max-Planck-Institut in Berlin-Dahlem im Fachblatt „Nature“.
Viele Zellen, viel Krebs - diese Formel stimmt nicht
Die Entstehung von Krebs ist noch immer rätselhaft. Seit der Biologe Robert Weinberg Anfang der Achtziger Jahre erstmals Gene entdeckte, deren zufällige Veränderung Zellen entarten ließ, ist die wichtige Rolle der Erbanlagen bekannt. Häuft eine Zelle im Laufe der Zeit eine Reihe von Mutationen in solchen „Krebsgenen“ (Onkogenen) an, gerät sie außer Kontrolle, vermehrt sich ungehemmt und ein Tumor entsteht. Krebs wäre demnach eine unheilvolle Kombination von Genen und Zufall.
Doch das allein reicht wohl nicht. Denn Tiere mit sehr vielen Zellen, etwa Elefanten oder Wale, müssten dann deutlich häufiger Krebs haben als Mäuse. Je mehr Zellen, umso höher müsste die Wahrscheinlichkeit sein, dass sich die krebsauslösende Kombination von Onkogenen ergibt. Das ist aber nicht der Fall.
Krebsforscher nennen das „Petos Paradoxon“. Entweder ist der Körper eines Blauwals also in der Lage, die Entstehung von Krebs tausendfach besser zu unterdrücken als der Mensch. Oder es ist nicht allein der Zufall, der Krebs entstehen lässt, sondern ein Entwicklungsprogramm für Zellen, das versehentlich eingeschaltet wird.
Entsteht Krebs nur durch Zufall oder folgen die Zellen einem Programm?
Alexander Meissners Entdeckung stützt diese These nun: Offenbar sind in Krebszellen die gleichen Gengruppen abschaltet wie in den extraembryonalen Zellen, die im Laufe der Entwicklung die Plazenta, die Fruchtblase und die Nabelschnur bilden. Der Zufallsfund eines Grundlagenforschers. Eigentlich beschäftigt sich Meissner gar nicht mit Krebs, sondern untersucht, wie Gene ein- und ausgeschaltet werden müssen, damit aus einer Stamm- eine spezialisierte Zelle wie etwa in der Leber wird.
Diesmal untersuchten die Forscher das Erbgut eines Embryos im Acht-Zell-Stadium und verglichen es mit dem Genom von Zellen aus späteren Entwicklungsstadien vom Tag 3,5 und 6,5 nach Befruchtung. Wohlgemerkt: Es waren Mäuse, die Meissner untersuchte. Allerdings ist die Entwicklung in diesen frühen Phasen der des Menschen sehr ähnlich. Noch vor dem dritten Tag stülpt der junge Mausembryo ein Gewebe aus, dass sich später in Plazenta, Nabelschnur und Fruchtblase verwandelt, das „extraembryonale“ Gewebe. Es schützt den Embryo und versorgt ihn und ist auch in den Augen eines Genforschers außergewöhnlich. Denn in den Zellen sind Gene nach einem Muster ein- und ausgeschaltet, wie es später in der Entwicklung nie wieder vorkommt. Es sei denn, Krebs entsteht.
Stachliges Erbgut
Vom Aktivitätszustand der -zigtausend Gene einer Zelle machte sich Meissner ein Bild, indem er auf dem Erbgutmolekül DNS nach „stachligen“ Anhängseln suchte – Methylgruppen. Ist die Startregion eines Gens voller Methylstachel, ist es meist ausgeschaltet. Fehlt der molekulare Stacheldraht, können Proteine an die DNS heran und das Gen aktivieren.
Meissners Team nutzte das, um in Zellen nachzuschauen, welche Gene ein- und ausgeschaltet waren. Dieses „epigenetische“ Muster unterscheidet sich von Zelltyp zu Zelltyp wie ein Fingerabdruck. In einer Hautzelle sind andere Gene aktiv als in einer Leberzelle. Als der Computer den Forschern nach wochenlanger Arbeit endlich das Aktivitätsmuster der Plazenta präsentierte, stutzten sie. „Wir haben sofort gesehen, dass das Muster der Signatur von Krebszellen ähnelt“, sagt Meissner.
In den Zellen waren die Methylstachel fast vollständig vom Erbgut verschwunden. Nur an bestimmten Stellen, meist auf der Startsequenz einiger hundert Gene, tummelten sich mehr Stacheln als sonst. „Das gibt es sonst in keinem anderen Zelltyp, nur in Krebszellen und eben extraembryonalem Gewebe wie der Plazenta“, sagt Meissner. Und zwar sowohl bei der Maus als auch beim Menschen. 15 von16 Methylierungsprofile verschiedener Krebsarten des Menschen hatten das gleiche Muster.
Krebsforscher müssen umdenken
„Wissenschaftlern ist schon früher aufgefallen, dass Tumore ähnlich wie Plazentazellen in fremdes Gewebe eindringen müssen, das Immunsystem der Mutter überwinden können und weitere Eigenschaften von Krebszellen besitzen“, sagt Meissner. „Aber bislang wurde das auf molekularer Ebene nicht untersucht oder bestätigt.“ Nun dürften Krebsforscher zum Umdenken gezwungen werden.
Bislang nahm man an, dass sich beim Entstehen von Tumoren ein zufälliges Ereignis an das nächste reiht. Allein aufgrund der Menge der Krebszellen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass all jene Genmutationen und sonstigen Veränderungen zusammen kommen, die für eine unaufhaltsame Krebsentwicklung nötig sind. „Die Zellen teilen sich viel, machen mehr und mehr Fehler, so dass Onkogene begünstigt und tumorunterdrückende Gene unterdrückt werden“, sagt Meissner. „Unsere Forschung legt nahe, dass dem womöglich nicht so ist. Offenbar werden bereits sehr früh in der Tumorentwicklung versehentlich Teile des Entwicklungsprogramms eingeschaltet, das extraembryonale Gewebe wie die Plazenta hervorbringt.“ Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass Säugetiere recht häufig Krebs entwickeln. „Offenbar hat die Entwicklung der Plazenta bei Säugetieren ihren Preis, eben eine Anfälligkeit für Krebs, weil dafür ein und dasselbe Entwicklungsprogramm benutzt wird“, vermutet Meissner.
Meissners Entdeckung könnte erklären, warum Krebs nicht nur aufgrund von Strahlung oder Chemikalien ausgelöst wird, die die Abfolge der Genbausteine durcheinander bringen, sondern auch durch ungesunde Lebensweise, Ernährung oder sonstige eher sanfte Umweltfaktoren. „Krebs muss nicht mit einer Genmutation beginnen, sondern auch kann auch durch einen Umweltstimulus entstehen, der das Plazenta-Programm anstößt“, sagt der Forscher. „Weil wir das Programm nun kennen, können wir gezielt nach diesen Faktoren suchen.“
Neue Impulse für Diagnostik und Therapie
Für die Diagnostik und Therapie von Krebs könnte der Zufallsfund Meissners nun neue Impulse geben. „Wenn man das Programm kennt und weiß, dass es sehr früh in der Krebsentstehung eine Rolle spielt, dann lassen sich Tumore besser von normalem Gewebe unterscheiden und früher diagnostizieren“, sagt der Forscher. Allerdings braucht es noch viel Forschung.
Das gilt umso mehr für neue Therapieansätze, die sich aus den Ergebnissen entwickeln lassen. Stellt sich das Entwicklungsprogramm tatsächlich als wesentlicher Teil der Krebsentstehung heraus, ließe sich Krebs womöglich mit Medikamenten stoppen, die das Programm zum Absturz bringen. Da gebe es durchaus schon Wirkstoffe, sagt Meissner. „In einem Teil des Programms ist der Wachstumsfaktor FGF wichtig“, sagt Meissner. „FGF wirkt über bestimmte Enzyme, Kinasen, die schon heute bei Lungenkrebspatienten blockiert werden.“
Auf die für Patienten oft so wichtige Frage, warum der eine Mensch an Krebs erkrankt, ein anderer aber nicht, darauf kann auch die Entdeckung des Berliner Forschers keine Antwort geben. „Aber vielleicht können wir jetzt gezielter nach einer Erklärung suchen, was den Unterschied zwischen Krebserkrankung und Krebsresistenz ausmacht.“ Meissner möchte Menschen verschiedenen Alters auf Zellen durchsuchen, die das Plazenta-Entwicklungsprogramm aktiviert haben. Vielleicht werde bei manchen Patienten das Programm zufällig häufiger aktiviert als bei anderen, ob nun aufgrund von Umwelt- oder genetischen Einflüssen. Das könnte die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, erhöhen.
Sascha Karberg