Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Deutliche Radikalisierung nach rechts
Extremismusforscher sehen nach den Berliner Corona-Protesten die Demokratie in Gefahr.
Ein Alarmsignal für die Demokratie sieht der Rechtsextremismusforscher Alexander Häusler von der Hochschule Düsseldorf in der Berliner Großdemonstration gegen Corona-Auflagen vom Wochenende. In Berlin habe sich gezeigt, dass Demokratiefeindlichkeit und Umsturzgedanken über das organisierte rechte Spektrum weit hinausreichten.
Die Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Milieus – von Rechten über Esoteriker bis zu Impfgegnern – würden immer mehr verschwimmen. „Es deutet sich eine rechte Radikalisierung von Spektren und kulturellen Milieus der Gesellschaft an, denen man das vorher gar nicht zugetraut hat“, sagte er dem Tagesspiegel.
Experte: Explosive Mischung
Häusler spricht von einer Mischung aus Impfgegnern und Esoterikern, die mit „querulantischem Verhalten und hyperindividualistischen, unsolidarischen Vorstellungen und Forderungen“ angetreten seien. Bei der Berliner Demonstration hätten sie sich – unübersehbar – mit Rechtsextremen gemischt.
Diese „explosive Mischung aus Esoterikern, Verschwörungsgläubigen, Reichsbürgern und Rechtsextremen“ müsse genau beobachtet werden. Besonders gefährlich sei, dass ein Spektrum, das eher als alternativ und friedliebend gilt, sich nun mit Rechten und Reichsbürgern zusammentut.
„Wenn politisches Querulantentum und wirre Vorstellungswelten sich in einer Form von rechtskonnotiertem Widerstandsdenken und Erhebungsversprechen zuspitzt, muss man von einer deutlichen Radikalisierung nach rechts sprechen“, sagt Häusler.
Der sogenannte „Sturm auf das Reichstagsgebäude“ sei kein Zufall gewesen, sondern von mehreren Stellen gefordert worden. Verschiedene Personen und Strömungen hätten dazu aufgerufen, darunter etwa auch die „Corona-Rebellen Düsseldorf“. „Das ging nicht alleine von der viel zitierten Heilpraktikerin aus“, lautet Häuslers Einschätzung.
Proteste hätten sich verselbstständigt
Der Protest richte sich letztlich gar nicht mehr gegen die Corona-Maßnahmen. „Das hat sich verselbstständigt.“ Das Paradoxe daran sei, dass sich die Bewegungen in einer Zeit formierten, in der die staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie für sinkende Zahlen bei den Infektionen gesorgt hatten.
„Es zeigt sich, dass Maßnahmen wie die Maskenpflicht, die anfangs ein Auslöser für Proteste waren, nur ein Aufhänger sind für dahinterstehende ganz andere Vorstellungswelten.“ Die Berliner Proteste hätten gezeigt, dass Demokratiefeindlichkeit mittlerweile weit über den organisierten rechten Rand hinausreiche. „Es droht die Gefahr, dass sich das weiter organisiert“, sagt der Extremismusforscher.
Ein Teil des Spektrums aus Esoterikern und Verschwörungsgläubigen radikalisiere sich nun und trage das mit Protest und Aufruhrgedanken auf die Straße. „Das ist nicht nur etwas Neues, sondern erweitert das rechte Protestspektrum – das ist besorgniserregend“, sagt Häusler. Die wachsende Gruppe der Demokratieskeptiker und -verächter mische sich nun mit den offenen Demokratiefeinden. Damit erweitere sich der Resonanzboden für Demokratiefeinde deutlich.
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Auch der Berliner Protestforscher Peter Ullrich hält das Protestspektrum vom Wochenende für ungewöhnlich. Die Proteste würden aus der klassischen Struktur von Großdemonstrationen in der Bundesrepublik herausfallen, so viel könne er auf Grundlage erster Eindrücke sagen, erklärt Ullrich, der am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin lehrt.
Diesen Eindruck vermittele sowohl die „starke rechtsextreme Grundorientierung“ der Demonstrationszüge als auch ihre „immense Heterogenität und Widersprüchlichkeit“, wenn barfüßige Hippies neben Neonazis und Hooligans auftauchten.
Lenkung durch organisierte Rechte
Damit habe die rechtsextreme und zum Teil neonazistische Mobilisierung den in Deutschland bislang größten Resonanzraum gefunden, meint Ullrich. Der Protest sei ein „Jahrmarkt von allem Möglichen“ gewesen, der allerdings durch organisierte rechte Akteure eine Lenkung bekommen habe.
Ullrich macht dabei eine rechte Mobilisierung aus, die offensichtlich unhinterfragt akzeptiert worden sei. „Dass das völlig problemlos ging, fällt auf.“ Brisant sei insbesondere auch „die Selbststilisierung als Holocaust-Opfer, das Auftreten mit Judenstern – eine absolute Anmaßung“.
Die Inhalte auf den Plakaten seien nicht auf einen Nenner zu bringen, außer auf eine diffuse rebellische Empörung, die hinter allem stehe. „Die ist aber nicht nur ein Ausdruck der Unzufriedenheit oder Kritik an der Demokratie, sondern ein Ausdruck der Postdemokratie – im doppelten Sinne“, sagt Ullrich gegenüber dem Tagesspiegel. Einerseits träten die Demonstranten als Demokratiebewegung auf, für Freiheitsrechte.
Sie setzten dem aber gar keine demokratische Praxis entgegen, sondern einen „hemmungslosen Individualismus und eine absolute inhaltliche faktenresistente Beliebigkeit in den Positionen“. Ullrich beobachtet: „Man zeigt sich als Kritiker von Problemen der Demokratie, agiert selbst aber nicht demokratisch, sondern ohne jegliches Verständnis für Diskussion, Austausch und Differenz von Meinungen.“
Ullrich versteht die Bewegung der Corona-Proteste auch als Symptom für eine extreme Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von sämtlichen gesellschaftlichen Institutionen. „Das ist ein zentrales Moment, das sehe ich als Ausdruck der Postdemokratie.“
Definiert wird dies in der Politikwissenschaft als Entleerung des demokratischen Prozesses: Die demokratischen Institutionen bestehen formell weiter, aber verlieren an inhaltlicher Substanz, der politische Streit flacht ab, man kann die inhaltlichen Positionen der Parteien nicht mehr auseinander halten.
Dahinter stehe eine marktförmige Orientierung der Politik an scheinbaren Sachzwängen, die Auslagerung von demokratischen Prozessen in kaum legitimierte Gremien, von Beratungsfirmen bis zu halbformellen transnationalen Zusammenschlüssen. Diese Entwicklung reflektiere sich in verschiedenen Protestbewegungen, erklärt Ullrich.
Besorgniserregende Vorgänge
Aus demokratietheoretischer Sicht seien die Vorgänge besorgniserregend. Ullrich verweist darauf, dass mittlerweile ganze Bevölkerungsteile vom politischen Prozess weitgehend abgehängt sind, etwa der berühmte Nichtwähler. Es gebe einen Vertrauensverlust gegenüber politischen und anderen gesellschaftlichen Institutionen.
Bei Bewegungen wie dem Corona-Protest oder den Montagsmahnwachen sei eine radikale Abkapselung vom gesellschaftlichen Mainstream und der politischen Öffentlichkeit zu beobachten. „Und das ist ein zunehmendes Phänomen“, sagt Ullrich.
Zur Motivation der Berliner Demonstranten könne man bislang nur Mutmaßungen anhand der Slogans anstellen – empirische Befragungen stünden noch aus. Was auf Plakaten postuliert wird, reiche von wirtschaftlichen Sorgen über Kritik an der Schulmedizin bis hin zu esoterischen Visionen und extremen nationalchauvinistischen Anliegen. Organisierte rechtspopulistische und neonazistische Akteure würden dieses Potenzial an Unmut aufgreifen. Verstärkend kämen die sozialen Medien hinzu, die dazu beitragen, dass bestimmte Ansichten – seien sie auch noch so marginal oder abseitig – zueinander finden können.
Was den Protest gegen die Corona-Maßnahmen selbst betrifft, sieht Ullrich auch eine ungenügende Aufklärung als Ursache. Der richtige Umgang mit Mund-Nasen-Masken beispielsweise werde nicht von allen verstanden. Das sei auch eine Frage von Zugang zu Informationen.
Die Demonstrationen würden davon profitieren, dass die Folgen der Pandemie für nicht direkt Betroffene nicht eindeutig sind und der gesamtgesellschaftliche Umgang mit der Pandemie widersprüchlich ist.
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„Es werden widersprüchliche Signale ausgesendet“, sagt Ullrich. Etwa wenn Helden der Pandemiebewältigung gefeiert werden, es am Ende aber nur wenig materielle Anerkennung gebe. Oder wenn Großveranstaltungen plötzlich wieder möglich sind, während man weiter auf Distanz achten soll.
„Das sind Signale, die verunsichern – und teilweise auch verunsichern müssen, weil ständig Entscheidungen auf fragiler Wissensgrundlage getroffen werden müssen“, konstatiert der Soziologe.
Wie kann das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung, von denen sich jetzt wiederum kleine Anteile den Corona-Protesten anschließen, zurückgewonnen werden? Das werde auch eine Frage guter Pandemiepolitik, sozialer Abfederungen und guter Erklärungen des Notwendigen sein – als große Kommunikationsanstrengung von Politik, Wissenschaft und einer dialogbereiten Zivilgesellschaft, meint der Soziologe Ullrich.