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Auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor betrachten Menschen ein Plakat, dass den Platz im Frühjahr 1945 zeigt.
© dpa

Historiker über das Ende des Zweiten Weltkriegs: Der prekäre Frieden

Für wen endete der Zweite Weltkrieg vor 70 Jahren, wo begannen Stellvertreterkriege? Berliner Historikerinnen und Historiker erkennen Erinnerungslücken: etwa beim Schicksal der Displaced Persons oder der Menschen, die in die Sowjetunion zurückkehrten.

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Dazu haben wir Berliner Historikerinnen und Historiker gefragt, wo sie Erinnerungs- und Forschungslücken sehen – sei es aus deutscher, europäischer oder globaler Perspektive. Gefragt haben wir auch nach Episoden aus der Kriegs- oder Nachkriegsgeschichte, die sie heute neu bewerten würden.

Gabriele Metzler: Der blutige Auftakt zur Dekolonialisierung

8. Mai 1945. In Europa schweigen die Waffen, endlich, nach beinahe sechs Jahren des Tötens, der Verbrechen, des Grauens. Den einen bringt das Kriegsende den Sieg, für die anderen die totale Niederlage. Den einen bedeutet das Kriegsende Befreiung – von brutaler Besatzung, mörderischem Lagerregime oder quälender Unfreiheit –, den anderen bringt es Furcht vor Rache, vor Vergewaltigung und Ermordung, vor Vertreibung und neuem Leid. Was an diesem Tag viele gehofft und wenige erwartet haben mögen: Im Mai 1945 fielen die letzten Schüsse zwischen Westeuropäern. Bis zum heutigen Tag ist der Krieg aus Westeuropa verbannt, haben „Erbfeinde“ Frieden geschlossen und gelernt, ihre Konflikte mit friedlichen Mitteln auszutragen. Uns erscheint heute unvorstellbar, dass Deutsche auf Franzosen oder Engländer auf Italiener schießen könnten. Vor einer Generation hätten dies auch Bosnier und Serben voneinander gesagt, vor noch kürzerer Zeit Ukrainer und Russen.

Gabriele Metzler, Humboldt-Universität.
Gabriele Metzler, Humboldt-Universität.
© Promo

Frieden ist ein prekärer Zustand, und dass Westeuropa eine Zone des friedlichen Konfliktaustrags geworden ist, war 1945 weder vorhersehbar noch ist es heute selbstverständlich. In längerer historischer Perspektive und im globalen Vergleich sind die westeuropäischen Gesellschaften eine bemerkenswerte Ausnahme, aber nicht die Regel.

Noch einmal: 8. Mai 1945. Während die Alliierten verhalten triumphalistisch feiern, kündigt sich ein neuer, alter Konflikt an. Die Parade zum Kriegsende in Europa im algerischen Sétif wird von Einheimischen gestört, zwei Wochen lang geht es hin und her zwischen ihnen und den Ordnungskräften der französischen Kolonialmacht. Am Ende sind mehrere tausend Tote zu beklagen – der blutige Auftakt zur blutigen Dekolonisierung. Denn während die westeuropäischen Staaten untereinander die europäische Integration als Zone des Friedens vorantreiben, schlagen die verbliebenen europäischen Kolonialmächte gewaltreiche Rückzugsschlachten in Asien und Afrika.

Der 8. Mai in Sétif steht symbolhaft für den Anspruch der Europäer, global Herrschaft zu behaupten, die in den Kriegsjahren durcheinandergewirbelt wurde und im Frühsommer 1945, mit der Gründung der Vereinten Nationen, doch gar nicht mehr zeitgemäß war. Eine friedliche Welt brachte der 8. Mai nur manchen, für die anderen hörte das Töten nicht auf. Das eine ist kein Anlass für die Fiktion zivilisatorischer Überlegenheit, das andere nimmt uns Europäer bis heute in die Pflicht, in Europa und weit darüber hinaus.

Gabriele Metzler ist Professorin für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt-Universität.

Paul Nolte: Auch die Täter wurden am 8. Mai befreit

Am spannendsten an der Geschichte sind oft die Brüche, die scheinbaren Paradoxien. Je weiter sich ein Ereignis entfernt, desto mehr versinkt es in der Erinnerung? Von wegen – die Geschichte des Nationalsozialismus, von Verfolgung und Vernichtung zwischen 1933 und 1945 ist uns in den letzten Jahrzehnten immer näher gerückt, und die Fragen hören nicht auf. Merkwürdig ist dabei der Umgang mit dem Krieg, den Hitler und das NS-Regime entfesselten: Einerseits ist, für manche schmerzhaft, die unauflösliche Verflechtung von Krieg, Besatzungsherrschaft und Holocaust deutlich geworden. Die griechischen Reparationsforderungen und der Hinweis auf die deutschen Gräueltaten erinnern einmal mehr daran. Es gab keinen sauberen Krieg tapferer Soldaten, von dem schmutzige Verbrechen sich bequem trennen lassen. Andererseits ist der Zweite Weltkrieg ein blinder Fleck des Gedächtnisses und des historischen Wissens, wahrscheinlich mehr als vor einer Generation. Persönliche Erinnerung ist zu lange verdrängt und wenig erzählt worden. Ein populäres Interesse an Kriegsgeschichte, wie es sich in anderen Ländern in Buchhandlungen sofort offenbart, gibt es in Deutschland kaum. Der Krieg selbst und das Wissen um die Schuld, wenn sie auch uneingestanden blieb, hat uns das ausgetrieben. Heute erzählt Opa von der Studentenrevolte und nicht von Stalingrad.

Paul Nolte, Freie Universität.
Paul Nolte, Freie Universität.
© Thilo Rückeis

Was wir im letzten Jahr, nach einem vollen Jahrhundert, für den Ersten Weltkrieg erlebt haben, steht für den Zweiten in vieler Hinsicht noch bevor: eine Vergegenwärtigung des Kriegsalltags, die nüchtern und empathisch, distanziert und eindringlich zugleich sein kann. Aber trotz Bombenkriegs und Vertreibungen werden die Rollen von Täter und Opfer sich dabei nicht in der Erfahrung subjektiven Leidens verwischen lassen. Auch die Täter wurden am 8. Mai 1945 befreit. Das bleibt die große Herausforderung für Wissenschaft und kollektives Gedächtnis.

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität.

Michael Wildt: Am 6. August explodierte die Bombe über Hiroshima

Der Zweite Weltkrieg war am 8. Mai 1945 noch nicht vorbei. Zwar schwiegen in Europa die Waffen, aber im asiatisch-pazifischen Raum wurde weiter gekämpft. Denn die mit NS-Deutschland verbündete japanische Militärmacht wollte sich noch nicht geschlagen geben. Um einen langwierigen Krieg zu vermeiden, entschloss sich die amerikanische Führung, die neu entwickelte Atombombe einzusetzen. Am 6. August 1945 explodierte die Bombe über Hiroshima, drei Tage später eine zweite über Nagasaki. Über 140 000 Menschen kamen sofort ums Leben, Hunderttausende starben in den folgenden Jahren an den Spätfolgen. Nun erst kapitulierte das japanische Militär am 15. August 1945. Diese globale Dimension des Weltkrieges und die furchtbaren Folgen des Einsatzes der Atombomben sollten nicht vergessen werden, wenn wir in Europa des Kriegsendes gedenken.

Michael Wildt, Humboldt-Universität.
Michael Wildt, Humboldt-Universität.
© Promo

Erinnert werden sollte auch an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt worden waren: sowohl die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas und die Häftlinge in den Konzentrationslagern als auch die polnischen, sowjetischen, französischen und später italienischen Kriegsgefangenen – „displaced persons“, wie sie damals genannt wurden. Sie alle mussten nach ihrer Befreiung versorgt, in DP-Camps untergebracht werden, bevor sie wieder in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Ohne die engagierte Hilfe internationaler Organisationen, vor allem der weitgehend von den USA finanzierten United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), wäre dies nicht gelungen. Das Kriegsende auf deutschem Boden betraf, auch das sollte nicht vergessen werden, nicht nur Deutsche.

Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität.

Ute Frevert: Was blieb, als sie die Uniformen auszogen?

Bücher zum Zweiten Weltkrieg gibt es zuhauf, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Manche schließen echte Forschungslücken, andere surfen auf der Welle öffentlicher Empfindlich- und Empfänglichkeiten. Zu letzteren gehört jetzt auch das Interesse an Gefühlen. In den Gefühlen früherer Generationen, so scheint es, können wir uns wiedererkennen, sie bringen uns die handelnden Personen der Vergangenheit ganz nahe. Das stimmt nur bedingt, denn auch Gefühle haben ihre Zeit, und jede Zeit hat ihre Gefühle. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg und das Ende des NS-Regimes in Deutschland heißt das, Fragen nach der besonderen emotionalen Temperatur dieser Jahre zu stellen, nach den Verbrennungen und Vereisungen, die sie in den Körpern und Seelen der Zeitgenossen hinterlassen haben.

Ute Frevert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Ute Frevert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
© Mike Wolff

Wie fühlte man in einer Gesellschaft, die „Volksgenossen“ zwölf Jahre lang einem emotionalen Trommelfeuer aussetzte, die sie mit Appellen an Ehre und Treue, an Liebe und Vertrauen zum Führer bombardierte? Die die Mitleidlosigkeit gegenüber „Fremdrassigen“ ebenso zur Tugend erhob wie den Stolz auf die eigene „Höherwertigkeit“?

Und was blieb davon übrig, als die Uniformen ausgezogen und die Parteiabzeichen verbuddelt waren? Wo ließ sich das emotionale Gepäck verbuddeln, an dem gerade die junge, heranwachsende Generation schwer getragen hatte? Wie ging sie mit ihren Ent-Täuschungen und Ernüchterungen um, wie verwand sie die Beschämung durch Niederlage und Besatzung? Welchen Raum – wenn überhaupt – gab sie neuen, anderen Zukunfts-Gefühlen?

Ute Frevert ist Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Jörg Baberowski: Gesehen, dass die Besiegten besser lebten als die Sieger

Das Ende des Zweiten Weltkrieges gilt im Westen Europa zu Recht als Anbruch einer neuen Zeit. Millionen waren befreit worden, Gewalt und Terror gebannt. Manche haben in der Rückschau von der „Stunde null“ gesprochen. In Osteuropa aber war der Krieg 1945 nicht zu Ende. In baltischen Republiken, in der Westukraine und in Polen wurde die Rote Armee nicht  von allen Menschen als Befreier empfunden. Stalins Schergen verbreiteten Furcht und Schrecken, sie töteten Oppositionelle und erstickten Widerspruch im Keim. Und so kam es, dass sich der Krieg in diesen Regionen noch um Jahre fortsetzte. In der Ukraine und im Baltikum lieferten sich Partisanen und Einheiten der Roten Armee blutige Gefechte, die erst beendet wurden, als der Kampf für die Rebellen aussichtslos geworden war. Mehr als eine halbe Millionen Menschen fielen diesem Krieg nach dem Krieg zum Opfer.

Jörg Baberowski, Humboldt-Universität.
Jörg Baberowski, Humboldt-Universität.
© picture alliance / dpa

Aber auch im Inneren der Sowjetunion konnte vom Frieden keine Rede sein. Stalins Regime ließ Soldaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, überprüfen und verschleppte zehntausende von ihnen in Konzentrationslager. Kollaborateure und Menschen, die in Deutschland als Zwangsarbeiter gelebt hatten, wurden unter Generalverdacht gestellt und als Feinde stigmatisiert. Nicht als Leistung des Volkes, sondern als Triumph Stalins sollte der Sieg über Deutschland besungen werden. Die Lüge konnte sich gegen die Wahrheit aber nur noch durch Anwendung von Zwang durchsetzen. Denn Millionen waren in Europa gewesen und hatten gesehen, dass die Besiegten besser lebten als die Sieger. Für Stalin war die Öffnung der Sowjetunion vor allem eine Gefahr, die seine Herrschaft destabilisierte. Deshalb kamen Gewalt und Terror in die Lebenswelt der sowjetischen Menschen zurück. Nicht einmal in der Stunde des Sieges konnte sich das Regime großmütig zeigen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges begann in der Sowjetunion nicht im Mai 1945, sondern im März 1953, als Stalin starb. Über diese Wahrheit hat die Geschichtswissenschaft noch nicht gesprochen.

Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität.

Sebastian Conrad: Das Gedenken öffnet die Türen zur Integration

Der Zweite Weltkrieg liegt 70 Jahre zurück, aber er scheint nicht enden zu wollen. Es ist erstaunlich, in welchem Maße die Erinnerung an den Weltkrieg nach wie vor lebendig gehalten wird: nicht so sehr die persönlichen Erinnerungen oder das Familiengedächtnis, sondern die politische Relevanz des Weltkriegs in der Gegenwart. Die jüngsten griechischen Forderungen nach Entschädigungszahlungen sind dafür nur das letzte Beispiel.

Sebastian Conrad, Freie Universität.
Sebastian Conrad, Freie Universität.
© Bernd Wannenmacher

Interessanterweise sind es weniger die Gräueltaten und Verbrechen selbst, die verhandelt werden, als der Umgang mit ihnen. Für die Bundesrepublik haben die Reparationen und das Gedenken des Holocaust die Türen zur Integration in Europa geöffnet. Das war in anderen Ländern auch der Fall – so stand in Polen die kritische Aufarbeitung der Gräuel von Jedwabne im Zusammenhang mit der Aufnahme in die EU. Noch konfliktreicher ist die Diskussion in Ostasien: Äußerungen von japanischen Politikern oder die Zulassung von Schulbüchern im Fach Geschichte lösen regelmäßig Proteste in China oder Korea aus; Menschen gehen auf die Straße, und japanische Restaurants werden boykottiert oder angegriffen.

Mit dem Krieg selbst hat das nicht mehr viel zu tun; es handelt sich nicht um die Nachwirkungen des Krieges oder um eine „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Vielmehr sind es aktuelle Konflikte, die über das Medium der Kriegserinnerung ausgetragen werden. Die „angemessene“ Erinnerung an den Weltkrieg ist inzwischen fast zu einer Art internationalem Standard geworden, an dem Gesellschaften gemessen oder vor das Tribunal einer internationalen Öffentlichkeit gerufen werden können.

Sebastian Conrad ist Professor für Geschichte mit einem Schwerpunkt auf Globalgeschichte an der Freien Universität.

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