Jüdischer Widerstand im NS: Sie kämpften ums Überleben
Ein neuer Blick auf den jüdischen Widerstand beendet den Mythos von der Passivität der Opfer. Historiker plädierten jetzt bei einer Konferenz in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand für eine Definition, die auch das individuelle Widerstehen würdigt.
70 Jahre liegt der Aufstand im Warschauer Ghetto zurück, der am 19. April 1943 begann und vier Wochen später von den hundertfach überlegenen Einheiten der SS endgültig niedergeschlagen war. Fast alle Ghetto-Kämpfer kamen um, in den Kämpfen selbst, durch Erschießungen bei Entdeckung oder Hinrichtung nach der Festnahme. Der Aufstand war nach militärischen Kriterien aussichtslos. Aber er war ein Signal an die ganze Welt, ein Signal für einen noch Jahrzehnte nach Ende des Nazi-Terrors missachteten Kampf. Mit den Worten Arno Lustigers, des Historikers dieses übergangenen Kapitels der Geschichte: „Denn nicht, wie die Lämmer zur Schlachtbank’ haben sich die Juden Europas führen lassen – im Gegenteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden, haben sich jüdische Männer und Frauen gegen die Mörder zur Wehr gesetzt.“
Diese Geschichte darzustellen und zu würdigen, war Thema der Tagung „Der jüdische Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Europa 1933–1945“ zu Beginn dieser Woche in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Der Tagungsort war mit Bedacht gewählt. Denn es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, um den jüdischen Widerstand, zumal den individuellen „Rettungswiderstand“, in den Gedenkstättenrundgang aufzunehmen. Peter Steinbach, Historiker an der Universität Mannheim und Kodirektor der Gedenkstätte, wies in seinem Vortrag auf die langjährige Bevorzugung des militärischen Widerstands des 20. Juli gegen Hitler hin, der für die „einzelstaatliche Traditionsbildung“ der Bundesrepublik im geteilten Deutschland identitätsstiftend wirken sollte.
Demgegenüber zielte der „alltägliche Widerstand“, auch der der Juden, „keineswegs auf den Sturz des Gesamtsystems, sondern auf den Schutz des Individuums, die Verteidigung seiner Würde und die Ermöglichung individueller Zukunft“, erklärte Steinbach.
Einen „erweiterten Widerstandsbegriff“ hatte bereits Julius Schoeps, Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums, in seinem Eröffnungsvortrag umrissen: „Jüdischer Widerstand konnte sehr ungewöhnliche Formen annehmen, und vieles davon ist bis heute wenig bekannt.“ Als Beispiele nannte Schoeps den jüdischen Kaufmann Richard Stern, der sich am „Boykotttag“ der SA am 1. April 1933 demonstrativ mit seinem im Weltkrieg verliehenen Eisernen Kreuz vor sein Geschäft stellte und so gegen die Missachtung jüdischer Frontkämpfer protestierte. Oder den Duisburger Abraham Adolf Kaiser, der 1936 brieflich von Jesse Owens forderte, „die goldene Olympiamedaille dem Blutmenschen Adolf Hitler vor die Füße zu werfen“.
Ein erschütterndes, geradezu antikisches Beispiel individuellen Widerstandes schilderte Martin C. Dean (Washington) in seinem Vortrag über „Arbeitslager im Warthegau und in Galizien“. Ein zur Aushebung eines Massengrabes abkommandierter jüdischer Häftling muss den Tod von Frau und Kind erleben. Es gelingt ihm, die beiden Körper obenauf auf den Leichenberg zu legen. Heimlich kehrt er in der Nacht zurück, birgt die Leichen, schleppt sie kilometerweit zum jüdischen Friedhof und bestattet sie dort nach den religiösen Vorschriften. Es gelingt ihm, rechtzeitig zum morgendlichen Arbeitsappell wieder im Lager zu sein, „todmüde und gebrochen“.
Die menschenunwürdigen Umstände im Lager lähmten viele Gefangene
Zugleich suchten Juden im Laufe der Besatzungszeit in die Arbeitslager zu gelangen, weil dies die einzige Chance zu bieten schien, dem Vernichtungslager zumindest eine Weile länger zu entkommen. Der „Judenrat“ eines Arbeitslagers schlug im Wissen um den Bedarf der deutschen Besatzer sogar den Aufschluss weiterer Steinbrüche vor, weil dies zusätzliche Arbeitseinsätze anstelle sofortiger Vernichtung bedeutete. Erst als im Spätsommer 1943 SS-Kommandos und ukrainische Hilfspolizisten mit Erschießungen in den Lagern begannen, kam es zu Ausbrüchen, und eine Minderheit der Geflüchteten überlebte bis zum Einmarsch der Roten Armee im Frühjahr 1944.
Was bedeutete „Widerstand“ in den Lagern? Dieser Frage ging Robert Jan van Pelt (Ontario) in philosophischer Weise nach. Er zitierte Primo Levi, der resignierend hatte feststellen müssen, dass niemand, der es nicht selbst erlebt hatte, denjenigen verstehen könne, der um ein Stück Brotkruste ringen muss und dessen Leben an einem „Ja“ oder „Nein“ hing. Levi fand im Lager das Gegenteil der erhofften Solidarität der Häftlinge, vielmehr den Kampf aller gegen alle ums nackte Überleben. Und der frühere Spanienkämpfer Arthur Koestler, 1939/40 vom französischen Vichy-Regime interniert, schrieb bereits damals über die den Umständen geschuldete Unfähigkeit der Lagerinsassen zu jedweder Handlung.
Mit Blick auf die Vernichtungslager, die die SS nach dem Völkermord spurlos verschwinden lassen wollte, nannte van Pelt die bloße Zeugenschaft derer, die überlebt hatten, einen Akt des Widerstandes. Ohne sie gäbe es keine Kenntnis von der furchtbaren Wirklichkeit der Lager, waren doch schon zu Beginn der Mordaktionen 1941 ganze Ghettos ohne Überlebende ausgelöscht wurden. Rachel L. Einwohner (West Lafayette, USA), die als Sozialwissenschaftlerin Augenzeugenberichte des Spielberg-Archivs auswertet, berichtete von wiederholten Klagen Überlebender, dass ihren Berichten von Mordaktionen selbst seitens jüdischer Mitbürger keinerlei Glauben geschenkt wurde.
„Es ist heute unbestritten, dass sich Juden auf ganz unterschiedliche Weise gewehrt haben“, beantwortete Schoeps die heikle Frage, die sich an dem Wort von den „Schafen zur Schlachtbank“ entzündet. Ein kollektives Sich-zur-Wehr-Setzen habe es kaum gegeben. Die jüdische Gruppenidentität, die dafür notwendig gewesen wäre, sei nur bedingt vorhanden gewesen. So war es Konsens bei der vom Potsdamer Moses-Mendelssohn- Zentrum und dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt veranstalteten Konferenz, dass die Beurteilung von Widerstand in einem diktatorischen Regime mannigfache Differenzierungen notwendig mache.
Selbst wenn der Ausbruch aus dem Lager gelang, gab es kaum Überlebenschancen
Es gilt, die jeweiligen Bedingungen in den Blick zu nehmen, denen die verfolgten, eingesperrten oder bereits zur Vernichtung zusammengetriebenen Juden unterlagen. Ghetto, Arbeitseinsatz und Vernichtungslager stellen unterschiedliche Handlungsrahmen dar. Sara Berger (Rom) berichtete über die Aufstände in den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka, die nach ihrem Urteil „in der Geschichte des Widerstandes keine Parallele“ besitzen. Dass die Ermordung von eineinhalb Millionen Juden in diesen beiden Lagern sowie in Belzec von jeweils nur zwischen 20 und 40 „Tötungsexperten“ geleitet wurden, unterstützt von jeweils 100 bis 120 meist ukrainischen Kriegsgefangenen als Wächtern, ist schwer genug vorstellbar. Andererseits ermöglichte bereits die Abwesenheit weniger SS-Männer, die Urlaub erhalten hatten, den Aufstand vom 2. August 1943.
Die Lagerbaracken konnten in Brand gesetzt werden, hunderte Insassen entkamen, von denen jedoch lediglich rund 50 die von regulären Truppen und polnischer Hilfspolizei unterstützten Verfolgungsmaßnahmen überlebten. Ähnlich verlief der Aufstand in Sobibor am 14. Oktober 1943, an dem sich auch kampferfahrene jüdische Rotarmisten beteiligten. Die Aufständler konnten immerhin neun SS-Leute und einige Hilfskräfte ausschalten, doch dann verlief die Massenflucht in Panik. Auch hier überlebten bis Kriegsende nur um die 50 Häftlinge.
Die Flüchtlinge waren auch außerhalb des Lagers massiv bedroht. „Nicht nur die SS, sondern ebenso ukrainische Hilfspolizisten, herumstreifende Partisanen und selbst Einheimische konnten Juden verraten oder sogar umbringen“, sagte Martin Dean. Doch die Überlebenden verbreiteten die Kunde von den Lagern und Massenmorden. Ihnen verdankt die Nachwelt die Kenntnis der furchtbaren Realität.
Jeder Widerstand, jedes bloße Widerstehen trug dazu bei, die Würde des Einzelnen zu bewahren und das Ziel der NS-Rassisten zu unterlaufen, den Juden ebendieses Menschsein abzusprechen und es vollständig zu zerstören. Nach dem Krieg, als tausende osteuropäischer Juden in den Lagern für „Displaced Persons“ im besetzten Deutschland zusammentrafen, fanden sich – wie Avinoam Patt (Hartford, USA) darlegte – zionistische Jugendgruppen aus Polen zur Auswanderung nach Palästina. Sie gründeten Kibbuzim und benannten sie nach den Helden des Widerstandes wie Mordechai Anielewicz, dem am 19. Tag gefallenen Anführer des Warschauer Aufstandes.
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