Jüdisches Leben in Polen: eine Diskussion in Berlin: Die Scham ist vorbei
Gerade hat das weltgrößte Jüdische Museum - in Warschau - eröffnet. Nun feierte das Jüdische Museum Berlin das neue Schwesterhaus mit einer Diskussion: Was bedeutet es, heute in Polen Jude zu sein?
Schon die Statistik ist bezeichnend undeutlich. Wie viele Juden leben heute in Polen, besser gefragt: wie wenige? Was man weiß: Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es 3,3 Millionen. Drei Millionen wurde im Holocaust ermordet, die meisten Überlebenden verließen in mehreren Auswanderungswellen bis 1968 das Land. Sind es heute wenige Tausend, 20 000 oder mehr?
Von Dunkelziffern redet man gern, wenn es an soziologischen Sicherheiten fehlt. Vielleicht sind es eher Lichtziffern, die nun zu funkeln beginnen, seit immer mehr Polen ihre jüdischen Wurzeln wiederentdecken und sich zu ihnen bekennen. Bei einer Diskussion im Jüdischen Museum Berlin (JMB) am Sonntagabend, in der man zusammen mit dem Polnischen Institut die Fertigstellung des Jüdischen Museums in Warschau feierte, geht es folglich weniger um eine „Renaissance“ des Judentums in Polen, sondern um ein fundamental glückliches „Coming-out“, wie es Moderatorin und JMB-Programmchefin Cilly Kugelmann auf den Begriff bringt. Als hätten das Schweigen, das Verleugnen und auch die Scham endlich ein Ende.
„Ich bin eine polnische Jüdin, das gefällt mir“, sagt Katka Reszke, die 50 Interviews mit jüngeren polnischen Juden geführt und in einem Buch („Return of the Jew: Identity Narratives of the Third Post-Holocaust Generation of Jews in Poland“) ausgewertet hat. Demonstrativ stellt sie dieses Bekenntnis gegen das Prinzip Verdrängung, das ihr bei den Recherchen immer wieder begegnete. So berichteten allein drei ihrer Gesprächspartner, erst auf dem Sterbebett hätten die Großeltern gesagt, dass sie Juden seien.
Mikolaj Trzaska vom Trio Shofar, das chassidische Musik mit Freejazz verbindet, kennt und benennt diese Situation als „Schock“: Erst mit 14 erfuhr der Danziger Junge, dass er Jude war. Wie ein „verlauster Lappen, gierig und arm“ habe er sich damals gefühlt und „beschlossen, das sofort zu vergessen“. Erst seit er – nach dem Sturz des Kommunismus – selber Vater geworden sei, beschäftige er sich aktiv mit seiner Herkunft. Raphael Roginski wiederum, sein Shofar-Mitstreiter auf dem Podium, erinnert daran, wie niemand ihm die Kenntnis traditioneller jüdischer Musik habe vermitteln können. „Wir lernten aus einer Leere heraus, gegen das Trauma des Verlusts.“
Dieses bis an unser Jahrhundert reichende polnische Tabu hat massive historische Gründe – Dariusz Stola, Direktor des neuen Warschauer Museums, nennt es prägnant „ein Schweigen, das man hört“. Zunächst hätten die Polen mit den Vernichtungslagern auf ihrem Territorium den Holocaust am unmittelbarsten „spüren und riechen“ können. Dann predigten die Kommunisten 40 Jahre lang, die Deutschen hätten „friedliebende Völker“ vergast, und listeten sie von A bis Z – von den Albanern bis, ganz am Ende, zu den „Zydzi“ (polnisch: Juden).
Erst mit der offenen Diskussion über Jedwabne – nicht Deutsche, so die kommunistische Geschichtsfälschung, sondern polnische Bewohner dieser Kleinstadt waren schuld an dem Massaker an Hunderten von Juden im Juli 1941 – habe 2001 die Aufarbeitung der ambivalenten polnischen Vergangenheit richtig begonnen. Dariusz Stola: „Das war, vorangetrieben von den Intellektuellen, das erste ehrliche gemeinsame gesellschaftliche Gespräch.“ Nicht zuletzt diese Debatte habe den Weg für das Warschauer Jüdische „Museum des Lebens“ frei gemacht.
Die neue Normalität: Sie heißt auch, sich als polnischer Jude – Katka Reszke: „eine der kompliziertesten Identitäten überhaupt“ – nicht mehr entweder als Pole oder als Jude zu begreifen, sondern, wie Mikolaj Trzaska sagt, „als Mensch“. Ebenso bedeutet sie, persönlich in der Heimat keinen Antisemitismus zu erfahren, selbst wenn, zumindest statistisch, noch immer 20 Prozent der Polen antijüdische Ressentiments hegen.
Ein bisschen träumen da die Diskutanten ihre Hauptstadt Warschau schon in ein „zweites Berlin“ hinüber – jene Stadt, in der viele junge Juden aus Israel derzeit eine neue Heimat finden. Wachsamkeit aber schadet nicht, bei aller Euphorie. „In Berlin“, fügt Trzaska mit zarter Schärfe an, „ist es wahrscheinlich besser, Jude als Pole zu sein.“
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