Interview mit Matthias Berninger, Bayer-Cheflobbyist: "Wir steuern auf die größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte zu"
Die Zahl der Hungernden könnte sich verdoppeln, warnt der einstige Grünen-Spitzenpolitiker. Trotzdem halte Deutschland am "Märklin-Mindset" fest.
Matthias Berninger (51) war grüner Spitzenpolitiker. Unter Renate Künast war der Hesse von 2001 bis 2005 Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium, von 2003 bis 2007 leitete er den hessischen Landesverband der Partei. 2007 wechselte Berninger in die Wirtschaft. Er arbeitete zunächst als Lobbyist für den US-Nahrungsmittelkonzern Mars, 2019 wurde er Cheflobbyist bei Bayer. Der deutsche Pharma- und Chemiekonzern hatte zuvor den US-Agrarchemiekonzern Monsanto übernommen und kämpfte mit einer Klagewelle in den USA wegen vermeintlicher Krebsrisiken des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat.
Herr Berninger, Sie waren unter der ersten grünen Agrarministerin Renate Künast Staatssekretär. Jetzt ist wieder ein Grüner Minister. Hatten Sie schon einen Termin bei Cem Özdemir?
Ja. Ich kenne Cem schon seit 1994, und natürlich habe ich ihm gratuliert. Mir gefällt, dass er genauso wie ich damals mit dem Fahrrad ins Ministerium fährt.
Sie hatten damals die BSE-Krise zu bewältigen, er kämpft mit der Ernährungskrise.
Verglichen mit der Pandemie und dem Überfall auf die Ukraine nimmt sich die BSE-Krise fast schon zwergenhaft aus.
Drohen Hungersnöte, weil die Ukraine keinen Weizen mehr liefern kann?
Wir steuern auf die größte Hungersnot in der Menschheitsgeschichte zu. Die Bauern in der Ukraine können viel weniger Rohstoffe produzieren, die Infrastruktur ist zerstört, die Häfen sind blockiert. Aber die Probleme sind noch viel größer.
Warum?
Es kommt vieles zusammen: Die ärmsten Länder sind schon durch die Pandemie hart getroffen. Dazu kommt noch der Klimawandel mit Dürren in Afrika und China. Weil Energie fehlt, produziert China weniger Dünger, und wegen der Blockade des Schwarzen Meers werden kaum Düngemittel aus Russland und Weißrussland exportiert. Hinzu kommen noch globale Logistikprobleme. Selbst wenn es genug zu essen gäbe, kommt das Essen nicht unbedingt da an, wo es gebraucht wird. Die russische Invasion erschüttert das Welternährungssystem zutiefst. Wir müssen gemeinsam eine Lösung auf Ebene der G20 finden. Ein Land wie Indonesien, das einer der Hauptimporteure von Weizen und zugleich der Hauptexporteur von Palmöl ist, muss mit in die Führungsverantwortung genommen werden.
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Wie viele Menschen sind von Hunger bedroht?
Wir fürchten, dass sich die Zahl der hungernden Menschen 2023 oder 2024 verdoppelt. Wenn wir zehn Prozent weniger Kunstdünger haben als wir bräuchten, raubt das bis zu 320 Millionen Menschen die Ernährungsgrundlage.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Die Welternährungsorganisation FAO hat leider keinen Überblick darüber, wie groß die Lagerbestände bei Reis, Mais oder Getreide sind und wie gut die Qualität der Vorräte ist. Ich hoffe, dass viel auf Lager ist und dass wir dieses Jahr gute Ernten haben. Ich befürchte aber, dass alles schwieriger wird. Am Ende werden wir die Bauern genauso herzen wie das Pflegepersonal in der Corona-Pandemie.
Kann Bayer helfen?
Wir sind im Dialog mit der Bundesregierung und der EU-Kommission, wie wir helfen können. In der Ukraine machen wir das. Wir haben alles Menschenmögliche getan, um dort Saatgut für Mais rechtzeitig auszuliefern. Jetzt hoffen wir, dass möglichst viele Landwirte das auch aussäen können. Putin setzt leider Hunger als Waffe ein.
Warum zieht sich Bayer nicht aus Russland zurück?
Wir haben alle Investitionen und Investitionsplanungen gestoppt. Was Medikamente angeht, so verkaufen wir in Russland nur noch wirklich essenzielle Präparate. Wir machen keine Werbung mehr. Mit Blick auf die Landwirtschaft haben wir gesagt, dass wir unser Engagement für das nächste Jahr vom Frieden abhängig machen. Wegen der angespannten Ernährungslage wollten wir aber nicht mitten im Aussaatprozess auf die Bremse treten. Wir müssen aber in den nächsten Monaten entscheiden, wie es weitergeht. Es wäre ein Hoffnungsschimmer, wenn Schiffe mit Weizen von Odessa aus nach Jemen, Libanon oder Nigeria fahren könnten.
Was passiert mit Bayer, wenn der Gashahn zugedreht wird?
Bayer braucht nach der Trennung von Covestro und Lanxess heute wesentlich weniger Energie als früher und unsere energieintensivste Produktion befindet sich zum Glück in den USA. Aber der industrielle Kern Deutschlands hängt vom Erdgas ab. Wir brauchen Erdgas nicht nur für die Energie, sondern auch um eine Vielzahl von Vorprodukten herzustellen, die sich in vielen alltäglichen Produkten befinden. Wenn das Gas fehlt, steht die deutsche Wirtschaft. Deshalb ist es gut, dass unsere Regierung und die EU-Kommission kein Gasembargo wollen.
Cem Özdemir will in Deutschland eine Agrarwende. Der Koalitionsvertrag liest sich für Bayer nicht sehr freundlich: Schluss mit Glyphosat, weniger Pestizide, mehr Ökoanbau.
Ich bin vom Koalitionsvertrag nicht enttäuscht. Dort steht nämlich auch, dass die Koalition die Chancen der Biotechnologie in der Forschung und der Anwendung nutzen wird. Das finde ich ermutigend.
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Bayer steht für intensive Landwirtschaft, zum Ökolandbau passt das nicht.
Man sollte die Ziele Klimaschutz und höhere Erträge nicht gegeneinander ausspielen. Selbst wenn wir es schaffen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, gehen acht bis neun Prozent der Ernten verloren. Und leider sind die 1,5 Grad sehr unrealistisch. Wenn man sieht, wie Landwirtschaft unter Klimaextremen wie Dürren, Überschwemmungen und Insektenbefall leidet, muss man den Widerspruch zwischen Ökologisierung und Intensivierung auflösen. Selbst der Weltklimarat bestätigt: Wir brauchen mehr Erträge auf weniger Fläche und müssen die Klimaemissionen reduzieren. Dazu bedarf es dringend einer Willkommenskultur für Innovationen, daran hapert es in Deutschland. Europa ist weiter, der Rest der Welt sowieso.
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Ökologisierung und Intensivierung schließen sich aber doch aus. Man will ja gerade weg von der intensiven Flächennutzung und zurück zur Kreislaufwirtschaft. Weniger Tiere, weniger Dünger, weniger Pestizide, mehr Grünflächen und Blühstreifen für die Insekten.
Nein, Ökologisierung und Intensivierung schließen sich nicht aus. Wir haben in Deutschland nur ein Märklin-Mindset. Die Bahnen haben ja bekanntermaßen einen Maßstab von eins zu 87. Es gibt auf der Welt acht Milliarden Menschen, aber wir schauen auf die Welt mit der Brille von 80 Millionen. Nehmen Sie Brasilien und den Sojaanbau. Die Produktivität hat sich dort verglichen mit 1960 unglaublich erhöht. Würde man heute noch mit den Produktionsmethoden von 1960 arbeiten, bräuchte man eine Fläche in der doppelten Größe der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich. Nur wenn wir Flächen intelligenter nutzen, werden wir es schaffen, den Wald zu schonen.
Aber in Brasilien wird trotzdem wertvoller Regenwald gerodet.
Ja, leider. Das schlimmste Jahr, was die Entwaldung in Brasilien betrifft, war letztes Jahr. Aber das zeigt doch gerade, wie groß der Handlungsbedarf ist Auf der Weltklimakonferenz in Glasgow ist beschlossen worden, dass bis zum Ende dieses Jahrzehnts keine Wälder mehr in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt werden dürfen. Um das zu erreichen, brauchen wir effektivere Pflanzen, Kleinbauern müssen Zugang zu digitalen Informationen bekommen, und wir müssen unsere Konsummuster verändern, etwa was den Fleischkonsum betrifft.
Man kann schlecht Chinesen den Fleischkonsum verbieten, nachdem wir jahrzehntelang große Mengen vertilgt haben.
Genau. Und das ist die zentrale Herausforderung – aber wir beschäftigen uns in Deutschland immer noch ständig mit uns selbst. Trotzdem gibt es Hoffnungszeichen: Firmen arbeiten bereits an Futtermittelzusätzen, die die Methanemissionen bei Kühen massiv reduzieren können. In Deutschland und in den USA sinkt der Fleischkonsum. In den USA erforschen wir zusammen mit einem Start-Up Fleisch aus Zellkulturen, in Singapur können Sie In-Vitro-Fleisch aus dem Labor sogar schon kaufen. Das macht Hoffnung.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hoffnungsträger?
Die Kleinbauern: Von den 500 Millionen, die es auf der Welt gibt, erreichen wir 50 Millionen und verschaffen ihnen Zugang zu digitalen Lösungen. Unsere Beteiligung, die Firma Apollo Agriculture, bietet Kleinbauern in Ostafrika Zugang zu digitalen Lösungen und hilft ihnen, ihre Ernten zu vergrößern. Im Schnitt führt das zu einer Versechsfachung ihrer Erträge.
Wer bezahlt das?
Die Kleinbauern bekommen Kredite und zahlen die dann mit Hilfe ihrer gesteigerten Einnahmen zurück. Zweiter Hoffnungsträger ist die Entwicklung beim Kunstdünger. Die Herstellung geht weg vom Erdgas hin zu erneuerbaren Energien – grüner Wasserstoff, kombiniert mit Stickstoff. Der Krieg in der Ukraine beschleunigt diese Entwicklung. Wir gehen aber noch einen Schritt weiter. Wir wollen, dass man gar keinen Kunstdünger mehr braucht. Wir arbeiten an einer Lösung, die die Wurzeln beim Mais aufnahmefähig für Mikroben macht, die an der Erdoberfläche Stickstoff aus der Luft holen und den Stickstoff an der Wurzel gegen Zucker tauschen. Das ist eine Revolution, wir haben uns die Rechte gesichert.
Warum ist das eine Revolution?
3,2 Milliarden Menschen sind für ihre Ernährung auf Kunstdünger angewiesen, der zugleich für vier Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich ist. Die Preise für Kunstdünger haben sich vervielfacht. Unsere Technik schafft eine auch für Kleinbauern einfache und bezahlbare Alternative und trägt signifikant zu mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft bei.
Das meiste Geld verdienen Sie aber mit Glyphosat, oder?
Herbizide, einschließlich Glyphosat, gehören zu unseren umsatzstarken Produkten. Die Glyphosatpreise haben sich im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt. Die Nachfrage ist groß, der Wirkstoff ist knapp, weil China wegen Engpässen bei der Energie die Produktion zurückfahren musste, während wir in den USA weiter produzieren konnten.
Wird 2022 das Jahr sein, in dem die unendliche Glyphosat-Geschichte ein Ende haben wird?
Wir hoffen, dass die US-Regierung dem Supreme Court empfiehlt, unsere Klage anzunehmen und dass das höchste US-Gericht das dann auch tut. Das Urteil selbst könnte sich dann noch ins nächste Jahr ziehen. Wenn der Supreme Court uns Recht gibt, ist alles gut.
Ist es Ihr Job, die US-Regierung davon zu überzeugen, dass Glyphosat keinen Krebs erzeugt, wenn man es bestimmungsgemäß verwendet?
Nein. Man ist als Lobbyist gut beraten, sich zurückzuhalten, wenn der Supreme Court die Meinung der Regierung einholt.
In der EU läuft die Zulassung für Glyphosat Ende 2022 aus. Derzeit wird darüber beraten, ob man sie verlängert. Wie sieht es aus?
Ich halte es für möglich, dass das Verfahren länger läuft als geplant und die Zulassung erst einmal um ein Jahr verlängert wird. Am Ende ist das leider keine wissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung. Deutschland wird gegen eine weitere Zulassung stimmen. Wie sich die anderen Mitgliedstaaten verhalten, wird sicher auch von der Einordnung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit Efsa abhängen.
Die Übernahme des Glyphosat-Herstellers Monsanto hat Bayer jahrelange Prozesse und Vergleiche in Milliardenhöhe eingebrockt. Der Konzern ist 65 Milliarden Euro wert und hat 33 Milliarden Euro Schulden. Würde Bayer Monsanto heute erneut kaufen?
Ich glaube die Entscheidung war richtig. Das Innovationspotential der kombinierten Unternehmen ist riesig, und es ist wichtig, im Herzen Europas ein Unternehmen zu haben, das in Ernährungs- und Gesundheitsfragen systemrelevant ist. Es tut mir allerdings weh zu sehen, dass mehrere Milliarden Euro an die US-Klageindustrie fließen. Dieses Geld hätte man besser investieren können.
Die grüne Umweltministerin und der grüne Agrarminister lehnen grüne Gentechnik ab. Passt Bayer noch zu Deutschland?
Ja. Es verschiebt sich etwas. Nehmen Sie mal den Corona-Impfstoff von Biontech. Der basiert auf Gen – und Nanotechnik und alle, auch die Grünen, finden Biontech großartig. Ich glaube, man muss sich inzwischen eher rechtfertigen, wenn man Innovationen nicht nutzt.
Sind Sie noch bei den Grünen?
Klar. Ich halte mich zwar aus den innerparteilichen Diskussionen heraus, aber ich kenne noch viele Leute in der Partei, die ich gut leiden kann und die mich gut leiden können.