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Kein Vorbild: Eingesammelte Leihfahrräder in Shanghai
© dpa/Wang Gang

Geteilte Mobilität: Wildwuchs auf dem Berliner Leihfahrrad-Markt

Leihfahrräder sollen den Stadtverkehr entlasten – doch in Berlin verursachen zu viele Anbieter Chaos. Die ersten verlassen den Markt wieder.

Gut möglich, dass Xing Wang, der Chef der chinesischen Online-Plattform Meituan- Dianping, noch nie etwas vom Helmholtzplatz oder der Kastanienallee gehört hat. Dabei zählen die Berliner Hotspots zum Geschäftsgebiet des Chinesen, der im Herbst einen Milliarden-Börsengang in Hongkong plant. Meituan-Dianping bietet unter anderem Schnäppchen an, liefert Essen aus, vermittelt Hotelzimmer und Reisen – und verleiht Fahrräder im Prenzlauer Berg. Auf 60 Milliarden Dollar Börsenwert wird der Konzern taxiert, der kapitalstarke Investoren wie die Internetfirmen Tencent oder Alibaba hat.

Die silber-orangenen Räder seiner Marke Mobike gehören wie in vielen Metropolen der Welt auch in der deutschen Hauptstadt zum Stadtbild. Und wären Lackierung und Design nicht so auffällig, würde man sie glatt verwechseln – mit den Rädern von Obike (silber-gelb) oder Ofo (gelb) zum Beispiel. Oder mit jenen von Byke Mobility (blau-gelb), Donkey Republic (orange) oder Lidl-Bike, die zur Call-a-Bike-Flotte der Bahn gehören. Jüngst kamen die grünen E-Bikes von Lime hinzu. Berlin ist die Hauptstadt des Rad-Sharings – mit allen unschönen Begleiterscheinungen.

Bald rund 20.000 Leihräder in Berlin

Auf 16.000 wird die Gesamtzahl allein der stationslosen Fahrräder geschätzt, die gemietet und nach Gebrauch irgendwo im Stadtgebiet wieder abgestellt werden können. Mit der Folge, dass sie sich etwa am Helmholtz-Platz sammeln und Parkplätze und Gehwege blockieren. Zählt man die 2000 Zweiräder von Deezer Nextbike dazu, die vom Senat finanziell gefördert und an festen Stationen ausgeliehen werden, hat der Berliner Leihfahrradmarkt die Schallmauer von 20.000 Drahteseln bald erreicht. Vielleicht liegt er auch schon darüber. Viele Anbieter halten ihre Zahlen unter Verschluss.

Doch auch bei 20.000 Leihrädern sehen manche Experten und auch die Anbieter noch viel Luft nach oben. So ist der deutsche Sharing-Markt für Mobike trotz der großen Konkurrenz enorm attraktiv. Auch, weil die Daten der registrierten Kunden anderweitig genutzt werden können. Der Online-Multi Meituan-Dianping will seine Flotte ausbauen und ist nach eigenen Angaben in Berlin mit mehreren tausend Rädern schon jetzt Marktführer.

Wettbewerber Ofo will sich aus Deutschland zurückziehen

Helfen dürfte den Chinesen, dass einige Wettbewerber das hohe Expansionstempo nicht mitgehen können. Ofo, ebenfalls aus China, hat am Wochenende angekündigt, dass man sich nach einer dreimonatigen Testphase vorerst aus Berlin und Deutschland wieder zurückziehen werde, „verantwortungsvoll“, wie der Anbieter betont. Dies sei eine „strategische Entscheidung“ mit Blick auf die offenbar enttäuschende „Marktleistung“. 3000 Räder hatte Ofo in Berlin stationiert, zeitweise waren bis zu 10 000 im Gespräch. Sie werden nun anderswo in Europa verteilt.

Chaotischer läuft es bei Obike aus Singapur. Wochenlang war das Unternehmen untergetaucht, Informationen gab es keine, viele Räder verrotteten, Gerüchte über einen Abzug aus Deutschland kursierten. Vergangene Woche dann dementierte Obike: „Wir haben tatsächlich finanzielle Probleme“, sagte der Unternehmer Shi Yi dem „Handelsblatt“. Aber man arbeite an einer Lösung und bleibe in Deutschland weiter vertreten. In Berlin war Obike Ende 2017 mitten im Winter mit einigen hundert Rädern gestartet, in München hatte der Anbieter über Nacht mehr als 1000 Räder platziert. Wie es für die Obike-Kunden weitergeht, die in Deutschland eine Kaution von 79 Euro hinterlegen mussten, ist unklar.

Genehmigungen sind nicht nötig

Auf den Wildwuchs reagieren die Kommunen bislang eher hilflos, auch der Berliner Senat ist eher Beobachter als Gestalter des Geschehens. „Der Markt soll es regulieren“, heißt es bei der Verkehrsverwaltung. Grundsätzlich hält der rot-rot- grüne Senat Leihfahrräder im Mix der Verkehrsträger für eine sinnvolle Alternative zum Auto. Mit einem „Leitfaden“ versucht das Land, den Unternehmen Spielregeln vorzugeben, die der Gesetzgeber nicht geben muss.

„Eine Genehmigung ist für Vermieter ohne feste Stationen nicht nötig“, erklärt eine Sprecherin von Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos/für Grüne). Beschwerden über Vandalismus und Chaos gebe es hin und wieder aus den Bezirken, die Lage sei aber nicht so dramatisch wie dargestellt. „Wir sind mit allen Anbietern im Gespräch.“ Hielten sich diese nicht an die Punkte des Leitfadens – etwa das „maßvolle Abstellen von bis zu vier Leihfahrrädern“ an einem Ort – könnten die Bezirke einschreiten, etwa mit Beseitigungsverfügungen.

Studie: 100.000 Leihräder wären für Berlin "verträglich"

Der Fahrrad-Club ADFC glaubt, dass Landesrecht den Kommunen hilft. So könnten die jeweiligen Landesstraßengesetze geändert werden und den Betrieb von Leihradsystemen auf kommunaler Ebene erlaubnispflichtig machen. Städte könnten ihre Satzungen zur Sondernutzung insoweit anpassen, dass eine dann zu vergebene „Öffentliche Leihradlizenz“ an definierte Kriterien geknüpft werde, erläutert eine ADFC-Sprecherin. Grundsätzlich zeigten Studien aber, dass zehn bis 30 Räder pro 1000 Einwohner in dicht besiedelten Innenstadtbereichen empfehlenswert seien. „Auf Berlin gerechnet ergibt sich daraus eine stadtverträgliche Gesamtflotte von bis zu 100.000 Leihrädern.“

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