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Blech an Blech: Leihräder - hier in Peking, in Berlin sieht es an vielen Orten nicht anders aus.
© Jan Grüschow/dpa

Bikesharing in Berlin: "Nicht das Leihfahrrad ist pervers, sondern die Situation, in der es fährt"

Warum regen sich alle über die herumstehenden Leihräder auf und nicht über die ungenutzten Autos? Davon gibt es nämlich viel mehr in der Stadt.

Leihfahrräder sind in Berlin für viele zur Plage geworden – überall stehen oder liegen sie im Weg, sie scheinen sich über Nacht zu vermehren oder werden irgendwo gezüchtet, geerntet und über der Stadt abgeworfen, so sieht’s jedenfalls aus. Es fing ganz harmlos an, mit einem kleinen Angebot der Bahn („Call a Bike“), dann kam das Leipziger Unternehmen Deezer, und jetzt gibt's Nextbike, Lidl-Bikes, Donkey-Bikes, Mobility-Byke, ofo, oBike, moBike, LimeBike…

Inzwischen rollen mehr als 16.000 dieser Räder durch die Stadt (wenn sie nicht herumliegen), die Verkehrsverwaltung rechnet damit, dass es bald 30.000 sind. Und immer mehr Menschen fragen sich: Was ist das eigentlich? Ein Verkehrsmittel? Touristenspaß? Kunst? Schrott? Als Geschäft getarntes Datensammelsystem? Chinesisches Materiallager? Ein Experiment von Verhaltensforschern? Oder Subversion der Autoindustrie, die zur Ablenkung vom Dieselskandal den Überdruss am Rad schüren will (Geheimcode „NoBike“)?

Doch eigentlich ist die Antwort ganz einfach, frei nach Rosa von Praunheim: Nicht das Leihfahrrad ist pervers, sondern die Situation, in der es fährt (oder eben auch liegt).

Und wie ist die Situation? Leihfahrräder werden zum Teil von Leuten genutzt, die ein gestörtes Verhältnis zum Eigentum anderer haben; sie werden ohne jegliche Rücksicht auch dort abgestellt, wo sie anderen im Weg stehen; sie werden umgestürzt wie Dominosteine, weil’s manche lustig finden. Aber das ist kein Problem, das die Räder verursachen, sondern diejenigen, die sie missbrauchen. Ungestört, ungehindert.

Fallen die Autos denn niemandem auf?

Doch auch die Politik malt mit am Bild des nervigen Leihfahrrads, zuweilen gegen die eigene Überzeugung. Berlin zahlt dem einen Anbieter Millionen für sein Angebot – gegen andere gehen der Senat und die betroffenen Bezirke jetzt vor. Bürgermeister Stephan von Dassel, selbst Radfahrer, will in Mitte das Abstellen „einschränken“ – aber wo sollen die Räder hin? Egal, Hauptsache weg, zur Not mit Hilfe einer „Sondernutzungsgebühr“. Mehr Fahrräder, das ist rot-rot-grüne Senatspolitik – doch reguläre Stellplätze gibt es immer noch viel zu wenig. Die „Sharing Economy“ gilt als ökologischer Fortschritt – doch Verkehrssenatorin Günther will „gegensteuern“, wenn die Zahl der Leihfahrräder „ausufert“.

Dabei stehen 16.000 zusätzliche Räder in den vergangenen drei Jahren 38.600 zusätzlichen Autos gegenüber: 1,2 Millionen gibt es davon jetzt, Blech an Blech stehen sie am Straßenrand (was kaum jemanden zu stören oder auch nur aufzufallen scheint), auf Radstreifen, vor Fußgängerüberwegen – im Durchschnitt 23 Stunden pro Tag ungenutzt. Wären es 1,2 Millionen Leihräder, bräuchten sie nur ein Fünftel der Fläche, aber in der Stadt würden alle ausflippen. Auch, weil sich kaum jemand traut, auch nicht der grünste Senat, den Berlin bisher hatte, den Pkw-Fahrern klar und wenn nötig immer wieder zu sagen: Euch gehört zwar ein Auto, aber nicht die Straße – jedenfalls nicht allein.

Lorenz Maroldt

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