Fahrräder in der Hauptstadt: Berlins Last mit den Leihrädern
In Berlin stehen immer mehr Leihfahrräder herum. Sind sie eher Sicherheitsrisiko und Platzverschwendung? Oder helfen sie Umwelt und Gesundheit? Ein Pro & Contra.
- Carsten Werner
- Claudia Seiring
Die genaue Zahl kennt wohl niemand; es dürften aber jetzt schon über zehntausend Leihräder sein, die in der Stadt herumstehen. Klar ist: Es gibt sieben Anbieter – aus Deutschland, aus Dänemark, aus Singapur, aus China und jetzt auch aus den USA.
Während das Leipziger Unternehmen Deezer-Nextbike finanziell vom Senat gefördert wird und der Konkurrent Bahn sich den Discounter Lidl als Partner ausgeguckt hat, um über die Runden zu kommen, wollen Byke, Donkey Republic, Limebike, Mobike und Obike es alleine schaffen.
Limebike aus den USA, das erst vor Kurzem angetreten ist, bietet erstmals auch E-Räder an, deren Ausleihe etwas teurer ist als sonst üblich. Mobike hat angekündigt, noch mehr Räder stationieren zu wollen – auch mit einem neuen Modell.
Pro Leihfahrräder
Leihräder sind eine der gesunden Seiten der Digitalisierung: mehr Bewegung im Alltag, Sport by App. Gerade in Berlin war ich lange gerne Autofahrer und habe mein Großstadtauto abgeschafft. DB, Lidl und Nextbike, Cambio und DriveNow sei Dank: Ich fahre Fahrrad oder Auto, wann und von wo ich will. Ich gewinne der Stadt vollkommen neue Perspektiven ab: Denn Radfahren kann ich mit Smartphone, Apps und GPS inzwischen immer und überall.
Regelmäßig ertappe ich mich morgens im Hausflur beim Blick auf die Carsharing-App – um sie vor der Tür zu schließen und statt Auto das nächste Leihfahrrad zu schnappen: viel näher, billiger, gesünder, erfrischender, unterhaltsamer. Nach wenigen Wochen hatte ich Spaß daran – und sooo kalt ist es selbst im Winter nicht. Und sooo müde bin ich selbst nach dem Spätdienst um Mitternacht nicht, um nicht doch die schnellste Nahverkehrsoption zu wählen: zehn, zwölf Minuten von Tür zu Tür. Das wäre allein die Zeit, die ich bis zum Bahnsteig benötige, um dort wartend zu frieren. Das Auto? Nicht viel besser. Ich rege mich zu gern auf, wenn es nicht vorangeht.
Und überhaupt: Versicherung, Tanken, Reparaturen, Kaufen und Verkaufen – all die alltäglichen Abhängigkeiten, die Mobilität bisher von uns verlangt, sind nicht so meine Sache. Beim Leihradeln fällt das weg und wird zu einem Kilometer-, Minuten- oder Flat-Preis erledigt, von dem ich mir viel mehr Carsharing und Taxitouren gönnen könnte, als ich brauche.
Also bitte: Statt sich über falsch abgestellte Fahrräder aufzuregen, muss die Stadt Parkraum für Räder schaffen. Allein auf dem Platz, den mein Auto 23,5 Stunden am Tag herumstand, hätten jetzt im öffentlichen Straßenraum zehn Räder Platz. Und wie jedes Carsharing-Auto 15 private Pkw ersetzt, so ersetzt jedes Leihrad auch noch einmal etliche Privaträder.
Was Neues ist immer auch anstrengend und herausfordernd: weil es Raum fordert, Aufmerksamkeit und Regeln. Natürlich sind die Straßenverkehrsordnung und fast alle anderen Regeln im öffentlichen Raum auf viele Fahrräder nicht wirklich vorbereitet – sie sind ja für Autos erfunden und gemacht. Zeit, dass sich das ändert: dass Regeln und Räume auf mehr Fahrräder mit unterschiedlichen Nutzungsweisen vom trödelnden Touristen bis zum Berufsverkehrspendler und zur flinken E-Bikerin, vom Kinderrad über Rikscha und Gruppenstrampler bis zum Lastenrad angepasst werden: mit Überholspuren und -regeln, Parkplätzen, Vorfahrtsregeln, Unfallverhütungs- und Schutzmaßnahmen. Wenn Kraft für Regulierung da ist, könnte der fürsorgende Staat sich energisch darum kümmern, was mit den persönlichen Daten geschieht, die Apps und GPS-Räder mit jedem Pedaltritt von uns aufzeichnen.
Die Bilder von Leihfahrrad-Friedhöfen sind spektakulär – weil auch sie neu sind. Man muss sie nur mal mit einem Autofriedhof aka Schrottplatz vergleichen, um trotz allen Nerv- und Störungspotenzials ihren Zauber und Reiz zu verstehen: Sogar da sparen Räder noch Platz und Ressourcen. (Carsten Werner)
Contra Leihfahrräder
Auf dem Markt für Leihräder gibt es einen neuen Drängler: „Donkey Republic“ heißt sinnigerweise der Anbieter, der Touristen, Pendler und Gelegenheitsstrampler zum Zweirad verführen will und dessen Räder zunehmend die umkämpften öffentlichen Fahrradparkplätze an den Verkehrsknotenpunkten blockieren. Am Alex zeigen die orangen Eselskarren mittlerweile deutliche Präsenz, wer – wie anachronistisch! – mit seinem eigenen Fahrrad um die Ecke kommt, hat spätestens ab acht Uhr morgens das Nachsehen. Immer häufiger werden Bäume, Laternen oder andere senkrechte Hilfsmittel genutzt, um den privaten fahrbaren Untersatz zu sichern. Allerorten sieht es aus wie in einer unaufgeräumten Garage.
Während einige der Konkurrenten mit klickbaren Abstellsystemen arbeiten, verzichtet der farblich ebenfalls im sonnigen orange gehaltene chinesische Anbieter „mobike“ völlig auf Sicherung: Dessen Vollgummireifen für Menschen, die gerne Fahrrad fahren und dabei ihre Knie auf Höhe der Ohren in den Fahrtwind halten, dürfen einfach und überall abgestellt werden. Das führt in meinem Kiez dazu, dass die am Wochenende zur Party einfallenden Einheimischen wie Umlandberliner – die per Auto einreisen – zum Warmmachen erst einmal ein paar chinesische Zweiräder umtreten. Johlend. Wenn wir uns als Nachbarn am nächsten Morgen um die verkrümmten Räder kümmern, sie wieder aufstellen und tätscheln, dauert es meist nur bis zum nächsten Morgen und schon liegen sie wieder da.
Das ist allerdings immer noch besser als Menschen, die auf der Straße liegen. Dass das den Touristen, die sich der deutschen Hauptstadt übers Pedal-Treten nähern wollen, nicht öfter geschieht, ist eines der vielen unbeachteten Wunder Berlins. Wer einmal hinter einem spanischen Ehepaar Ü70 über die Karl-Liebknecht-Straße geradelt ist, der glaubt an Schutzengel. Es ist nicht zu fassen, mit welch ungeübtem Gestrampel (rechts und links nach Sehenswürdigkeiten linsend) der Tourist durch die Stadt cruist, zwischen Straßenbahn und Busspur pendelt, den Rechtsabbiege-Pfeil bestaunt und schließlich überraschend abbremst, um auf die Straßenkarte zu schauen.
Die seit wenigen Tagen auf Berlins Straßen grün leuchtenden Elektroräder des Anbieters LimeBike werden die Sicherheitslage noch verschärfen. Experten des Deutschen Verkehrsclubs warnen bereits davor, dass die höhere Geschwindigkeit der E-Bikes und deren Gewicht Ungeübte überfordern und die Verkehrssicherheit gefährden könnten. Ganz abgesehen davon, dass sie weiteren Platz wegnehmen.
Als Nebeneffekt der Ausbreitung des Leihfahrrades ergibt sich eine traurige Schlussfolgerung: Je mehr Fahrräder zur Verfügung stehen, desto weniger wird das einzelne geschätzt. Der Umgang mit ihnen wird gleichgültiger: es ist ja nicht das eigene. Das gilt für die Kunden, Einheimische wie Touristen. Die Verleiher aber mehren ihren Profit unter Nutzung des öffentlichen Raums und der städtischen, steuerfinanzierten Infrastruktur. Sie ernten, ohne gesät zu haben, und verschandeln das Stadtbild. (Claudia Seiring)
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