Lieferengpässe in Deutschland: Wichtige Medikamente oft monatelang nicht verfügbar
Antibiotika, Krebsmedikamente, Narkosemittel: In Deutschland kommt es bei Arzneien immer wieder zu Lieferengpässen - vor allem wenn es nur einen Hersteller gibt. Ärzte und Apotheker sind alarmiert.
Am Ende hat es den Patienten Guido Westerwelle zwar nicht retten können. Doch er gewann ein wenig Zeit. Der an Leukämie erkrankte und im März verstorbene Außenminister a.D. hatte sich im Herbst 2015 einer Knochenmarkstransplantation unterziehen müssen. Das dafür nötige Arzneimittel Alkeran war da gerade wieder in ausreichender Menge vorhanden.
Das Chemotherapeutikum mit dem Wirkstoff Melphalan ist in Deutschland als Medikament gegen verschiedene Krebsarten zugelassen, wird aber auch standardmäßig eingesetzt, um vor einer Transplantation unerwünschte Giftstoffe aus dem Körper zu spülen. Noch Monate zuvor, im Sommer 2015, hatte der südafrikanische Hersteller Aspen Pharmacare das Mittel wochenlang nicht liefern können. In diesem Frühjahr war Alkeran erneut vergriffen.
Es ist bei Weitem nicht der einzige Arzneimittelengpass, mit dem das deutsche Gesundheitswesen konfrontiert ist. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind derzeit 29 verschreibungspflichtige Medikamente aufgelistet, bei denen es zu Lieferengpässen kommen kann oder schon gekommen ist.
Neben diversen Antibiotika, Narkosemitteln, Hormonen und Medikamenten gegen Vergiftungen stehen auf der aktuellen Liste insgesamt sieben unterschiedliche Wirkstoffe gegen Krebs – darunter Melphalan. Die auf freiwilligen Angaben der Hersteller beruhende Auflistung spiegelt zudem nur einen Bruchteil der tatsächlich fehlenden Arzneimittel wider: Experten gehen davon aus, dass drei bis vier mal so viele Mittel fehlen, als auf der BfArM-Liste stehen. Die Auflistung wird alle zwei Wochen vom BfArM aktualisiert; die aktuelle Version (Stand 9.6.2016) finden sie hier.
Auch eine Patientin aus Bochum sah sich im Sommer 2014 mit dem Problem konfrontiert. Die 47-Jährige leidet an Nebenniereninsuffizienz und muss täglich zwei verschiedene Kortison-Medikamente einnehmen. „Mein Apotheker rief mich an und teilte mir mit, dass eines der Mittel auf unbestimmte Zeit nicht mehr verfügbar ist“, erzählt die Patientin.
Dann teilte der Darmstädter Hersteller Merck mit, der Engpass werde sich über anderthalb Jahre hinziehen. „Ich war in Panik“, sagt sie. „Die Arznei ist für mich lebensnotwendig.“ Im Internet recherchierte sie, dass im Ausland noch einige Chargen der begehrten Medizin vorhanden waren – und ließ sich von ihrem Arzt ein Privatrezept für sechs Packungen ausstellen.
2015 mussten Transplantationen verschoben werden
Doch auf diese Lösung können nicht alle Kranken hoffen. „Für uns wird ein Lieferengpass zu einem kritischen Versorgungsengpass, wenn es nur einen Anbieter und keine Therapiealternative gibt“, sagt Professor Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) in Berlin.
Und das ist etwa bei Alkeran der Fall: 2015 mussten Blutstammzelltransplantationen an 34 Zentren in ganz Deutschland verschoben werden, weil das Arzneimittel zeitweise nicht lieferbar war. Zwar sei durch die Engpässe bislang niemand zu Tode gekommen, sagt Wörmann, „aber für die Patienten und Angehörigen ist so etwas schwierig“. Die Diagnose Krebs sei für die meisten Menschen ohnehin ein „riesiger Abgrund“, die Therapie mit Medikamenten eine Brücke, um diesen zu überwinden. „Wenn da auch nur irgendeine Planke herausbricht, ist das der Horror.“
Wirkstoffe, deren Patent abgelaufen ist, erzielen weniger Gewinn
Melphalan gehört zu den „alten“ Wirkstoffen, deren Patent bereits vor Jahrzehnten abgelaufen ist. Die Produktion des hoch toxischen Stoffes ist für die Industrie mit hohen technischen und medizinischen Auflagen sowie großem Verwaltungsaufwand verbunden, bringt den Herstellern pro angewandter Chemotherapie aber allenfalls ein paar tausend Euro.
Im Vergleich zu neuartigen Medikamenten, die pro Behandlungszyklus mithin das Hundertfache einspielen, lässt sich mit Melphalan also kaum Gewinn erzielen. Die niedrige Profiterwartung ist laut Wörmann ein Grund dafür, dass sich immer mehr Unternehmen aus dem unlukrativen Geschäft zurückziehen.
Melphalan nur noch von einem Hersteller in Europa produziert
Auch beim Melphalan tummelten sich noch vor Jahren mehrere Hersteller auf dem Markt; mittlerweile hat Aspen Pharmacare in diesem Bereich ein Produktionsmonopol. Hergestellt wird der Wirkstoff in einer Anlage des britischen Unternehmen GlaxoSmithKline (GSK) in San Polo di Torrile nahe Parma (Italien), das Firmenanteile von Aspen besitzt.
Den erneuten Lieferengpass von Alkeran erklärt die von Aspen Pharmacare beauftragte PR-Agentur Fleishman Hillard mit „Unstimmigkeiten in der Dokumentation von Messwerten im Produktionsbereich“. Mittlerweile sei die Produktion wieder angelaufen, es werde wieder ausgeliefert – allerdings mit festgesetzten Lieferobergrenzen. Diese orientierten sich an der bisherigen Bestellmenge des Kunden: Wer in der Vergangenheit mehr geordert hat, hat nun bessere Chancen, an größere Mengen zu kommen.
Onkologe fordert Meldepflicht für Lieferengpässe
Onkologe Wörmann hält den aktuellen Status Quo bei der Arzneimittelversorgung dennoch für untragbar. Aus seiner Sicht muss die Politik die Pharmaindustrie verpflichten, Lieferengpässe umgehend zu melden. „Wir halten das für dringend erforderlich – entweder auf deutscher oder auf europäischer Ebene“, sagt er.
Nur durch eine Meldepflicht könnten Ärzte und Apotheker rechtzeitig und angemessen auf Lieferengpässe in der Arzneimittelversorgung reagieren. Doch wie es aussieht, bleibt die Pharmaindustrie erst einmal außen vor. Zwar erstellt das Bundesgesundheitsministerium derzeit eine Liste unverzichtbarer Arzneimittel – allerdings ohne eine Engpass-Meldepflicht für die Hersteller.
Industrie lehnt verpflichtende Vorratshaltung ab
Um die Versorgung von Patienten auch bei Lieferengpässen aufrechtzuerhalten, wäre auch eine obligatorische Vorratshaltung der Pharmaproduzenten denkbar, sagt Onkologe Wörmann. Doch die Industrie wiegelt ab. Lagerhaltung lohne sich aus mehreren Gründen nicht, sagt Matthias Braun, Geschäftsführer des Bereichs Industrial Affairs Wirkstoffe bei der deutsche Tochter des französischen Pharmakonzerns SanofiAventis.
Einer sei das Haltbarkeitsdatum der Medikamente, der die Hersteller dazu zwinge, ihre Produkte innerhalb von drei Monaten in den Handel zu bringen. Zum anderen koste Vorratshaltung die Pharmabetriebe Geld, das zumindest im deutschen Gesundheitssystem nicht erstattet werde. „Der Hersteller hat keine Garantie, dass er nicht auf seinen Beständen sitzen bleibt“, sagt Braun.