Merck-Chef im Tagesspiegel-Interview: „Die Deutschen haben eine romantische Seele“
Karl-Ludwig Kley, Chef des Pharmakonzerns Merck, über Innovationshürden, Milliardenkäufe und die Vorteile von TTIP.
Herr Kley, Sie verantworten die größte Übernahme in der fast 350-jährigen Firmengeschichte von Merck. 17 Milliarden Dollar soll der Kauf des amerikanischen Laborausrüsters Sigma-Aldrich kosten – können Sie noch ruhig schlafen?
Ich schlafe meistens sehr ruhig. Und wenn ich mal nicht schlafen kann, dann nicht wegen dieser Akquisition. Sie passt strategisch sehr gut in das, was wir in den vergangenen Jahren aufgebaut haben und wohin wir uns weiterentwickeln wollen. Ein hoher Kaufpreis ist in den Sektoren Pharma und Life Science nicht ungewöhnlich. Aber er ist solide finanziert und bei unserer starken Schuldentilgungsfähigkeit auch relativ schnell abzahlbar.
Wie funktioniert das?
Vor ungefähr einem Jahr haben wir die Firma AZ Electronic Materials gekauft und hatten damit Schulden von etwas mehr als zwei Milliarden Euro. Die sind praktisch wieder auf null, das heißt wir waren in der Lage, das innerhalb von zwölf Monaten abzutragen. Wir werden, wenn wir die Akquisition von Sigma wie geplant Mitte des Jahres abschließen können, etwa zwölf Milliarden Euro Schulden haben. Null Schulden ist sicher kein betriebswirtschaftlich sinnvolles Ziel. Aber wir denken schon, dass wir in drei bis vier Jahren die Schulden so weit abgebaut haben, dass Merck damit wieder handlungsfähig für weitere große Schritte sein wird.
Wie relevant ist die aktuelle Euroschwäche im Verhältnis zum Dollar?
Wir haben ein gutes Händchen gehabt und haben den Kaufpreis frühzeitig gegen Währungsschwankungen abgesichert. Die aktuelle Schwäche des Euro wirkt sich deswegen nicht negativ auf den Kaufpreis aus. Mittelfristig dürfte sich die Euroschwäche für uns sogar positiv auswirken, weil ein Gutteil unseres Geschäfts in den USA oder Staaten mit Dollarbindung stattfindet und wir für die Umsätze aus den Dollar-Ländern mehr Euro bekommen.
Welche Produkte liefern Sigma-Aldrich und Ihr bisheriges Life-Science-Geschäft Merck Millipore?
Eigentlich alles fürs Labor: Von Spezialfiltern über hochreines Laborwasser, wo wir ein führender Anbieter sind, bis hin zu Zellkulturmedien, Analysematerialien und alles, was die Wissenschaftler für chemische Reaktionen benötigen. Es ist eine enorm große Produktpalette, nicht für Endverbraucher, sondern für Institutionen, die mit unseren Produkten Forschung betreiben – von Universitäten bis zur Pharma- und Ernährungsindustrie. Unsere zweite Kundengruppe kommt aus der biotechnologischen und pharmazeutischen Produktion, die mit unseren Produkten Arzneimittel herstellen.
Insgesamt 300 000 Produkte müssen registriert und lizensiert werden. Würde Ihnen ein Abkommen wie TTIP helfen?
Ein Wegfall von Zöllen hätte direkte finanzielle Vorteile für Merck, die sich aber in überschaubarem Rahmen bewegen. Wichtiger wäre für uns eine Angleichung von Standards oder eine gegenseitige Anerkennung von Genehmigungen. Im Moment ist es zum Beispiel so, dass mehr klinische Studien für Arzneimittel durchgeführt werden als unbedingt nötig wäre – nur, weil in Europa und den USA unterschiedliche Regeln greifen. Geholfen wäre uns auch mit einem einheitlichen Kontrollsystem. Derzeit gibt es Hunderte von Inspektionen durch die europäischen und amerikanischen Arzneimittelbehörden, die inhaltlich fast deckungsgleich sind. Die könnten gegenseitig anerkannt werden. Dann könnten wir mehr produktive Kraft für Innovationen einsetzen, anstatt auf beiden Seiten des Atlantiks Formulare auszufüllen.
Innivationen in Deutschland: "Es gibt zu viele Partikularinteressen"
Wie sind die Bedingungen für Innovationen in Deutschland?
Der gesellschaftliche Konsens darüber, dass wir Innovationen brauchen, wenn wir unser Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell beibehalten wollen, ist nicht groß genug. Es gibt hierzulande zu viele Partikularinteressen, die kein Interesse an Innovation haben. Die einen wollen einfach nur Ruhe in ihrem Umfeld. Dann ist eine alternde Gesellschaft per se weniger innovationsfreudig. Und es gibt politische oder weltanschauliche Gründe. Sie alle schlagen sich letztlich in einer innovationsskeptischen Haltung nieder. Die deutsche Gesellschaft ist innovationsskeptischer als viele andere Gesellschaften. Mangels Rohstoffen und angesichts höherer Kosten in allen gesellschaftlichen Bereichen brauchen wir Innovationen.
Wie erklären Sie sich die deutsche Technologie-Skepsis, wenn es sie denn gibt?
Die Deutschen waren die Erfinder der Romantik; in der Ablehnung von Innovationen und dem Bewahren des Bestehenden spiegelt sich sicherlich die romantische Seele wider. Eine zweite Erklärung könnte die Alterung der Gesellschaft sein. Wenn ich mit jungen Menschen spreche, sehe ich zwar viel Willen und Freude am Aufbruch. Aber leider findet das in der öffentlichen Wahrnehmung nicht genug Widerhall. Und drittens haben die Deutschen eine starke Neigung, den Staat als Übervater zu sehen. Die unternehmerische und innovatorische Freiheit ist deutlich geringer ausgeprägt als die staatliche Lust am Regulieren.
Haben es deshalb Unternehmensgründer schwerer als in anderen Ländern?
Problematisch für die jungen Unternehmer ist meines Erachtens die Regelungsintensität: Erst kürzlich habe ich mit zwei Gründern gesprochen. Sie mussten sich vor allem damit befassen, Kreditunterlagen zu erstellen, sich mit dem Handelsgesetzbuch und dem deutschen Steuerrecht auseinandersetzen – dabei wollten sie doch nur forschen.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Wir brauchen einen Befreiungsschlag auf der Gründerebene. Zum einen muss man Geld zur Verfügung stellen. Zum anderen sollte man die Leute doch bitte forschen lassen – und sie nicht dazu zwingen, die Hälfte ihres Geldes und ihrer Energie für Regularien zu verschwenden.
Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war 2007 der Verkauf der Generika-Sparte. Würden Sie das heute wieder so machen?
Ich denke, es war die richtige Entscheidung. Wir haben von unserer Größe her begrenzte Ressourcen – wir können nicht alles machen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir am besten können und was das Unternehmen am nachhaltigsten sichert. Außerdem mussten wir selektieren, weil wir zu diesem Zeitpunkt schon viel Geld für den Kauf des Biotechnologieunternehmens Serono ausgegeben hatten.
Mit Generika lässt sich Geld verdienen.
Wir hätten in der Sparte erheblichen Investitionsbedarf gehabt: Unsere Herstellungskosten waren auf Dauer nicht konkurrenzfähig. Vereinfacht gesagt: Wir konnten Generika nicht gut genug. Außerdem ist es ein Geschäftsmodell, das nicht zur Seele von Merck passt. Merck ist ein Innovationsunternehmen par excellence. Der Handel mit Generika aber ist nicht innovativ, sondern zielt darauf, Innovationen bei anderen auszuhebeln. Es wird über Kostenvorteile gesteuert und nicht über technologischen Fortschritt.
Merck ist börsennotiert, aber trotzdem mehrheitlich in Familienhand. Welche Verpflichtungen ergeben sich daraus?
Die Familie möchte gerne ein nachhaltig erfolgreiches Unternehmen an die nächste Generation übergeben. Nachhaltig erfolgreich können Sie nur sein, wenn Sie die richtige Mischung finden aus Werten und wirtschaftlichem Erfolg. Wenn Sie Letzteren nicht haben, können Sie die Tradition in der Pfeife rauchen. Das heißt: Unternehmerische Entscheidungen müssen bei uns wie in jedem anderen Unternehmen getroffen werden.
2006 hat sich Ihr Unternehmen um die Übernahme von Schering bemüht und ist gescheitert. Sind sie daher nicht in Berlin präsent?
Mercks Sitz und größter Standort ist Darmstadt. Das ist seit 347 Jahren so und soll auch in Zukunft so bleiben. Mit Interesse beobachten wir Berlins lebendige und immer aktivere Start-up-Kultur in der Biotechnologie – auch in der Kooperation mit Universitäten. Das finden wir sehr spannend und arbeiten vielfach zusammen. 2012 haben wir das Berliner Unternehmen Biochrom übernommen. Auf dem Gebiet der Biotechnologie kann ich mir eine größere Präsenz in Berlin durchaus vorstellen.
— Das Interview führten Kevin P. Hoffmann und Sarah Kramer.
ZUR PERSON
KARRIERE
Karl-Ludwig Kley wurde am 11. Juni 1951 in München geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei Siemens und studierte danach von 1974 bis 1979 Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach dem Studium startete Kley seine Karriere beim Pharmakonzern Bayer. Dort arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen unter anderem im Bereich Konzernfinanzen, als Assistent des Vorstandsvorsitzenden und als Leiter der Bayer-Finanzabteilung in Japan. 1998 wechselte Kley von Bayer in den Vorstand der Lufthansa, wo er das Ressort Finanzen verantwortete.
UNTERNEHMEN
Im September 2006 zog es Kley zum Darmstädter Pharmakonzern Merck, wo er seit 2007 Vorsitzender der Geschäftsführung ist. Das Unternehmen entwickelt und produziert unter anderem verschreibungspflichtige Medikamente wie Mittel gegen Herzkreislauferkrankungen oder Krebs. Zudem vertreibt Merck rezeptfreie Produkte zur Selbstmedikation. In dem Konzern arbeiten weltweit rund 38 000 Mitarbeiter.
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