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Sonst nur selten einer Meinung: Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen IW Köln, Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen IMK, Industriepräsident Dieter Kempf und DGB-Chef Reiner Hoffmann.
© imago images/Metodi Popow

Angriff auf die schwarze Null: Industrie und Gewerkschaften fordern 450 Milliarden Euro

Ein ungewohntes Bündnis sagt der schwarzen Null den Kampf an. Deutschland sei ein „Schnarchland“ geworden, sodass massive Investitionen nötig seien.

Wenn sich Dieter Kempf und Reiner Hoffmann zusammentun, dann soll das etwas heißen. Der Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes haben am Montag eine gemeinsame Forderung an die Bundesregierung gerichtet: Investiert mehr und macht dafür neue Schulden. Und zwar nicht zu wenig.

BDI und DGB erwarten, dass der Bund in den kommenden zehn Jahren jedes Jahr 45 Milliarden Euro zusätzlich investiert. Macht zusammen also 450 Milliarden Euro – ein gewaltiges Paket, das am Ende die aktuelle Verschuldung des Bundes, die bei einer Billion Euro liegt, um fast die Hälfte erhöhen würde.

Doch Kempf und Hoffmann sehen dringenden Bedarf. Bei den Ausgaben für Infrastruktur, Digitalisierung und auch Bildung sei Deutschland zum „Schnarchland“ geworden, bemängelt Kempf. Zudem werde die klimapolitische Wende nicht gelingen ohne massive zusätzliche Ausgaben auch des Staates. Eine „Investitionsoffensive, die Aufbruchstimmung für eine gute Zukunft weckt“, verlangt Hoffmann.

Das Problem ist allerdings, dass die Schuldenbremse im Grundgesetz eine Neuverschuldung in diesem Umfang nicht zulässt. Bund und Länder müssen in wirtschaftlich normalen Zeiten ihren Etat grundsätzlich ohne neue Schulden ausgleichen. Da der Bund seit 2014 Überschüsse macht, haben Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und sein Vorgänger Wolfgang Schäuble (CDU) auch keinen Anlass gesehen, den kleinen Verschuldungsspielraum, den die Verfassung jährlich lässt – 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – auszunutzen. Die schwarze Null ist daher seit Jahren Regierungspolitik.

Kein klassisches Konjunkturpaket

Im neuen Haushalt für 2020, den der Bundestag demnächst beschließen wird, könnten etwa 12 Milliarden Euro an neuen Schulden aufgenommen werden, ohne gegen das Grundgesetz zu verstoßen – was Schwarz-Rot aber nicht macht. Allein die aus den Überschüssen gespeiste Rücklage ist mit 40 Milliarden Euro derzeit deutlich höher. Dazu kommen weitere Milliarden, die brach liegen, weil Investitionsmittel nicht in der Höhe abfließen, in der sie vom Bund bereitgestellt werden, ob nun für Länder, Kommunen oder Private.

Eine Zweidrittelmehrheit zur Abschaffung der Schuldenbegrenzung im Grundgesetz ist derzeit nicht absehbar. Hoffmann und Kempf fordern sie denn auch gar nicht. Sie wollen auch kein klassisches schuldenfinanziertes Konjunkturpaket. Denn der aktuelle Dämpfer knapp an der „technischen Rezession“ vorbei ist noch kein echter Abschwung, der eine solche Spritze für die Wirtschaft üblicherweise nötig machen würde. Das ist auch die bisherige Linie des Bundesfinanzministeriums. Scholz verweist landauf, landab darauf, dass die Regierung die Summe für Investitionen im Etat zuletzt stetig nach oben gefahren habe.

Kempf und Hoffmann sprechen daher auch lieber von einem längerfristig angelegten Investitionsprogramm, um die Ursachen der Wachstumsschwäche anzugehen. Die beiden Verbandschefs schlagen dafür eine Umgehung der Verfassung vor: Sie wollen, dass der Bund einen aus Krediten finanzierten Nebenhaushalt anlegt: ein so genanntes Sondervermögen. Das würde nicht unter die Schuldenbremse des Grundgesetzes fallen, wohl aber unter die Schuldenregel der Europäischen Union, die nicht mehr als drei Prozent Neuverschuldung pro Jahr zulässt und nicht mehr als 60 Prozent Gesamtschuldenstand (gemessen am BIP). Letzteres hat Deutschland gerade erst wieder geschafft, nachdem die Finanzkrise eine deutliche Schuldenvermehrung auf zwischenzeitlich mehr als 80 Prozent erzwang.

138 Milliarden für Kommunen, 110 Milliarden für die Bildung

Die wissenschaftliche Rechtfertigung für dieses Vorgehen kommt von zwei Ökonomen, die ansonsten nicht immer einer Meinung sind. Michael Hüther leitet das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Sebastian Dullien ist Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Hüther vergleicht das ausgelagerte Sondervermögen mit einer „Überholspur für Schuldenfinanzierung“, über die – so Dulliens Formulierung – die jahrelange „Investitionspolitik nach Kassenlage“ beendet werden solle.

Welchen Stellenwert die schwarze Null in der Bundespolitik hat, machten rund 400 Beschäftigte des Bundesfinanzministeriums deutlich als sie zum Abschied für den scheidenden Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine solche formten.
Welchen Stellenwert die schwarze Null in der Bundespolitik hat, machten rund 400 Beschäftigte des Bundesfinanzministeriums deutlich als sie zum Abschied für den scheidenden Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine solche formten.
© dpa

Die beiden Ökonomen haben den Investitionsbedarf in Deutschland auf etwas mehr 450 Milliarden Euro taxiert. Davon entfielen 138 Milliarden Euro auf Maßnahmen der Kommunen. 110 Milliarden Euro fehlen demnach im Bildungsbereich, auch beim Personal. 60 Milliarden Euro mehr müsste die Bahn bekommen, bei 75 Milliarden Euro liege der staatliche Anteil für die Energiewende mit dem Ziel der CO2-Neutralität. Der Rest entfällt auf Felder, in denen die Regierung schon Besserung gelobt hat: jeweils 20 Milliarden Euro beim öffentlichen Nahverkehr, dem Breitbandausbau und den Fernstraßen sowie 15 Milliarden Euro für die Wohnungsbauförderung.

Hüther und Dullien halten eine forcierte Neuverschuldungspolitik aus mehreren Gründen wieder für möglich. Zum einen sei der deutsche Staatshaushalt konsolidiert und erfülle die EU-Vorgaben wieder. Zweitens stehe dem Zuwachs an Schulden ein Zuwachs an Vermögen gegenüber. Drittens finanziere sich ein solches Wachstumsschubprogramm teils selbst, weil es zu Steuermehreinnahmen führe. Und schließlich seien die Zinsen weiterhin niedrig. Der IW-Ökonom erwartet, dass das Zinsniveau noch „auf lange Sicht“ niedrig bleiben werde.

Was, wenn die Zinsen wieder steigen?

Käme es anders, würde sich die Haushaltslage des Bundes freilich in der Zukunft anders darstellen als heute. Derzeit liegt der Durchschnittszins auf Bundesanleihen bei nur 1,3 Prozent, die Zinsausgaben sinken kontinuierlich. Ändert sich die Großwetterlage aber, weil die Zentralbanken den Leitzins doch nach oben drehen, dann müsste der Bund nach Auslaufen des Milliardenprogramms für eine deutlich höhere Schuldenlast mehr Zinsen bieten als bisher – was wiederum den Spielraum für Investitionen in diesen späteren Jahren verringert. Zumal der Bund in aller Regel seine Schulden nicht tilgt.

Dass die Investitionsmittel, welche die Regierung bereitstellt, seit Jahren nicht in dem Tempo abfließen, wie es gewünscht ist, nehmen BDI und DGB zwar zur Kenntnis. Als Ausrede aber wollen sie das nicht gelten lassen. Hoffmann nennt Genehmigungsverfahren, die sich zu lange hinziehen, als Problem, Kempf fordert aus diesem Grund schnellere Planungsverfahren. Beide möchten, dass mehr Personal aufgebaut wird – der Gewerkschaftschef nennt die Behörden, der Arbeitgeberchef verweist nicht zuletzt auf die Bauwirtschaft. Das Milliardenprogramm über zehn Jahre soll auch ein Anreiz sein, in den Branchen, die von den Investitionen profitieren würden, mit einem längeren Blick voraus mehr Mitarbeiter auszubilden und einzustellen. Hüther erwartet zudem, dass sich durch höhere Binneninvestitionen der international kritisierte deutsche Leistungsbilanzüberschuss zurückentwickelt.

Linke und Grüne unterstützen Vorstoß

Im Bundestag haben Kempf und Hoffmann durchaus Unterstützung zu erwarten, wenn auch nicht unbedingt in den Koalitionsfraktionen – dort sympathisiert nur die SPD-Linke mit Schuldenprogrammen, während vor allem die Union die schwarze Null als Markenzeichen pflegt. Aber Grüne und Linke sind mit im Boot. Der Linken-Finanzpolitiker Fabio De Masi sagte dem Tagesspiegel: „Wer sich trotz Abschwung und Minuszinsen vor kreditfinanzierten Investitionen verschließt, lässt die Geldscheine auf dem Bürgersteig liegen.“ Deutschland brauche ein öffentliches Investitionsprogramm sowie eine Wiederbelebung des Kurzarbeitergelds, um den Abschwung zu bremsen. „Nur wenn die öffentlichen Investitionen anziehen, wird auch die private Bauwirtschaft ihre Kapazitäten ausbauen.“ Der Grünen-Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler forderte:  „Das Dogma schwarze Null muss fallen.“ Seine Partei fordert ebenfalls einen kreditfinanzierten Topf neben dem Haushalt, um Investitionen anzukurbeln. „Angela Merkel und Olaf Scholz müssen endlich runter von der Investitionsbremse. Kreditfinanzierte Investitionen sind angesichts der Herausforderungen der Klimakrise und der Digitalisierung das richtige Mittel. Sie sind auch eine nachhaltige Antwort auf die schwächelnde Konjunktur.“

Nach der Kabinettsklausur in Meseberg verteidigte Merkel am Montag die schwarze Null. Sie bleibe die Richtschnur. Man könne mit dieser Haushaltspolitik ebenfalls Wachstum generieren. Der Bundesfinanzminister verwies darauf, dass der Bund in den kommenden zehn Jahren mehr als 400 Milliarden Euro für Investitionen bereitstellen werde. Dazu kämen noch 150 Milliarden aus dem Klimapaket.

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