IMK-Direktor Sebastian Dullien: "Die Lage ist so ernst wie zuletzt bei der Eurokrise"
Deutschland braucht ein Konjunkturprogramm in Milliardenhöhe, meint IMK-Direktor Sebastian Dullien. Wie das aussehen könnte, erklärt er im Interview.
Seit April ist Sebastian Dullien Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Er hat an der FU Berlin promoviert und arbeitete einige Jahre als Redakteur bei der „Financial Times Deutschland“. 2007 wurde er als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin berufen. Das IMK gehört zur gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.
Herr Dullien, was ist ein Gewerkschaftsökonom?
Ökonomen haben bestimmte Wertvorstellungen, und meine sind womöglich näher an Gewerkschaften dran als die Vorstellungen anderer Ökonomen. Auch deshalb hat mich der Vorstand der Hans- Böckler-Stiftung zum Direktor des Instituts für Makroökonomie IMK berufen.
Was sind das für Werte?
Zum Beispiel die Frage, wie eine gute und gerechte Verteilung in der Gesellschaft aussieht. Das ist ja keine rein ökonomische Frage, sondern auch eine Wertefrage.
Sind Verteilungsfragen nicht nachrangig in diesen Fridays-for-Future-Zeiten?
Keineswegs. Die Wahlergebnisse lassen einen anderen Schluss zu. Es geht nicht nur um Einkommen und Vermögen, sondern auch um die Verteilung von Lebenschancen und Lebensqualität. In Regionen, in denen die Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu werden und nur geringe Entwicklungschancen haben, ist die AfD besonders erfolgreich. Wenn es keine Infrastruktur gibt, kein Internet und keine Bildungs- und Kultureinrichtungen, dann ist das eben auch eine Verteilungsfrage.
Wir haben fast zehn Jahre Aufschwung erlebt mit sinkender Arbeitslosigkeit und steigenden Einkommen. Warum fühlen sich trotzdem so viele Menschen abgehängt?
Wenn jemand vor zehn Jahren im Niedriglohnsektor gearbeitet hat und den Job jetzt immer noch macht, dann sieht er womöglich seine Lebenschancen schrumpfen. Insbesondere dann, wenn ein Kind kommt, die Wohnung zu klein wird und die Mietbelastung kaum zu tragen ist. Das war vor zehn Jahren möglicherweise anders. Gerade in Berlin.
Wegen der steigenden Mieten?
Nicht nur. Die Schulen sind in einem schlechten Zustand, und die Leute, die mehr Geld haben, schicken ihre Kinder auf eine Privatschule. Das ist dann auch ein Beispiel für ungerechte Verteilung von Lebenschancen. Oder wenn sie Probleme haben, einen zu Kitaplatz bekommen, dann stellen sie als wohlhabende Eltern eine Kinderfrau ein, während die Alleinerziehende sich kaum zu helfen weiß.
Besserung ist in Sicht: Der Berliner Senat unter Michael Müller hat das Jahrzehnt der Investitionen ausgerufen.
Man hätte viel früher erkennen müssen, wie man die Infrastruktur heruntergewirtschaftet hat und wie sich die Bevölkerung entwickelt. Unter dem Finanzsenator Sarrazin ist einiges schiefgelaufen. Es wurden Grundstücke abgegeben und Schulen abgerissen. Das war fahrlässig, weil eine unsichere Prognose zur Grundlage einer Politik wurde, die dann Fakten geschaffen hat. Das darf man als Politiker nicht tun: Wenn die Prognose unsicher ist, muss man sich Optionen offenhalten.
Wie sieht Ihre Prognose aus für die deutsche Wirtschaft?
Viel hängt von der Autoindustrie ab, die strukturelle und konjunkturelle Probleme zu bewältigen hat. Die Umstellung auf Elektromobilität ist anspruchsvoll und teuer. Hierzulande werden nicht unbedingt die Autos gebaut, die nachgefragt werden: SUVs stammen vor allem aus Fabriken im Ausland. Und dann gibt es immer noch technische Probleme bei der Modellumstellung, weshalb der VW Golf später kommt als geplant. Schließlich sind die Zulieferer so ausgequetscht, dass sie bei rückläufigem Absatz kaum noch Geld für Investitionen haben. Und dann wird es spannend: Wie lange bleibt die Binnenkonjunktur noch stabil, wenn es Entlassungen im Automobilsektor gibt?
Also rutschen wir in die Rezession?
Seit mehr als einem Jahr schrumpft die Industrie. Nach dem Verlauf früherer Aufschwungphasen wären wir bereits wieder in einer Rezession, doch der private Konsum und die Baukonjunktur haben das bislang verhindert. In diesem Aufschwung ist der Konsum mitgelaufen, das war in den früheren Zyklen nicht so. Ob die Binnennachfrage stabil bleibt, hängt jetzt von mehreren Faktoren ab.
Zum Beispiel vom Klimaschutz?
Grundsätzlich ist Unsicherheit für die Unternehmen schädlicher als ein klarer Kurs. Wir bräuchten einen langfristigen Masterplan zum Klimaschutz über einige Jahrzehnte mit klaren Vorgaben und Maßnahmen. Es besteht aber die Gefahr, dass wir eine Zusammenstellung bekommen von Projekten einzelner Ministerien oder Personen, die nicht eingebettet sind in ein Gesamtkonzept, an dem man im Übrigen auch die Grünen beteiligen sollte.
Sie stellen sich schon auf einen Kanzler Habeck ein?
Nein. Wir könnten auch eine grün-rot-rote Regierung bekommen oder Schwarz-Grün unter Führung der Union.
Dann gebe es noch mehr Unsicherheit.
Nicht unbedingt. Die größeren Risiken sind der harte Brexit und Donald Trump, der im November womöglich Autozölle verhängt. Das wäre für die deutsche Industrie hart.
Also wird das ein düsterer Herbst?
Jedenfalls ist das im Moment die ernsteste Situation für die deutsche Wirtschaft seit der Eurokrise.
Was ist zu tun?
Unsicherheit reduzieren und die großen Herausforderungen angehen. Ich würde mich dem Kollegen Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft anschließen, der für die kommenden zehn Jahre ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro vorschlägt.
Wofür soll das Geld ausgegeben werden?
Verkehrsinfrastruktur, Bildung, Klimaschutz und Wohnungsbau. Sobald klar ist, dass so etwas kommt, stabilisiert das die Konjunktur. Und veranlasst womöglich die Bauindustrie, endlich ihre Kapazitäten aufzubauen. Nach den Erfahrungen in der Baukrise der 1990er Jahre scheut die Branche davor bislang zurück.
Ein derartig großes Programm ist doch Wunschdenken – Schuldenbremse und EU-Restriktionen lassen das nicht zu.
Wo ein Wille ist…. Über so einen visionären Ansatz könnte man Politik gestalten und die Konjunktur stabilisieren. Als John F. Kennedy das Projekt der Mondlandung aufgerufen hat, war das eine positive Vision für die USA. Der Klimaschutz könnte so eine Vision für uns sein. Es gibt durchaus die Chance, dies ohne große Verluste an Einkommen und Beschäftigung zu schaffen. Aber nicht mit Klein- Klein, hier eine Milliarde und da eine Milliarde, wie es gerade dem einen oder anderen Minister passt.
Betonen Sie deshalb die Fiskalpolitik, weil die Möglichkeiten der Geldpolitik weitgehend ausgereizt sind?
Ja. Der Staat muss mehr Schulden machen, damit der Zins wieder steigt, dafür plädiert zum Beispiel Carl Christian von Weizsäcker in seinem neuen Buch. Die Fiskalpolitik hat derzeit die größten Spielräume – trotz der Schuldenbremse, die diese Spielräume ja für die kommenden Generationen erheblich einschränkt.
Eine hohe Verschuldung belastet auch die nächsten Generationen.
Dafür wachsen die mit einer vernünftigen Infrastruktur auf. Schulden sind nicht per se schlecht. Ohne eine deutlich höhere Verschuldung hätte Helmut Kohl die Vereinigung so nicht machen können. Wenn wir eine Politik nach Kassenlage machen, dann fallen große strategische Projekte hinten runter. Oder es gibt stattdessen volkswirtschaftlich sinnlose Dinge wie Mütterrente oder Baukindergeld.
Was sind kurzfristig die größten Gefahren für die deutsche Wirtschaft: Trump, Johnson oder AKK?
Das Platzen der großen Koalition und Neuwahlen im kommenden Frühjahr wären kein Problem, denn die Unsicherheit ist dann weg. Im Moment haben wir die Situation, dass wir nicht wissen, ob die Groko hält. Der harte Brexit ist nicht schön – aber keine Katastrophe. Schwieriger wäre eine Verschärfung des Handelsstreits mit Zöllen auf deutsche Autos. Und ein Aufflackern der Euro-Krise, weil italienische Populisten aus der Eurozone austreten wollen, hätte das größte Katastrophenpotenzial.
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