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In Südfrankreich protestierten Anfang des Jahres pharmakritische Aktivisten gegen den Preis eines neuen Hepatitis-C-Medikaments des US-amerikanischen Pharmakonzerns Gilead. Eine Tablette davon kostet umgerechnet rund 700 Euro.
© AFP

Streit um Arzneimittelpreise: 20.000 Euro für ein Medikament

Im ersten Jahr nach der Zulassung kann die Pharmaindustrie jeden Preis verlangen. Die Kassen stöhnen.

700  Euro für eine Tablette? Das gibt es tatsächlich. Was auf der einen Seite ein Super-Geschäft ist für die Pharmaindustrie, ist auf der anderen Seite ein irrer Kostenblock für die Kassen und damit die Gemeinschaft der Versicherten. Kein Wunder, dass die Krankenkassen Nachbesserungen beim Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (Amnog) verlangen, um für neue Medikamente keine „Wucherpreise“ mehr zahlen zu müssen. Am Beispiel des Hepatitis-Mittels Sovaldi zeige sich, dass einige Pharmahersteller „eine völlig überzogene Hochpreispolitik“ betrieben, sagt die Chefin des Ersatzkassenverbandes, Ulrike Elsner.

Gilead verlangt knapp 20.000 Euro je Packung

Für das neue Mittel verlangt das Pharmaunternehmen Gilead knapp 20.000 Euro je Packung – und damit mehr als 700 Euro pro Tablette. „Das sind Wucherpreise und nicht mit den Kosten für Herstellung und Entwicklung begründbar“, sagte Elsner. Und Sovaldi sei kein Einzelfall. Vor allem für Krebsbehandlungen und seltene Erkrankungen brächten die Pharmahersteller zahlreiche neue Medikamente und Wirkstoffe auf den Markt, für die sie zwölf Monate lang völlig überhöhte Preise verlangten, bevor es dann zu einer Preisregulierung durch Verhandlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen komme. Um dies zu verhindern, sollten die ausgehandelten Erstattungspreise künftig rückwirkend gelten, forderte die Verbandschefin.

Die AOK sieht eine Gesetzeslücke

Auch der AOK-Bundesverband sieht eine „Gesetzeslücke“, die schnell geschlossen werden müsse. „Ein Medikament, das Nutzen stiften kann, verursacht im Gesundheitswesen überaus schädliche Nebenwirkungen“, sagte der geschäftsführende Verbandsvorstand Uwe Deh dem Tagesspiegel. „Wir können hier beobachten, wie ein Arzneimittelhersteller geschickt die zwölf Monate der freien Preisbildung nutzt, um damit seinen Gewinn in einer Art und Weise zu optimieren, die bislang zum Glück Seltenheitswert hat.“ Wenn man dies dulde, werde es „viele Nachahmer geben“, warnte Deh. Erforderlich sei „ein Erstattungspreis, der schon ab dem ersten Tag der Vermarktung eines Produkts wirksam ist.“

Die Jahrestherapiekosten pro Patient belaufen sich auf 60.000 bis 120.000 Euro

Sovaldi gilt als Durchbruch in der Therapie von Hepatitis-C-Infektionen. Seit Dezember 2013 ist das Medikament in den USA zugelassen, seit Ende Januar auch in Europa. Dem Hersteller Gilead brachte es schon im ersten Halbjahr laut Geschäftsbericht mehr als 5,7 Milliarden Dollar ein – vorwiegend in den USA, da die Vermarktung in Europa erst begonnen hat.

Gleichwohl hat es das teure Medikament in Deutschland schon drei Monate nach der Markteinführung auf Platz drei der umsatzstärksten Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geschafft. Nach AOK-Angaben lagen die Kassenausgaben dafür bis zum Mai bei 123 Millionen Euro.

Und bei den Prognosen wird manchem Funktionär schwindlig. Die Experten des Gemeinsamen Bundesausschusses beziffern die Zahl der Menschen mit diagnostizierter Hepatitis C hierzulande auf etwa 100.000. Einen Zusatznutzen hätte das neue Medikament aus ihrer Sicht für jeden Zweiten, weil die Behandlung kürzer ist und weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind. Die Jahrestherapiekosten pro Patient belaufen sich auf 60.000 bis 120.000 Euro. Macht nach AOK-Schätzungen rund fünf Milliarden Euro nur für dieses eine Medikament. Zum Vergleich: Für sämtliche Arzneimittel gibt die GKV derzeit pro Jahr rund 30 Milliarden Euro aus.

Bei neuen Medikamenten gilt eine "Schonfrist" für die Hersteller

Und Sovaldi ist nicht das einzige Medikament, das den Kassen Probleme bereitet. Als weitere Beispiele nennt Elsner Yervoy des Herstellers Bristol-Myers Squibb zur Behandlung von Hauttumoren – für mehr als 14.000 Euro – und Kalydeco von Vertex zur Behandlung der zystischen Fibrose – für 22.000 Euro je Packung.

Der Gesetzgeber habe den Pharmafirmen bei der Einführung neuer Produkte eine „Schonfrist“ gewährt, sagt der Bremer Pharmaexperte Gerd Glaeske. Es sei vorhersehbar gewesen, „dass sie in diesen zwölf Monaten noch mal so richtig zulangen“. Diese „Lücke“ müsse beseitigt werden, meint auch er, die Preise müssten im Bedarfsfall nachträglich korrigiert werden können. „Rückzahlungen der Arzneihersteller kennen wir schon aus den Rabattverträgen, das ist nichts Besonderes“, sagte Glaeske dem Tagesspiegel. Die Alternative wäre eine Preisfestsetzung vom ersten Tag der Markteinführung an. Dies aber sei nicht wünschenswert, weil man mit den neuen Medikamenten ja auch Erfahrungen sammeln müsse.

Eine Gesetzesänderung ist unwahrscheinlich

Dass es zu einer Gesetzesänderung kommt, ist dennoch unwahrscheinlich. Insbesondere in der Union sind sie heilfroh, dass die mächtige Pharmalobby den politischen Eingriff in ihre bislang freie Preisfestsetzung einigermaßen akzeptiert hat. Die bestehende Regelung sei gut und habe sich bewährt, sagte CDU-Experte Jens Spahn dem Tagesspiegel. „Es braucht auch eine gewisse Verlässlichkeit für die Unternehmen.“ Zudem sei „die Marktdurchdringung“ in den ersten Monaten ohne Preisregulierung „aller Erfahrung nach nicht sehr hoch“.

Der Verband der forschenden Arzneihersteller (Vfa) sieht keinen Grund für eine Kostendebatte. Die Abgabepreise lägen auf dem niedrigsten Stand seit 2000, sagte Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer auf Anfrage. Im April sei der Preisindex um 1,4 Prozent, im Mai nochmals um 0,2 Prozent gesunken. Die GKV spare dadurch in diesem Jahr etwa 400 Millionen Euro. Und um zu beurteilen, ob die Kosten eines neuen Medikamentes gerechtfertigt seien, müssten auch die Kosten der dadurch überflüssig werdenden konventionellen Therapie gegengerechnet werden. Im Falle einer Hepatitis-C-Therapie könnten „viele für Patienten belastende und das Gesundheitssystem teure Lebertransplantationen eingespart werden“, sagte Fischer. „Wenn eine Kostendebatte unfair geführt wird, sind letztendlich Patienten die Leidtragenden.“

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