Die Gefühlsausbrüche, das Maulen, den Chorus der Kurve: Was wir am Fußball vermissen
Ein Leben ohne Fußball ist möglich – aber ziemlich langweilig. Acht Autorinnen und Autoren erzählen, was ihnen gerade am meisten fehlt.
DER STADIONBESUCH
Meist wartet er schon da. Manchmal bibbernd, das Trikot auch über die dickste Jacke gestülpt, oft skeptisch bis ängstlich, was das denn wohl heute wieder für ein Gegurke gibt, und trotzdem immer voller Hoffnung auf das absolute Spiel. Wenn der Vater sich mit der Tochter alle zwei Wochen vor dem Stadion trifft, dann ist das mehr als nur der Besuch eines Fußballspiels. Hobby, Hingabe, Halt.
Früher, vor mehr als 20 Jahren, war es sogar noch mehr: Lag die pubertierende Tochter mit dem Vater im Clinch, schickte die Mutter beide ins Stadion, was in der Regel den gewünschten Versöhnungserfolg brachte. An den Abläufen hat sich seither wenig verändert – alles andere würde frei nach dem Glauben der Fußballfans schließlich auch den Erfolg der Mannschaft gefährden.
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Der erste Weg führt zu obligatorischen Stadionwurst: „Bitte eine schön dunkle!“ Weiter geht’s zur Getränkevergabe: „Ein großes Bier und ein kleines Radler, bitte.“ Nur die korrekte Verteilung der Getränke schätzt die Ausgabestelle bis heute falsch ein. Und dann schnell zum immerselben Platz mit all den bekannten Unbekannten drumherum. Kann losgehen, passend zur traditionellen Stadiondurchsage: Berliner (sie), Brandenburger (er), Hertha-Fans (alle), hier kommt die Mannschaft von Hertha BSC.
Was haben wir schon zusammen gelitten, gefeiert, gefroren und geschrien; sind ab- und wieder auf-, ab- und wieder aufgestiegen. Und nun? Anfangs fragte er noch, wann und wie es weitergehen wird. Jetzt ist klar, dass wir noch sehr lange warten müssen, bis wir wieder gemeinsam bibbern und ängsteln und hoffen können. Es fehlt was. (Katrin Schulze)
DER SMALL-TALK
Am Ostermontag trifft sich die Großfamilie – so will es der Brauch – im Ferienhaus der bereits verstorbenen Großmutter, irgendwo im süddeutschen Niemandsland (Stichwort „Badisch Sibirien“). Besagte Großmutter hat sieben Kinder auf die Welt gebracht, die meisten davon haben selbst doppelt und dreifach für Nachwuchs gesorgt, dazu kommen diverse Partnerinnen und Partner – es treffen jedenfalls sehr viele, sehr verschiedene Menschen aufeinander.
Doch wenn sich im Zwiegespräch zwischen den weniger vertrauten Gesichtern das obligatorische „Wie geht’s?“ bzw. „Und sonst so?“ erst einmal abgenutzt hat und nun langsam nervöse Panik ob einer unangenehmen Gesprächspause heranfliegt, dann bietet der Fußball als Konversationsthema ein jedes Mal Rettung in letzter Not: Der so semierfolgreiche Bundesligaklub aus Mainz steht nämlich allseits hoch im Kurs; ein bisschen überschwängliche Träumerei (zuletzt seltener) oder fatalistischer Galgenhumor (zuletzt häufiger), ein paar hämische Bemerkungen über den Klub aus Frankfurt und die Frage „Was macht eigentlisch unsern Kloppo in Liverpool?“ gehen im Prinzip immer.
Das Coronavirus hat diesem kleinen Konversationskniff jetzt jedoch einfach einen Shutdown verpasst. Was nun am Ostermontag? Böse Vorahnung: In der WhatsApp-Gruppe der Großfamilie wurde zuletzt lebhaft über die Pandemie diskutiert. Da ging es um tote Fische, Artemisiatee und Prinz Charles (um mal nur an der Oberfläche zu kratzen). Puh.
Nun ja. So weit wird es jetzt aber natürlich nicht kommen. Das Treffen muss in diesem Jahr aufgrund der Kontaktbeschränkungen ausfallen. Gerade noch einmal um konversationelle Kalamitäten herumgekommen – und genug Zeit, um über diese Frage zu reflektieren (Quelle: Internet): „Welchen Sportklub verehren Sie eigentlich, um wirklich tiefgründige Gespräche zu vermeiden?“ (Leonard Brandbeck)
DAS TIPPSPIEL
Der Blick auf die Tippliga-Tabelle ist wenig erbaulich: Ich bin Letzter, der Abstieg droht! Die Unterbrechung müsste mir eigentlich gelegen kommen. Durchatmen, Kräfte bündeln – und danach alles Raushauen für den Klassenerhalt. Doch ich werde immer unruhiger. Ich vermisse einfach den Rhythmus, der seit bald 15 Jahren meinen Alltag begleitet: Mittwoch tippen. Freitag- bis Sonntagabend hoffen und zittern, jedes Tor kann alles verändern, da man gegen einen direkten Gegner spielt.
Mainz trifft in der 96. Minute zum Sieg gegen Augsburg? Wahnsinn, die zwei Punkte – unsere Tabelle wird wie in alten Bundesliga-Zeiten berechnet – sind dadurch eingesackt, das Tipp-Wochenende ist gerettet. Völlig gerechtfertigt, die lange Nachspielzeit. Oder aber das Wochenende ist durch das Tor im Eimer. Warum bloß so viel Nachspielzeit? Montag kommt dann die Mail mit den anderen Ergebnissen und dem aktuellen Tabellenstand. Mittwoch geht es mit der neuen Tippabgabe von vorn los. Eigentlich.
Stattdessen herrscht auch bei uns Stillstand. Dabei will ich endlich raus aus dem Tabellenkeller. Von mir aus mit Tipps auf Spiele in Tadschikistan, Nicaragua oder Weißrussland. Aber nichts zu machen. Keine Bundesliga, keine Tippliga.
Am vergangenen Donnerstag hat sich der Tippligachef gemeldet, der das Spiel 1972 ins Leben gerufen hat. Er führt sogar eine Ewige Tabelle, die inzwischen 79 Namen umfasst. Sobald die Bundesliga weitermacht, beenden wir unsere Pause, ist in seiner Mail zu lesen. Dann heißt es für mich Rhythmus wieder aufnehmen – und danach alles raushauen für den Klassenerhalt. (Sebastian Schlichting)
DIE GERÄUSCHE
Was ich vermisse? Ganz klar, die Geräusche. Besonders jetzt, da es recht still geworden ist in unserem Alltag. Ich berichte seit 25 Jahren für den Tagesspiegel über Fußball. Meist über Hertha BSC und über die deutsche Nationalmannschaft. Ich habe keinen echten Lieblingsverein, aber ich liebe dieses Spiel. Und seine Geräusche. Die lauten wie die leisen.
Schön, auf ein paar Geräusche kann ich herzlich gern verzichten, solche, die andere diskriminieren. Eines der schönsten Geräusche des Fußballs ist ein leises. Wenn man etwa beim Training sehr nah am Geschehen ist. Wenn der Rasen etwas feucht ist und ein flacher Pass scharf gespielt wird. Dann erzeugt der über den Rasen driftende Ball ein surrendes Geräusch. Herrlich.
Zu einem richtigen Stadionspiel gehören natürlich die großen Geräusche. Ohne sie fehlt etwas Essenzielles. Die Atmosphäre, das Fluidum. Die Fangesänge, die Pfiffe, das akustische Mitfühlen der Zuschauer. Der kollektive Aufschrei. Wenn der Stadionsprecher bei der Mannschaftsaufstellung nur den Vornamen der Spieler ins Mikrofon ruft und auf Antwort aus der Fankurve wartet, die dann tausendfach kommt.
Ich vermisse nicht das künstliche Gedöns der Halbzeitpausenshows, das leider oft dazugehört. Ich vermisse das Aufbrausen des Publikums im Rang, die Gefühlsausbrüche, das Kreischen, das Maulen, den Chorus der Kurve. Das schönste Geräusch ist aber eines, dass es dort gar nicht gibt. Das der Klatschpappen. Jedenfalls da, wo ich Fußball erlebe. (Michael Rosentritt)
DIE STRUKTUR
Welcher Tag ist eigentlich heute? Das Virus nimmt uns das, was der Fußball uns einmal gegeben hat. Eine Struktur für unseren Alltag. Okay, das gilt jetzt nicht für das Champions-League-Zeitalter, in dem von Montag bis Sonntag Fußball ist, bevor es wieder von vorne losgeht. Gemeint ist die Zeit, als alles anfing.
Als wir begannen, den Geheimnissen des Spiels auf die Spur zu kommen. Als wir lernten, warum ein Tor kein Tor ist, obwohl der Ball im Tor ist. Als wir verstanden, wie man eine Tabelle liest und wie der Spielplan funktioniert. Auf Heimspiel folgt Auswärtsspiel folgt Heimspiel. Diese Woche Stadion, nächste Woche Radio.
Er hieß Mike, weiter weiß ich nicht mehr, und ging mit mir in die erste Klasse. Mike hatte nicht viele Freunde, also verabredete ich mich mit ihm. Vielleicht weil ich auch nicht viele Freunde hatte. Aber daran kann ich mich nicht erinnern.
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Wir hatten uns für einen Samstag verabredet, an dem Borussia auswärts spielte, weil Borussia eine Woche zuvor zu Hause gespielt hatte. Mittags bei der Erbsensuppe sagte mein Vater, dass es um halb drei los gehe. „Wohin?“, fragte ich. „Ins Stadion“, antwortete mein Vater. „Wieso?“, fragte ich. „Weil Borussia gegen 1860 spielt“, sagte mein Vater. „Aber Borussia hat doch letzte Woche zu Hause gespielt“, sagte ich. Und so lernte ich wieder etwas dazu.
Um kurz nach zwei kam Mike mit seiner Mutter. Ich sagte ihm, dass ich doch nicht könne. Wie er reagiert hat, daran erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an den Blick seiner Mutter. Ich glaube, Mike hat sich danach nie mehr mit mir verabredet. (Stefan Hermanns)
DAS EINSCHLAFEN
Schon bei der Einblendung der Startelf werden die Lider schwer, nach der ersten Ecke sackt mein Kopf auf die Sofalehne, das krasse Foul, über das nachher alle reden werden, verarbeite ich im Traum. Auf diese Weise habe ich viele Samstagnachmittage meines Lebens verbracht. Zu nichts dämmere ich so selig weg wie zu einem Fußballspiel.
In Meditationssessions fällt oft der Satz: „Es gibt jetzt nichts mehr zu tun“. So fühlt sich für mich der Anpfiff an. Alles kann warten. Die Fangesänge sind mein Wellenrauschen. Der Kommentator mit seiner warmen Stimme ist mein Guru. Und wütet jemand neben mir wegen einer Schiedsrichterentscheidung, schaukelt mich das noch tiefer in den Schlaf.
Wahrscheinlich frühkindliche Prägung. Meine Eltern stellten das Körbchen mit mir gern neben den Fernseher. Andere Babys tröstet man mit Staubsaugergeräuschen. Und nichts beruhigt so sehr wie ein Ritual: Samstags, 15.30 Uhr, schaute mein Vater Fußball. Wie intakt muss die Welt sein, die einen diesen Termin einhalten lässt?
Seit Corona die Bundesliga abgewürgt hat, bin ich unangemessen wach. Zum Glück zeigt Sky nun historische Begegnungen. Endlich wieder Kickerchen, dachte ich. Doch richtig wegschlummern kann ich nur, wenn jemand anderes die Sache todernst nimmt. Das bedeutet nämlich: Ich werde gerade nicht gebraucht.
In der Halbzeitpause wache ich meist kurz auf. Was soll die Stille? Wie steht’s? Schön, Gladbach zieht an Bayern vorbei auf Platz 1, welch bedeutend unbedeutender Moment! Wohlig rolle ich mich unter die Wolldecke. 45 Minuten Freischlaf. Das alles gilt unter Vorbehalt: Spielt der SC Freiburg, klopft mein Herz zu laut. Aber auch darauf muss ich derzeit verzichten. (Julia Prosinger)
DER AMATEURKLUB
Lieber Trainer, dass ich die folgenden Sätze schreiben muss, verdeutlicht, wie groß die Not ohne Spiele und Training ist. Also: Deine Tests, die unsere Reaktionsschnelligkeit verbessern sollen, sie fehlen mir!
Ich vermisse Deinen rauen Bundeswehr-Befehlston, wenn du die Zahlen eins bis sechs bellst und damit jene zackigen Kommandos gibst, die mit Kniebeugen, Liegestützen („schneller runter, nicht wie eine Oma!“) und unendlicher Qual verbunden sind. Ich hasse diese Übung so sehr wie einen Beinschuss beim Fünf gegen zwei, wobei diese Pein wenigstens 50 Cent in die Mannschaftskasse spült. Aber jetzt vermisse ich sie, diese Tortur, die nach Trainingsrückstand und Schweiß riecht.
Noch mehr vermisse ich meine Mitspieler, über die der Coach sagt, sie sollten wenigstens am Spieltag mal „das Stück Holz aus dem Schuh nehmen“. Zu Recht übrigens. Trotzdem liebe ich sie, ihren Einsatz für die Sache (und am Tresen). Für die Grundsatzdebatten unter der Dusche („Kein Shampoo dabei? Kostet!“ – „Was? Niemals!“); für ihre Filmchen aus der Kabine, die den Co-Käpt’n zeigen, wie er seinen blauen Zeh aus dem Nagelbett reißt (geschmeidig bleiben, Rapha!); für ihre Bereitschaft, sonntagmorgens für ein 0:4 nach Schmöckwitz zu fahren.
Ich vermisse unseren Torhüter Luca, der die Schiris Gottseidank auf Italienisch beleidigt (sonst wäre er auch nach Corona noch gesperrt). Und natürlich vermisse ich unsere Theke, hinter der Spuhli steht, ein Berliner Original mit großer Klappe, großem Bauch und riesengroßem Herz. Und ein klitzekleines bisschen fehlt mir auch unser alberner Schlachtruf, der doch so unvergänglich ist: Einer für alle, alle für einen! (David Joram)
DAS MECKERN
Was bringt einem ein dickes Fell, wenn man es nicht braucht? Genau, nichts. Während Hobbykicker sich die fußballfreie Zeit mit wenig spannenden Zweikämpfen im Park vertreiben können, bin ich als Schiedsrichter vollends arbeitslos. Denn sich mit einer Pfeife in den Wald zu stellen und ein paar Mal kräftig reinzupusten, verursacht ungefähr so viel Spaß wie ein unberechtigter Elfmeter in der Nachspielzeit.
Und selbst wenn ich auf die Idee käme – wo wäre jemand, um mich anzumeckern? Genau, nirgendwo. Es fällt der Teil des Ehrenamts weg, gegen den ein jeder Unparteiische ein Höchstmaß an Resistenz entwickeln muss. Der Teil, der einen masochistisch veranlagen lässt, wenn man halbwegs erfolgreich sein will. Diese Liebe, gehasst zu werden, sie macht Zwangsurlaub im hintersten Winkel des Herzens.
Es gibt ja nicht einmal eine Schiedsrichter-Simulation für die Konsole, die diese Hassliebe virtuell ersetzen kann. Zwar wäre diese auch nur auf das Verteilen von Gelben und Roten Karten reduziert – doch würde sie dieses wohlige Gefühl, für Gerechtigkeit sorgen zu wollen, ein Stück weit aufleben lassen. Aber könnte eine Simulation der emotions- wie schweißgetränkten Diskussionen beikommen? Genau, niemals.
Ich bin schon fast so weit, mich Fußballern mit dem genau entgegengesetzten Problem anzubieten. Eben jenen, für die der „Schiiiriii, du Pfeife“ ein willkommenes Feindbild ist, um teils wahllos die über die Woche aufgebaute schlechte Laune rauszulassen. Wer denkt eigentlich bei den ganzen Spielausfällen an diese, fast schon therapeutisch notwendige Aufgabe des, zugegebenermaßen vorrangig Amateur-, Fußballs? Genau, niemand. (Christopher Stolz)
Tagesspiegel-Autoren