1. FC Union Berlin: Warum Briten jetzt zum Fußball in die Alte Försterei kommen
Die Kommerzialisierung im Mutterland des Fußballs treibt viele Briten weg von der Premier League. Nick Worthington hat seine neue Fußballheimat in Köpenick.
Als sich das Stadion An der Alten Försterei langsam leert, schaut sich Nick Worthington noch einmal um. Sein Blick folgt den Fußballern, die im einsetzenden Schneefall in die Kabinen stapfen, den Menschenmassen, die sich langsam von den Stehtribünen Richtung Ausgang schieben. Der Moment der Trennung ist wieder gekommen, gleich verlässt auch Worthington das Stadion, seinen Sehnsuchtsort. Vorher verewigt er sich aber noch auf dem Geländer – dem Wellenbrecher – direkt vor ihm.
Aus seiner Jackentasche holt er einen Stapel selbst entworfener Aufkleber, sechs mal zehn Zentimeter, und drückt einen davon fest auf das rot lackierte Metall. Ein roter Drache auf grün-weißem Grund, die Flagge seines Heimatlandes Wales, dazu das Logo seines Lieblingsvereins und dessen Schlachtruf „Eisern Union“.
Nick Worthington, 28 Jahre alt, dunkelbraune Haare, großes Gesicht, massiger Körper, wohnt im nordwalisischen Städtchen Abergele und ist seit 2016 Fan des Berliner Fußball-Zweitligisten 1. FC Union. Drei oder vier Mal im Jahr fliegt er nach Deutschland, um sich ein Spiel anzuschauen, die Atmosphäre im Stadion am Rande der Wuhlheide in Köpenick zu erleben.
Er kommt mit Easyjet
Auch an diesem letzten Heimspieltag vor der Winterpause Mitte Dezember. Union ist in der Liga noch ungeschlagen, spielt die beste Hinrunde der Vereinsgeschichte und die Fans träumen vom erstmaligen Aufstieg in die Bundesliga. An einem nicht sonderlich kalten Samstagmittag empfangen die Berliner vor 20 728 Zuschauern den VfL Bochum und Worthington ist gerade rechtzeitig angekommen. Normalerweise fliegt er direkt von Liverpool nach Schönefeld. Bei Easyjet kosten Hin- und Rückflug meist weniger als 100 Euro.
Dieses Mal hat er mit seiner Freundin Ffion jedoch einen Umweg gemacht. Ein paar Tage Budapest und Prag, dann mit dem Nachtzug nach Berlin. Die Fahrt hat Spuren hinterlassen, Worthington ist müde.
Heimspiele des 1. FC Union sind seit Jahren fast immer ausverkauft. Wurde auf dem Waldweg zum Stadion früher fast nur berlinert, sind seit Jahren immer mehr Sprachen zu hören. Junge Menschen unterhalten sich auf Italienisch, Schwedisch oder Französisch, doch neben dem Deutschen dominiert Englisch. Beim ersten Heimspiel des Jahres gegen den langjährigen Bundesligisten 1. FC Köln an diesem Donnerstag werden wieder viele Briten nach Köpenick kommen.
Rauchen, stehen, trinken
Auch wenn Union die Stadionzuschauer nicht nach Nationalität erfasst, und die 43 Briten bei mehr als 20 000 Vereinsmitgliedern nur einen sehr geringen Anteil ausmachen, wissen die Verantwortlichen um die Entwicklung. „Seitdem es Billigflieger gibt, kommen immer mehr Engländer zu uns ins Stadion“, sagt Präsident Dirk Zingler vor einigen Tagen bei einer Diskussion zum Thema Fußballkultur. „Die dürfen bei uns im Stadion rauchen, stehen, Bier trinken. Für die ist das Fußballheimat, das hat nichts Regionales, sondern es geht um die Art des Fußballs.“
Rauchen, stehen, trinken. Wer sich unter britischen Union-Anhängern umhört, der erfährt von Londonern, dass sie lieber nach Dortmund fliegen als zum FC Arsenal zu gehen, und von Menschen aus Liverpool, die die Alte Försterei dem Stadion an der Anfield Road vorziehen.
Der Waliser Nick Worthington hat sich in die Art Fußball verliebt, die in Köpenick präsentiert wird. Er besitzt Union-Fandevotionalien: Trikots, Kapuzenpullover, eine Fahne mit dem Motiv seiner Aufkleber und Turnschuhe mit dem Bild seines Lieblingsspielers darauf: Sebastian Polter. Unions besten Stürmer nennt er nur „King“, König. Auf dem Weg ins Stadion, am Ostkreuz, geht Worthington unter in der Masse der Fans, die sich mit ihren roten Schals und Jacken in die S 3 Richtung Erkner zwängen. Er trägt eine Winterjacke mit Fellkapuze, eine orangefarbene Mütze und eine dunkle Hose. Sein Schal und ein Union-Metallpin an der Mütze zeigen, dass auch er zum Fußball geht.
Wo es keinen Stimmungsmacher braucht
Am Stadion angekommen lässt sich Worthington von seinem Kumpel Carsten leiten. Der Berliner kommt seit mehr als zehn Jahren regelmäßig zu Union. Die beiden haben sich auf Twitter kennengelernt, als Worthington Karten für ein Heimspiel suchte. Carsten hat seinen Stammplatz auf der Gegentribüne etwa auf Höhe der Strafraumgrenze. Ffion und Worthington drängeln sich hinter ihm durch die engen Reihen, in den Händen Bier und Bratwurst.
In Großbritannien müssten sie sich jetzt hinsetzen, Stehplätze sind dort seit 30 Jahren verboten. „Wenn ich in Manchester bei einer Chance aufspringe, kommt sofort ein Ordner und sagt, ich soll mich wieder setzen“, sagt Worthington. Dabei sei ein so emotionaler Sport wie Fußball einfach nicht für Sitzplätze gemacht.
Diese Einschätzung teilt bei Union auch die Vereinsführung. Mit mehr als 80 Prozent hat das Stadion An der Alten Försterei den höchsten Stehplatz-Anteil im deutschen Profifußball – und das wirkt sich auf die Atmosphäre aus. Während bei vielen Vereinen der Fanblock für die Stimmung zuständig ist und der Rest des Stadions nur zeitweise in die Gesänge einsetzt oder erst vom Stadionsprecher animiert werden muss, kommen die Anfeuerungsrufe bei Union nahezu von allen Seiten und das 90 Minuten lang.
Vielen Zuschauern geht es nur noch um das coolste Selfie
Das erste Mal richtig laut wird es bereits vor dem Anpfiff. Als die Vereinshymne erklingt, bewegt Worthington leicht die Lippen, zu hören ist er unter den vielen textsicheren Fans um ihn herum kaum. Deutsch spricht er nicht, ein paar Fangesänge hat er sich aber bruchstückhaft eingeprägt. Nur bei den immer wiederkehrenden Schlachtrufen wird er lauter. Als Polter vom Stadionsprecher angekündigt wird, stößt Worthington den rechten Arm dreimal in die Luft und ruft im selben Rhythmus „Fuß-ball-gott!“. Bei Union werden alle Spieler so begrüßt.
Worthington war früher Fan von Manchester United. Als kleiner Junge nahm ihn sein Onkel mit ins Old-Trafford-Stadion, unter dem legendären Trainer Sir Alex Ferguson war ManU mehr als zwei Jahrzehnte lang eine der besten Mannschaften der Welt, David Beckham spielte dort, Ryan Giggs und Cristiano Ronaldo. Später fuhr Worthington so oft wie möglich mit seinen Freunden nach Manchester. Von seiner Heimatstadt sind es etwas mehr als 100 Kilometer, anderthalb Stunden mit dem Auto. Mittlerweile zieht es ihn kaum noch dorthin.
„Es fühlt sich nicht mehr richtig an“, sagt er. „Die ganze Kommerzialisierung und das Geld haben den englischen Fußball ruiniert.“ Viele Fans könnten sich den Stadionbesuch nicht mehr leisten, und auch die Stimmung sei nicht mehr wie früher. „Vielen Zuschauern geht es kaum noch um das Spiel, sondern darum, wer das coolste Selfie oder Video macht.“
Hochglanzprodukt statt Arbeitersport
England, das Mutterland des Fußballs, dort wurde das Spiel Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden. Auch heute sind britische Stadien noch für ihre Stimmung berühmt, zumindest bei den großen Spielen. Wenn die Zuschauer beim FC Liverpool vor dem Anpfiff die Hymne „You’ll never walk alone“ anstimmen, bekommen Fußballfans eine Gänsehaut. Die englische Premier League ist die reichste Liga der Welt, hier arbeiten Trainer wie Pep Guardiola und Jürgen Klopp, die Spitzenklubs zahlen zweistellige oder sogar dreistellige Millionenbeträge, um Fußballprofis zu verpflichten.
Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, wenden sich viele britische Fans ab. Aus dem Arbeitersport ist nach der Einführung der Premier League im Jahr 1992 ein Hochglanzprodukt geworden. Wo es früher auf den Stehtribünen nach Bier und Schweiß roch, die Fans sangen, brüllten und sich auch prügelten, sitzen nun vor allem gut situierte Menschen und immer mehr Touristen. Die Vereine scheinen sich in erster Linie um das wohlhabende Premium-Publikum in den Logen und die Fernsehzuschauer zu kümmern, die ihnen Pay-TV-Einnahmen garantieren.
Für Fans wie Nick Worthington sind Superstars weniger wichtig als die Emotionen, die Stimmung, das Zusammengehörigkeitsgefühl. „Seit ich das erste Mal bei Union war, fühlt es sich an wie eine Gemeinschaft“, sagt Worthington. Kaum jemand schaue auf sein Telefon, alle singen mit. Und wenn das ganze Stadion gemeinsam „Eisern Union!“ brüllt, „fühlt es sich an, als wären wir alle zusammen der Verein – und ohne uns wäre der Verein nichts.“ Worthingtons Kumpel Carsten, glaubt, dass „Union eine besondere Ansteckungsgefahr für Briten hat, weil es hier noch so ist, wie es auf der Insel vor 20 oder 30 Jahren war“.
Er liest alles, was er über den Verein findet
Auch beim letzten Hinrundenheimspiel entsteht diese Energie. Die Zuschauer stehen dicht gedrängt, teilen ihre Körperwärme, schreien zusammen, verzweifeln zusammen, jubeln zusammen. „Schulter an Schulter für Eisern Union“, wie Nina Hagen in der Vereinshymne singt. Nach einer schwachen ersten Halbzeit leitet Polter den 2:0-Sieg mit einem Elfmeter ein. Worthington umarmt Carsten, klatscht mit ein paar anderen Fans ab und stößt auf den Torschützen an. „Lang lebe der König“, sagt er lachend.
In der Heimat beschäftigt sich Worthington täglich mit Union. Er liest alles, was er über den Verein findet, schaut sich Choreografien der Fankurve und Highlights der Mannschaft im Internet an, chattet mit anderen Fans. Beruflich fährt er Lastwagen durch Nordwales, an den Wochenenden ist er oft auf Fußballplätzen unterwegs. Im Nebenjob erstellt er bei Spielen der walisischen Liga Statistiken. Wer hat wie viele Ballkontakte, Torschüsse, Eckbälle?
„Für ein Ticket bei ManU zahle ich 60 Pfund, dann noch zehn fürs Parken, das Tankgeld“, sagt Worthington. „Und das Bier darf ich nicht mal mit auf die Tribüne nehmen.“ In Köpenick kostet ein Stehplatz 15 Euro, das Bier 3,50. Flug und Hostel sind bei rechtzeitiger Planung auch billig zu bekommen, und Worthington ist mittlerweile nicht nur ein Fan von Union, sondern auch von Berlin. Wenn möglich bleibt er gleich eine ganze Woche.
Am Anfang waren die Freunde skeptisch
Das erste Mal bei Union war er 2016. Seine Freundin Ffion hatte im Internet Videos einer in Berlin lebenden Frau aus Manchester gesehen, die mit ihrem Freund zu Union ging. Der Anblick des Stadions fesselte Worthington. Mit Ffion und ihrem Vater organisierte er eine Reise nach Berlin. 2:0 gegen Eintracht Braunschweig im Dezember 2016. „Ich war sofort total verrückt nach Union.“ Seine Freunde waren anfangs skeptisch, im vergangenen Sommer begleiteten sie ihn dann nach London, zum Testspiel von Union gegen die Queens Park Rangers. Vor dem Stadion trafen sie sogar den König persönlich: Sebastian Polter machte Fotos mit ihnen, signierte Worthingtons Turnschuhe.
Seitdem können die Freunde verstehen, warum Worthington sich einem Fußballverein verschrieben hat, der in einem anderen Land spielt, in einer fremden Stadt, 1.150 Kilometer Luftlinie entfernt. Mit seiner Leidenschaft passt Worthington allerdings ziemlich gut zu Union.
Die Anhänger der Köpenicker gelten als besonders treu. Als es dem Verein finanziell schlecht ging, spendeten sie Blut und ließen das Geld den Klubkassen zugute kommen. 2008 machten sie den Stadionumbau möglich, mehr als 2000 Freiwillige packten mit an, mauerten, betonierten, malerten wochenlang und verwandelten ein heruntergekommenes Stadion ohne Dach und Komfort in eine neue Heimat. Auch unter der Woche fahren zu Auswärtsspielen 6000 Fans nach Hamburg oder 9000 nach Dortmund. Und das traditionelle Weihnachtssingen mit fast 30.000 Teilnehmern haben viele Profi- und Amateurklubs mittlerweile übernommen.
"Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?"
Die steigende Bekanntheit bringt auch neue Leute wie Worthington ins Stadion, das sorgt auch für Spannungen. Während Hertha mit englischen Werbeslogans um neue, junge Fans wirbt – und dafür von der traditionellen Klientel teils heftig angefeindet wird –, werden Tradition, Werte und Herkunft bei Union besonders gepflegt. Die Vereinshymne besingt die „Schlosserjungs aus Oberschöneweide“, besonders laut wird es bei der Zeile „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union!“ Teile der Fanszene haben angesichts der steigenden Zahl von Zuschauern, die nicht aus dem Union-Stammgebiet in Ost-Berlin kommen, Bedenken. Wie kann es gelingen, die Atmosphäre und die Bindung zwischen Klub und Fans zu bewahren, wenn sich die Anhängerschaft wandelt?
Für langjährige Fans wie Sig Zelt, Mitglied des Fanklubs „Eiserner Virus“, ist es gerade deshalb wichtig, dass alteingesessene Köpenicker und Neuankömmlinge aus aller Welt aufeinander zugehen und den Neuen so vermittelt wird, was das Besondere bei Union ist. „Wir wollen offen sein und nicht im eigenen Saft schmoren“, sagt Zelt. „Es darf aber kein Prozess sein, der uns überrollt.“
Mit dem Stadionausbau auf 37.000 Plätze, der noch in diesem Jahr beginnen soll, sowie einem möglichen Bundesliga-Aufstieg könnten sich die Mehrheitsverhältnisse verschieben und zunehmend jene Art Fans auf die Tribünen drängen, deretwegen sich Worthington von ManU abgewandt hat. Noch ist dies wegen der begrenzten Zuschauerkapazität unwahrscheinlich. Die Eintrittskarten sind so begehrt, dass sie bei manchen Spielen nur noch an Mitglieder verkauft werden.
Für die Bundesliga würde er eine Dauerkarte kaufen
2016 ist Worthington bei Union eingetreten. Mitgliedsnummer 31065063. Im April will er zum Heimspiel gegen den Hamburger SV kommen, danach vielleicht noch zur möglichen Aufstiegsrelegation. Für die Bundesliga würde er sich sogar eine Dauerkarte kaufen. „Wenn ich hier einen Job finde, ziehe ich nach Berlin“, sagt er. Besonders überzeugt klingt er dabei nicht. Sein Plan, den ersten walisischen Fanklub zu gründen, ist konkreter. Einen Namen dafür hat Nick Worthington bereits: „Welsh Union Kings“.