Tabellenführer aus Köpenick: Bei Union Berlin wird der Erfolg zum Kult
Bundesliga? Hätte Michael Parensen nie für möglich gehalten, als der Verteidiger nach Berlin wechselte. Scheitern gehörte zu Union wie der Hauptmann zu Köpenick. Jetzt scheint plötzlich der Aufstieg möglich.
Micha fehlt. Da ist sich die Frau mit den kurzen, knallrot gefärbten Haaren sicher. Einer ihrer fünf Begleiter stimmt zu. „Haste recht, der Micha fehlt. Könn’ wa noch nich’ jehn.“ Also harren sie um kurz vor Mitternacht weiter vor dem Eingang des Stadions an der Alten Försterei aus. Autogrammjäger kennen keine Müdigkeit.
Drinnen in den Katakomben, im Massageraum, liegt der Micha, Michael Parensen, und lässt sich behandeln. Vor wenigen Stunden hat er mit dem 1. FC Union Berlin gegen den 1. FC Nürnberg gespielt und dabei einiges abbekommen. Ein Schlag hier, ein Tritt dort. Kurz nach der Halbzeit hat der Rücken dann gestreikt, eine Blockade, die Schmerzen wurden zu groß. Für Parensen, 1,80 Meter, blaue Augen, Dreitagebart, ging es nicht weiter. Das Siegtor musste er von der Auswechselbank mitansehen. Nun liegt er also auf der Massagebank, das Licht im Raum ist grell, wie im OP-Saal. Parensens Telefon piept. Ein Freund schreibt. „Draußen wollen sie noch Autogramme von dir.“
Autogrammjäger warten Stunden nach Spielschluss
Früher konnte Parensen, 30 Jahre alt, die letzten acht davon beim 1. FC Union, vom Köpenicker Stadion aus unbehelligt nach Hause fahren. Heute warten die Fans selbst Stunden nach Spielschluss noch auf ihn. Schön, sicher. Aber auch ungewohnt, surreal beinahe.
Vieles verändert sich gerade beim 1. FC Union. Die Fernsehkameras sind mehr geworden. Die Reporter auch. Seit die Mannschaft gewinnt, kommen sie alle. „Sport-Bild“, „Süddeutsche“, „Spiegel“ und das ZDF. Neun Spiele noch, dann könnte Union zum ersten Mal in die Bundesliga aufsteigen.
An diesem Sonnabend geht es zu Verfolger Hannover 96, einem der selbsternannten Aufstiegsfavoriten, den Union inzwischen überholt hat. Gewinnen die Berliner, bleiben sie Tabellenführer. Und für Hannover, den Vierten, wäre der Traum von der Bundesliga-Rückkehr wohl vorbei. Mehr als 50 000 Zuschauer werden erwartet, eine Kulisse wie in der Bundesliga. Ausverkauft. Union steht im Fokus der Öffentlichkeit, interessiert plötzlich auch über die Stadtgrenzen hinaus.
Aber das ist es nicht, was Parensen meint und spürt, wenn er über die neue Zeit spricht. Ihm geht es um ein Gefühl, und wie das mit Gefühlen so ist, lassen die sich nicht immer leicht beschreiben. Parensen sagt: „Da ist so eine Euphorie, ein neuer Mut. Plötzlich ist es, als würde der gesamte Verein ein ganz anderes Selbstbewusstsein leben.“ Die Attitüde ist dabei, sich zu verändern. Die Köpenicker, ein skeptischer Menschenschlag, zeigen Berlin und dem Rest Deutschlands plötzlich ihre breite Brust.
„So gut wie diese war noch keine Union-Mannschaft"
Wie das neue Selbstbewusstsein klingt, ließ Parensens Mitspieler Steven Skrzybski neulich hören. Skrzybski, ein introvertierter Typ, der nie für einen anderen Verein Fußball gespielt hat, sagte: „Uns muss man erst mal besiegen. Keiner freut sich, wenn er gegen uns spielen muss.“ Auch Parensen sagt: „So gut wie diese war noch keine Union-Mannschaft, in der ich gespielt habe.“
Parensen stammt aus dem Sauerland, ein sachlicher, aufgeräumter Typ. Gerade hat er ein BWL-Studium an der Fernuni abgeschlossen, für die Zeit nach dem Fußball. Lange wusste er nicht, ob er überhaupt mal mit Fußball Geld verdienen würde. Junioren-Nationalspieler war er, das schon. Aber bei Borussia Dortmund und dem 1. FC Köln will ihm, dem Allroundtalent, der in der Defensive fast alle Positionen spielen kann, der Durchbruch nicht gelingen. Mit 22 entscheidet er sich dann, lieber zu Union in die Dritte Liga zu wechseln statt in den Reservemannschaften der Bundesligisten zu versauern. Im Januar 2009 kommt er vom 1. FC Köln nach Köpenick.
Mit Schrauben an den Schuhsohlen
Unions Heimspiele finden damals, die Alte Försterei wird gerade umgebaut, im Jahn-Stadion in Prenzlauer Berg statt. Vor Parensens erstem Heimspiel gegen Kickers Offenbach ist der Boden gefroren. Um besseren Halt zu haben, montieren die älteren Spieler abgesägte Schrauben an die Sohlen ihrer Schuhe. Auch Parensen bekommt welche verpasst. Willkommen im Osten.
Während die Berliner fest auf dem Rasen stehen und schnell eine Führung herausschießen, rutschen die Offenbacher auf dem immer seifiger werdenden Untergrund hin und her. Zur Halbzeit zeigen sie wutschnaubend dem Schiedsrichter ihre blutigen Oberschenkel. Unions Spieler müssen das Schuhwerk wechseln, gewinnen aber trotzdem.
Heute montiert niemand mehr Schrauben unter die Schuhe. In der Alten Försterei ist der Rasen beheizt und die rustikale Gangart ihrer Vorgänger geht der aktuellen Mannschaft sowieso ab. Wo früher harte Typen wie Michael Bemben oder Marco Gebhardt grätschten, versuchen 2017 internationale Auswahlspieler wie Kristian Pedersen, Eroll Zejnullahu oder Simon Hedlund die Dinge mit dem Ball am Fuß statt mit dem Fuß im Gegner zu lösen. Mit Erfolg. Die vergangenen sechs Spiele hat Union alle gewonnen. Eine derart lange Erfolgsserie gab es noch nie.
Siegesserien waren früher immer die Sache der anderen. Zu Union gehörten Tragik und Scheitern, so wie der Hauptmann zu Köpenick. Es galt als Gesetz, dass die Mannschaft jedes Jahr schlecht in die Saison startet, früh aus dem Pokal ausscheidet und nach einem kleinen Zwischenhoch am Ende irgendwo im Niemandsland der Tabelle landet. „Die Mentalität, bestimmte Dinge zu akzeptieren, war sehr ausgeprägt“, sagt Parensen. Das galt für Fans, Mitarbeiter und Spieler gleichermaßen. Zuerst wunderte er sich noch darüber, später nahm auch er das so hin.
Neuer Trainer, neue Einstellung
Als Trainer Jens Keller im vergangenen Sommer anheuerte, war dem diese Haltung sofort suspekt. Keller, gebürtiger Schwabe, der während seiner Karriere viel herumgekommen war in Deutschland, hatte zuvor Schalke 04 trainiert. Er brachte eine andere Einstellung mit nach Berlin. Seinen Spielern impfte er vom ersten Tag an ein: Wenn wir hart an uns arbeiten und die Dinge so umsetzen, wie ich sie vorgebe, werden wir Erfolg haben. Immer wieder: Wir werden erfolgreich sein.
Union Berlin fehlte lange dieses Selbstverständnis, das Klubs eigen ist, die sich auf eine erfolgreiche Vergangenheit berufen können. Deren Geist beseelt ist von ruhmreichen Siegen aus längst geschlagenen Schlachten und deren Vitrinen voll sind mit Pokalen. Die auch in kritischen Momenten an sich glauben, weil es ja immer wieder gut gegangen ist.
Bei Union ist es meist nicht gut gegangen. Die Fans hatten andere Gründe, auf ihren Klub stolz zu sein. Zu DDR-Zeiten war Union der Gegenentwurf zu Serienmeister BFC Dynamo, dem von allerhöchster Stelle protegierten Berliner Rivalen, dem Klub der Staatssicherheit. In die Alte Försterei dagegen gingen die Arbeiter und später in den Achtzigern auch die, die sich am Rand der sozialistischen Gesellschaft bewegten. Weil Union vom Sportfördersystem der DDR benachteiligt wurde, entstand auf den Rängen eine besondere Haltung: Wir gegen alle Widrigkeiten, wir gegen den Rest der Welt.
Fans halfen bei Stadionumbau
Unioner sind keine Menschen, die der Zeit den Lauf der Dinge überlassen. Wenn es sein muss, packen sie mit an. So wie 2008, als der Klub kein Geld für den Stadionumbau hatte. Da halfen die Fans, tausende sägten, hämmerten und betonierten in ihrer Freizeit. Kamerateams aus Amerika und Australien rückten an, um über dieses Völkchen zu berichten, das sich da sein eigenes Stadion baut. Ein anderes Highlight: Jedes Jahr kommen inzwischen fast 30 000 Menschen einen Tag vor Weihnachten in die Alte Försterei, um gemeinsam Weihnachtslieder zu singen.
Aber sportlich? Der größte Erfolg ist immer noch der Gewinn des FDGB-Pokals 1968. Ansonsten: Auf- und Abstiege, Lizenzentzüge und der Beinahe-Bankrott 2004. Das führte dazu, dass die Fans schon zufrieden waren, wenn eine Saison mal ohne Existenzängste ablief.
Ein einziger, andauernder Rausch
Während Parensen auf der Massagebank liegt, wird an den Bierständen rund um die Alte Försterei das neue Glücksgefühl begossen. Unions Saison, die vorerst vielleicht letzte in der Zweiten Liga, fühlt sich dieser Tage an wie eine Abschlussklassenfahrt. Sie ist ein einziger, andauernder Rausch. Zu schön, um echt zu sein. Findet Paul, ein schlanker Mittvierziger mit lichtem schwarzen Haar aus Kaulsdorf, Union-Fan seit 1999. „Manchmal kommt es mir so vor, als würde sich alles Pech, was uns in 51 Jahren Vereinsgeschichte anhaftete, plötzlich in Glück verkehren.“ Eifriges Nicken in der Gruppe. Neben Paul steht René, ein bisschen älter, Anfang 50. Zu Union geht er seit Ende der Achtziger, seinen Kumpel Paul hat er später einfach mitgeschleppt. Und dann ist da noch Richard, eigentlich St.-Pauli-Fan aus Lübeck, aber aus Loyalität seinen Kumpels gegenüber auch Union-Sympathisant.
Auch das ist Union. Alteingesessene, Mitgebrachte und ganz Neue. Grenzen und Cliquen verschwimmen immer mehr. Ostler und Westler. Arbeiter und Studenten. Auf den Rängen stehen sie zusammen. Aber die Fans spüren bereits die ersten Auswirkungen des Erfolgs, viele fragen sich: Wird die Bundesliga den Klub und seine Kultur verändern? Schon jetzt drängen Touristen und Schaulustige ins Stadion, Karten zu bekommen, wird immer schwieriger. Die Alte Försterei muss umgebaut werden, da führt kein Weg dran vorbei. Weniger Steh-, mehr Sitzplätze. So will es die Deutsche Fußball-Liga. Derzeit passen 22 000 Menschen ins Stadion, rund 28 000 sollen es werden.
Billige Stehplätze, billiges Bier
Werden die Neuen die Stimmung negativ beeinflussen oder gar pfeifen, wenn es nicht läuft? Bisher war dies ein absolutes No-go in der Alten Försterei. Union hat sich den Ruf erworben, besondere Fußball-Unterhaltung zu bieten. Keine lästigen Werbejingles, Ratespielchen oder Kirmesmusik während der Halbzeitpause, dafür Indierock und „Fußball pur“, wie der Verein wirbt. Das soll auch in der Bundesliga so bleiben. Engländer kommen und schwärmen von den billigen Stehplätzen und dem noch billigeren Bier. „Wie bei uns vor 30 Jahren“, sagen sie.
Bisher hat diese Öffnung der Fankultur auf den Rängen nicht geschadet. „Wir, die Alten, müssen die Neuen mitnehmen, ihnen unsere Werte vorleben“, sagt René. „Ich glaube, der Verein und seine Fankultur sind inzwischen so gefestigt, dass wir das schaffen.“ Er spürt ebenfalls dieses neue Selbstbewusstsein, das Parensen glaubt, ausgemacht zu haben, in den vergangenen Wochen. René sagt: „Die Bundesliga wird Union nicht verändern. Union wird die Bundesliga verändern.“
Einen ersten Vorgeschmack haben die Fans dem Rest der Republik im Oktober gegeben, beim Pokalspiel in Dortmund. Etwa 11 000 Berliner sind an einem Mittwoch gen Westen gefahren, alle in knalligem Rot gekleidet. Das machte Eindruck. Für Sonnabend ist auch die Rede von 10 000 Unionern in Hannover.
Inzwischen ist es Mitternacht, und Michael Parensen darf sich von seiner Bank erheben. Der Rücken ist durchgeknetet, die Schmerzen sind erträglich. Als ihn die Autogrammjäger von draußen durch die Glasscheiben sehen, hüpfen sie aufgeregt hin und her. Parensen schreibt, bis alle zufrieden sind. Dann steigt er in seinen Geländewagen und braust in die Nacht. Noch schnell zum Ostkreuz, was essen.
Parensen liebt das, es ist sein Ritual, um herunterzukommen nach den Spielen am späten Abend. Schlafen könnte er jetzt eh nicht. In einem Laden nahe der Simon-Dach-Straße bestellt er einen Burger mit Rindfleisch und scharfer Soße. Parensen gilt als Musterspieler, als einer, der streng auf seine Ernährung achtet, der kein Gramm Fett zu viel am Körper trägt. Aber der Burger muss jetzt sein – egal, ob nun Bundesliga, Zweite Liga oder Dritte Liga.
"Immer weiter, mit Eisern Union“
Ein Lokal weiter feiern Union-Fans den Sieg gegen Nürnberg, die Tabellenführung und sich selbst. Zwei von ihnen kommen in den Burger-Laden. Sie schauen zu Parensen rüber, sprechen ihn aber nicht an. Andere Unioner draußen stimmen ein Lied an. „Immer weiter, ganz nach vorn. Immer weiter, mit Eisern Union.“ Parensen lauscht, beißt in seinen Burger und sagt: „Wenn Union sich irgendwann einmal in der Bundesliga etablieren sollte, mit den Fans und all dem Potenzial, das der Klub besitzt, könnte es für andere Vereine in Berlin ganz bitter werden.“
Zwei Bundesligisten in einer Stadt, das wäre zurzeit einmalig in Deutschland. Und mit Hertha BSC könnte eine Rivalität entstehen, die das Zeug hat, ein Klassiker zu werden. Ost gegen West, Platzhirsch gegen Emporkömmling, arm gegen etwas weniger arm. Denn, das meint Parensen auch: Im Berliner Südosten ist gerade ein Riese dabei, zu erwachen.