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Endlich wieder jung und wild. Bundestrainer Löw hat Spaß an seiner reformierte Mannschaft.
© Christian Charisius/dpa

EM-Qualifikation in Hamburg: Joachim Löw entfesselt die Nationalmannschaft

Die deutsche Nationalmannschaft erinnert in Zeiten des Umbruchs ein wenig an den Elan bei der WM 2010 in Südafrika. Das ist kein schlechtes Zeichen.

Marco Reus, Jahrgang 1989, gerät immer mehr in die Rolle des Zeitzeugen, ganz egal, ob er das will oder nicht. Am Mittwoch, zwei Tage vor dem EM- Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Holland in Hamburg, ist er zum epischen Duell beider Länder im EM-Halbfinale am selben Ort befragt worden. Im Juni 1988 war das, ziemlich genau elf Monate vor seiner Geburt. Reus hat vermutlich keine aktive Erinnerung an dieses Spiel; er hat auch sonst weniger miterlebt, als man bei seinem Alter und seiner fußballerischen Qualität vermuten könnte. Auch die WM 2010, die derzeit gerne als Bezugsgröße für die aktuelle Nationalmannschaft herangezogen wird, kennt der Dortmunder nur vom Hörensagen.

Im Mai 2010, unmittelbar vor der Weltmeisterschaft in Südafrika, gab es ein Testspiel gegen Malta, bei dem etliche Stammkräfte wegen anderer Verpflichtungen mit ihren Vereinen fehlten. Zu dieser Begegnung wurde auch der junge Marco Reus, damals noch bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag, erstmals nominiert. Doch wie noch einige Male danach musste er wegen gesundheitlicher Probleme absagen. Aber wenn Reus heute über den frischen Wind in der Nationalelf spricht, über die jungen Spieler, die neu dabei sind, dann klingt es fast, als spräche er über das Team 2010. „Du bist halt unbekümmert, denkst noch nicht so viel nach“, sagt Reus, der Kapitän von Borussia Dortmund. „So was tut der Mannschaft immer gut.“

So was hat der Mannschaft auch vor neun Jahren gut getan, als sie ohne den Ballast überzogener Erwartungen nach Südafrika reiste. Ohne Michael Ballack – wie soll das gehen? Gar nicht, war die vorherrschende Meinung; nach der Vorrunde geht es zurück in die Heimat. Es kam dann geringfügig anders: Das junge Team, unbekümmert und unbelastet, wurde erst im Halbfinale vom späteren Weltmeister Spanien gestoppt.

„Ich spüre eine Aufbruchstimmung“, hat Bundestrainer Joachim Löw dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ gerade erst gesagt. „Die junge Mannschaft ist extrem motiviert, hört zu und ist lernwillig.“ In ihrer Struktur ist sie durchaus mit der aus dem Jahr 2010 zu vergleichen. Michael Ballack, der unumstrittene Führungsspieler jener Zeit, hatte sich kurz vor dem Turnier verletzt. Dadurch mussten andere Spieler Verantwortung übernehmen, die bis dahin in seinem Schatten gestanden hatten. Leute wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira. Sie füllten das Vakuum – und vor allem wuchsen sie an ihrer Aufgabe.

Damals wurde Löw durch Ballacks Verletzung gewissermaßen zu seinem Glück gezwungen; diesmal hat er – wenn auch erst nach zähem Ringen – der nächsten Generation aus freien Stücken mehr Raum verschafft. Mit der Ausbootung etablierter Kräfte wie Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng sind verkrustete Strukturen aufgebrochen worden: Es geht nun weniger um historische Verdienste als um das Potenzial im Hier und Jetzt. Und um den Hunger nach Erfolg.

Löw wurde gewissermaßen zu seinem Glück gezwungen

Spieler, die bisher weder mit der Nationalmannschaft noch mit ihren Vereinen international besonders reüssiert haben, drängen jetzt nach: Kai Havertz und Julian Brandt, Timo Werner und Niko Schulz, Niklas Süle und Serge Gnabry. „Sie werden vermehrt in verantwortungsvolle Rollen kommen und mehr Gewicht erhalten“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft.

Bis es so weit ist, wird die Mannschaft auch immer wieder mit Rückschlägen zurecht kommen müssen – so wie auch ihre Vorgänger 2010. Im WM-Halbfinale gegen Spanien waren die Deutschen Chancenlos; das Spiel wirkte wie das Duell eines Schülerteams gegen eine Männertruppe. Und vor fünf Monaten, im Hinspiel gegen Holland, gab Löws Mannschaft nach der Pause einen scheinbar beruhigenden 2:0-Vorsprung noch aus der Hand, ehe sie am Ende durch ein spätes Tor 3:2 gewann. „Wir wissen, dass auch andere Mannschaften aufgeholt haben“, sagt Bierhoff. „Aber irgendwie gehören wir immer noch dazu.“

Joachim Löw jedenfalls sieht seine Mannschaft in ihrer Geschlossenheit und mit ihrer Motivation auf einem guten Weg. „Aber es sind schon noch einige Hürden zu nehmen“, sagt er. Auch bei der Generation zuvor haben dieser Prozess ein paar Jahre gedauert. Bei einer Generation zudem, die sich durch eine außergewöhnliche Ballung an Qualität ausgezeichnet hat. Schon bei der WM 2010 waren einige Spieler dabei, die im Jahr zuvor mit der U 21 die Europameisterschaft gewonnen hatten; beim WM-Titel 2014 stellten sie das Gerüst des Team. Aus der U 21, die im Juni bei der EM im Finale stand, ist für das Spiel gegen Holland nur Luca Waldschmidt von Löw in den Kader der A-Nationalmannschaft berufen worden.

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