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Immer an der Mauer entlang. Einen Kilometer geht eine Runde in der JVA Plötzensee.
© Felix Hackenbruch

Kolumne – Losgelaufen: Frei hinter Gittern

Unser Autor trainiert für den Berlin-Marathon, doch erst einmal läuft er im Gefängnis. Hier kann Sport bei der Resozialisierung helfen.

Als die Sicherheitsschleuse surrt und sich das schwere Eisentor unterm Stacheldrahtzaun öffnet, ist mir doch ein bisschen mulmig. Da willst du freiwillig rein? „Die Teilnahme erfolgt auf eigene Gefahr“, hatte es in der Einladung geheißen. Doch wie oft hat man schon die Chance auf ein 10-Kilometer-Rennen hinter Gittern? Der „Lauf für Gefangene“ in der JVA Plötzensee ist das wahrscheinlich exklusivste Rennen Berlins. Hier kommen nur die wenigsten rein – und hoffentlich nicht mehr wieder raus. Rund 40 Häftlinge aus den unterschiedlichen Berliner Gefängnissen und externe Gäste, die sich bewerben mussten.

Veranstaltungen wie diese bieten einen seltenen Einblick in die Blackbox Vollzugsanstalt. Als Anfang 2018 etliche Gefangene aus der JVA Plötzensee türmten und der Justizsenator unter Druck geriet, wurde der Lauf gestrichen. Einige Häftlinge sagen, dass sich seitdem die Haftbedingungen verschlechtert hätten. Demolierte Küchen und defekte Sportgeräte würden nicht ersetzt, das Essen sei miserabel.

Heute gibt es Kuchen. Die hauseigene Band „Notorius Booknumbers“ spielt „Knocking on heavens door“ und „Free Bird“. Die Externen werden freundlich begrüßt, Läufer dehnen sich und machen Witze. „Der Sieger bekommt Frauen und Alkohol“, sagt ein Gefangener aus der JVA Tegel. Seine Kollegen grölen.

„Draußen zu laufen ist eine seelische Befreiung“, sagt Horst Milde kurz vor dem Start. Er hat vor 45 Jahren den Berlin-Marathon erfunden und vor sechs Jahren diesen Lauf. „Laufen ist ein ganz wichtiges Therapeutikum.“ Weil der Gebrauch einer Schusswaffe in der JVA eher problematisch ist, gibt es einen Countdown. 3…2…1… Ein paar junge Gefangene jagen los als seien sie auf der Flucht.

Die Band spielt "Free Bird"

Die Runde misst einen Kilometer. Immer an der Wand entlang, vorbei am Krankenhaus um den Mitarbeitertrakt, in die Jugendstrafanstalt, einmal um den Sportplatz und auf die Zielgerade. Die Schnellsten sind nach knapp 3:30 Minuten wieder am Start – und lassen sich von den Wärtern feiern. Der Sieg der ersten Runde – neun warten noch. Und Runde für Runde schwindet bei den Häftlingen, die sonst vor allem mit Hanteln trainieren, die Kraft. Salah kann das Tempo nicht halten. „Dreieinhalb Jahre Raucher und hier drin“, sagt er etwas kurzatmig, als ich ihn bei Kilometer sechs einhole. Er ist um die 20, trägt die langen Locken hinter einem Stirnband, früher war er Boxer.

Ich habe sehr viel getan“, sagt er. Konkreter wird er nicht. Eigentlich wirkt er ganz freundlich. Ich erzähle von meinem geplanten Marathon, er von seiner Haft. Neun Monate hat er noch. In der Anstalt kann er nur einmal die Woche laufen. Hier sind zehn Kilometer 28 Runden. „Sport ist meine Medizin“, sagt er. Wenn er wieder draußen ist, will er weiterlaufen. „Wenn mich die Straße nicht wieder einholt.“

Sport hilft im Alltag

Viele Häftlinge seien hier, weil sie im Alltag nicht mit Stress und Problemen umgehen könnten, sagt der Leiter der JVA Plötzensee, Uwe Meyer-Odenwald. „Wenn sie rauskommen, scheint nicht immer die Sonne. Sie müssen auch bei Regen straffrei bleiben – das ist die Aufgabe des Vollzuges.“ Sport könne helfen, Ziele zu setzen, Ziele zu erreichen und somit Erfolge zu erleben.

Salah wird Fünfter und bekommt eine Laufjacke. „Viel Erfolg beim Marathon! Nächstes Jahr sehen wir uns“, sagt er zu mir und reiht sich in seine Gruppe an. Angeführt von ihrem Vollzugsbeamten marschieren sie zurück in die Jugendstrafanstalt. „So sehen Sieger aus“, singen sie. Hinter ihnen schließt sich das eiserne Tor. Noch 163 Tage bis zum Berlin-Marathon.

Felix Hackenbruch ist Volontär beim Tagesspiegel und leitet die Checkpoint-Laufgruppe. Hier schreibt er im Wechsel mit Radsporttrainer Michael Wiedersich.

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