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Das Frühjahr ist auch die Zeit der Klassiker, wie hier in Flandern.
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Kolumne Abgefahren: Das Frühjahr, die Zeit der Rad-Festtage

Im Frühjahr wird es ernst, für Fans des Profi-Radsports genauso wie für Hobbyfahrer. Unser Autor erklärt, was ihn am Radsport so sehr fasziniert.

Neulich sind mir beim Aufräumen meine alten Trainingsaufzeichnungen von 1980 wieder in die Hand gefallen. Fein säuberlich habe ich damals als Jugendfahrer angefangen, meine Trainingseinheiten zu dokumentieren. Mein damaliger Betreuer beim Kreuzberger Radsport-Verein RVg Berlin 1888 wollte das so, hat aber nie wirklich einen Blick hineingeworfen. Das Schmökern in meinen handschriftlichen Aufzeichnungen war wie eine Zeitreise. Am 11. April 1980 steht im Trainingstagebuch zum Beispiel „Havel-Krone-Havel, 30 km, 1:20 Std.“ Eine Runde von Schöneberg über den Kronprinzessinnenweg, Havelchaussee und zurück – war ich da langsam unterwegs.

Knapp drei Jahre vorher hatte mich als Zwölfjähriger das Radsport-Virus erfasst. Didi Thurau, der blonde Engel aus Frankfurt, fuhr eine sensationelle Tour de France und ich fieberte am Bildschirm mit. Dem Fußball hatte ich zu dieser Zeit schon abgeschworen, da saß ich immer nur auf der Ersatzbank. Beim Radfahren war alles anders, ich war für alles irgendwie selbst verantwortlich. Ob es nun Erfolg oder Misserfolg war oder ob ich nun trainierte oder nicht. Außerdem lernte ich die Welt kennen, wobei mir die Fahrt aus dem damaligen West-Berlin ins niedersächsische Braunschweig zum Rundstreckenrennen schon wie eine Weltreise vorkam. Ich war halt noch sehr jung.

Die Faszination für den Radsport hat all die Jahre nicht abgenommen, ob als Radsport-Journalist, als Trainer oder als Funktionär im Verein, irgendwas mit Radsport war immer. Am sichtbarsten wird das Radsport-Fieber eigentlich im Frühjahr. Wenn die Temperaturen ansteigen und die Sonne wärmt, füllen sich die radsportlichen Hotspots in Berlin schlagartig. Auf dem Kronprinzessinnenweg Richtung Wannsee und auf der Havelchaussee wimmelt es dann von kleinen und großen Radsport-Gruppen, dazwischen dann Familien, die besonders am Wochenende „nüscht wie raus zum Wannsee“ fahren. Ob man nun schnell oder langsam vor sich hin radelt, weite oder kurze Strecken zurücklegt. Es gibt anscheinend jedem das Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit.

Ehrliche Menschen und fiese Betrüger

Auch für die Fans des Profi-Radsports wird es im Frühjahr ernst. Die Monumente des Radsports, die Klassiker in Italien, Belgien, Frankreich und den Niederlanden stehen auf dem Programm: am vergangenen Wochenende die Flandern-Rundfahrt, am Sonntag Paris-Roubaix, danach das Amstel Gold Race, Fleche Wallone und Lüttich-Bastogne-Lüttich, das sind echte Festtage für mich.

Oft werde ich gefragt, warum man sich so lange einer Sache verschreiben kann, mit allen Höhen und Tiefen, die dieser Sport so mit sich gebracht hat und noch bringt. Ich finde, abgesehen von den sportlichen Aspekten, ist Radsport wie das richtige Leben. Hier gibt es ehrliche Menschen und ganz fiese Betrüger. Wenn du alles für eine Sache gemacht hast, bist du entweder der große Sieger, kannst am Ende aber auch mit leeren Händen dastehen. Es gibt die ganz großen Emotionen, aber auch böse Niederlagen. Es gibt Regeln, an die man sich halten soll, aber immer wieder auch Leute, die diese Regeln für sich anders auslegen oder aber einfach ignorieren. Manche bekommen dann die Quittung dafür, andere kommen damit durch. Wenn man wie ich als Jugendlicher damit konfrontiert wird, lernt man spielerisch fürs Leben, da kann einen dann nicht mehr viel erschüttern.

Radfahren ist eben hinfallen und wieder aufstehen.

Michael Wiedersich ist Radsporttrainer und Sportjournalist und schreibt hier im Wechsel mit Tagesspiegel-Volontär und Läufer Felix Hackenbruch.

Michael Wiedersich

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