Fußball im Gefängnis: Ausbruch für 90 Minuten
Sport ist eine der wenigen Abwechslungen im grauen Gefängnisalltag. Doch für die Insassen der JVA Plötzensee geht es beim Fußballspielen nicht nur um diese kleine Freiheit - sie steigern mit Erfolgen auch ihren Wert in der Knasthierarchie.
Den Schlüssel zur Freiheit hat Fatih Mollaoglu in der Hand. Ein Schlüssel, länger als seine rechte Hand, dicker als sein Daumen, ein Schlüssel, passend zu einem Verließ, zu einem Kerker, aber das ist das hier ja im Prinzip auch. Es klackt, als er ihn im Schloss umdreht und sich das Gittertor zum Hof öffnet.
Mollaoglu geht durch den Hof, vorbei an grauen Betonklötzen, aus einem vergitterten Fenster dröhnt eine Gitarre, eine Stimme singt: „Chain-Chain-Chain, Chain of Fools.“ Die Gefängnisband, aber Mollaoglu hört nicht zu, er geht weiter, er sieht auf seine Liste, die er in der anderen Hand hält, der eigentliche Schlüssel zur Freiheit. Auf ihr steht, wen er rausholt.
Es ist zwar nur für ein bisschen Fußball. Aber der Trainer kann die Gefangenen laufen lassen – für jeweils 90 Minuten. Sport im Gefängnis ist eine der wenigen Abwechslungen im grauen Knastalltag, die den Insassen bleibt, vom Kleinkriminellen über Schwerverbrecher bis zu Prominenten wie Uli Hoeneß. Der zurückgetretene Präsident des FC Bayern wird seine Strafe für Steuerbetrug wohl in der Justizvollzugsanstalt Landsberg absitzen, nicht hier in der JVA Plötzensee. Aber Sport ist auch hier ein Weg, Grenzen zu überwinden, mehr als nur Beschäftigung, eine kleine Freiheit für Körper und Geist.
"Jeder hat eine zweite Chance verdient"
„Ich arbeite gerne mit Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten sind“, sagt Mollaoglu. Seit fünf Jahren kommt der gelernte Pfleger ehrenamtlich hierher. „Jeder hat eine zweite Chance verdient. Wenn ich nicht herkommen würde, hätten sie gar nichts, zumindest keinen Fußball.“ Ihre Haft sollen die Gefangenen sinnvoll verbringen, „denn irgendwann sind sie wieder unsere Nachbarn“. Zweimal die Woche kommt der 36-Jährige nach Plötzensee und leitet das Training. Vor einem der Häuser, hinter einem Zaun, stehen zwei Gestalten, die ihm etwas auf Türkisch zurufen, Mollaoglu geht weiter, sie holt er heute nicht raus. Er geht einem Stück Wurst aus dem Weg, das jemand aus dem Fenster geworfen hat. Das machen die Gefangenen manchmal, aus Langeweile, sagt Mollaoglu. Er schließt eine andere Haustür auf, hinter einer weiteren Tür warten zwei Männer, einer in kurzen, einer in Jogginghosen. „Geht euch schon mal warm machen“, sagt er, „aber nicht zu den anderen Häusern gehen.“
In einem anderen Haus wartet eine größere Gruppe hinter der Tür, einer balanciert ungeduldig den Ball mit den Füßen. „Spielen wir heute gegen Haus vier?“, ruft ihm einer zu, als alle hinausstürmen. Die Insassen von Haus zwei sind ehrgeizig. Ein Pokal, den sie bei einem Gefängnisturnier gewonnen haben, steht im Glasfenster. Dahinter sitzen Männer in Uniform, die den Hauseingang im Auge behalten.
"Hier lernen die Insassen Teamgefühl"
Aufgekratzt laufen die jungen Männer in die Mitte des Hofes, zu einem Bolzplatz auf rotem Tartan. Mollaoglu verteilt Leibchen, sechs Spieler pro Team plus Auswechselspieler. Größer als fünfzehn darf die Gruppe nicht sein. Einen Afrikaner muss er wegschicken, er hat sich zu spät angemeldet. Das Spiel beginnt.
Die Teams bolzen auf zwei Tore, es wird schnell geschossen und viel gerufen. Am lautesten Mollaoglu, der an der Seitenlinie entlangtigert und in seinem langen Mantel wirkt wie ein Bundesligatrainer. „Handspiel!“ „Ecke!“ „Komm, weiter!“ Klare Ansagen, die offenbar nötig sind. „Die brauchen das“, sagt Mollaoglu, „sonst würde sich alles aufbauschen und die Ordnung verloren gehen.“ Das sollen sie ja gerade hier lernen: Nach Regeln spielen, in einer Gemeinschaft, Konflikte spielerisch, ohne Gewalt lösen. „Sie fühlen sich oft allein und verlassen, hier lernen sie Teamgefühl, einer für den anderen da zu sein. Und es hat auch Ventilfunktion, hier können sie sich ein bisschen abreagieren.“ Es gibt viele Angebote in Berliner Gefängnissen, von Theater- über Musikgruppen bis Sport, von Fußball über Tischtennis bis Yoga. In Plötzensee gibt es eine Laufgruppe, die von einer Lauftherapeutin geleitet wird. Der können Häftlinge ihre Sorgen anvertrauen, denn es gibt nur eine Psychologin für Hunderte Gefangene.
Es geht darum, seinen Wert in der Knastwelt zu steigern
Doch Laufen ist nicht jedermanns Sache. „Migranten machen das nicht so gerne, sie brauchen Erfolgserlebnisse, Tore, Punkte“, sagt Mollaoglu. Dass er selbst türkische Wurzeln hat, hilft, gut ein Drittel der Insassen sind Migranten.
Wie Hamit*. Nach seiner Auswechslung steht er schwitzend an der Seitenlinie. Untersetzt, kahlgeschoren, eher unscheinbar. Er hat zwei Banken überfallen und dafür zehn Jahre bekommen. Seit sechs Jahren sitzt der 29-Jährige schon hinter Gittern. „Man wollte Geld haben, mit Mädels rumhängen, in Diskotheken. Ich habe gedacht: Entweder so leben oder es hat keinen Sinn.“ Er hat hier im Knast mit Krafttraining angefangen, seit einem Jahr spielt er Fußball. „Es macht Spaß und sonst hat man ja kaum Bewegung. Man vergisst den Knastalltag, man ist hier komplett woanders.“ Hamit hat damals die Schule abgebrochen, in Plötzensee absolviert er eine Ausbildung zum Gebäudereiniger. „Man kann sich jeden Tag mehr und mehr kaputtmachen und in seiner Zelle sitzen oder man macht das Beste draus“, sagt er. Dann wechselt er sich wieder ein.
Nach der Entlassung als erstes zum Hertha-Heimspiel
Pierre* sitzt noch im Gras neben dem Spielfeld. Hamit und er könnten Brüder sein, beide kräftig, glatzköpfig, bärtig. Aber Pierre sieht einige Dinge anders. „Sport lenkt einen kurzen Moment ab, mehr aber auch nicht“, sagt er. Pierre hat vorher schon in mehreren Vereinen gespielt. „Jeder der sagt, Sport würde helfen, erzählt totalen Mist. Dann hätte man auch vorher keine Scheiße gebaut, weil man ja Sport gemacht hat.“ Pierre hat Scheiße gebaut, Entführung, Erpressung, Körperverletzung, jemand habe ihm Geld geschuldet. Seit drei Jahren sitzt der 28-Jährige im Knast, zwei hat er noch. Sein Vater ist in der Zeit gestorben, seine Freundin hat ihn verlassen. Anfangs durfte er nicht in den Kraftraum, „ich war noch dreckig“. Anabolika sieht die Gefängnisleitung nicht gern. Man bekomme sie aber. „Man kriegt hier alles, was man will.“ Außer einem. Pierre schaut zu seinen Mitinsassen, die sich auf dem Platz anfeuern. „Man hat hier keine Freunde. Man sollte sich erst gar nicht daran gewöhnen, hier zu sein.“ Aus der Lehre als Kfz-Lackierer habe die JVA ihn rausgeschmissen, weil er jemanden geschlagen haben soll, habe er aber nicht. „Doch irgendwann müssen sie mich rauslassen und dann mache ich mein Ding, tune wieder Autos.“ Doch das erste, was er macht, wenn er rauskommt, weiß er schon: „Ich gehe zu einem Hertha-Heimspiel.“ Dann geht er vorzeitig zurück Richtung Zelle, während die anderen noch spielen.
"Drei Mann und keiner hilft"
Das Spiel auf dem Feld wird hitziger. Ein Spieler schubst einen anderen an der Seitenlinie und grinst ihn herausfordernd an. Hamit steht in der Abwehr und brüllt die Mitspieler an: „Drei Mann und keiner hilft!“ Fatih Mollaoglu tritt entschlossen aufs Feld und unterbricht das Spiel.
Als es weitergeht, sagt er: „Das drohte nickelig zu werden.“ Mollaoglu zeigt das Funkgerät, das er bei sich trägt. In einer Minute seien die Beamten da, aber er findet den Knopf nicht, den er drücken müsste. Er hat ihn nicht oft gebraucht.
Ein Ball fliegt in einen kahlen Baum, ein Häftling klettert hinauf, aus den Gitterfenstern herum kommen Applaus und Gejohle. „Komm da runter!“, ruft Mollaoglu. Er muss aufpassen, dass sich keiner verletzt – aber auch, dass sich die Gefangenen nichts über den Zaun zuwerfen.
Von den Männern auf dem Feld scheint keiner über 30 zu sein, die Älteren bleiben drinnen. „Die Gefangenen werden immer jünger“, sagt Mollaoglu. Dabei ist der Altersschnitt in deutschen Gefängnissen eher gestiegen. Uli Hoeneß würde sich als Ex-Fußballer trotzdem kaum wohl fühlen auf dem Hof. „Die Jungs hier sind ehrgeiziger als normale Fußballer, jeder spielt mehr für sich.“ Es geht darum, seinen Wert zu zeigen, in der Knastwelt und außerhalb. Turniere, Wettkämpfe, sich auch mal gegen Teams von draußen beweisen, „darauf sind sie ganz heiß“. Nach dem Spiel nimmt Mollaoglu einen Gefangenen zur Seite und sagt: „Zu viele Alleingänge heute, das will ich nicht sehen.“ Dann schickt er die Häftlinge zurück zu ihren Häusern. Sie laufen langsamer, ruhiger und ein wenig freier.
*Namen geändert