zum Hauptinhalt
Farbenfroh. Auf den deutschen Handball prasselt gerade ein warmer Regen herab wie hier nach dem EM-Finale in Krakau.
© dpa

Handball-Europameister: Eine Nation im Schlandball-Fieber

Party auf allen Kanälen: Mit dem EM-Titel entdeckt der deutsche Handball sein Potenzial wieder, sportlich wie medial.

Niemand wusste so genau, was Dimitri Torgowanow meinte. „Typical German Handball“ habe er eben gesehen, sagte Russlands Nationaltrainer. Ob das positiv oder negativ gemeint war, vielleicht sogar im Sinne von dreckig, unfair oder glücklich, verriet er nicht, trotz Nachfrage. „Typical German Handball“, wiederholte er nach der Niederlage in der Hauptrunde der Europameisterschaft (29:30) nur. Was sollte das bedeuten?

Zurück im Teamhotel machte sich die Delegation des Deutschen Handball-Bundes (DHB) einen kleinen Spaß aus dieser Geschichte. Sie erkannte gewisse Parallelen zum berühmten Zitat des englischen Fußball-Weisen Gary Lineker und deutete Torgowanows Aussage so, dass bei diesem Turnier in Polen am Ende immer die Deutschen gewinnen. Zunächst war das nur ein Scherz, bis es genau eine Woche nach dem Russland-Spiel plötzlich Ernst wurde, Realität, Sensation. 24:17 im Endspiel gegen Spanien! Zu siebzehn!

Mit dem zweiten EM-Titel in der DHB-Geschichte hat die Nationalmannschaft einen Boom ausgelöst, wie ihn die Sportart zuletzt höchstens 2007 erlebt hat, nach dem WM-Titel im eigenen Land, dem sogenannten „Wintermärchen“. Plötzlich läuft Handball wieder auf allen Kanälen: Am Mittwoch talkt Dagur Sigurdsson gemeinsam mit Rechtsaußen Tobias Reichmann bei Markus Lanz, einen Tag später sitzt er mit Torhüter Andreas Wolff bei „Stern TV“, am Samstag ist die Mannschaft geschlossen im „Sportstudio“ zu Gast, am Sonntag darf Wolff noch im „Doppelpass“ plaudern.

Beim alljährlichen All-Star-Spiel zwischen einer Bundesliga-Auswahl und dem Nationalteam ist Sigurdssons Auswahl am Freitag frenetisch in Nürnberg empfangen worden, die Tickets für das Show-Spiel (Endstand: 36:36) waren ruckzuck ausverkauft. Am Montag hatte Berlin den Europameistern bereits einen gebührenden Empfang bereitet, Tausende Menschen kamen in die Max-Schmeling-Halle. Szenen, wie man sie sonst nur vom Fußball kennt. Schlaaand!

Im Verlauf der EM hatte sich bereits angedeutet, welches Potenzial die deutsche Mannschaft und ihr Sport im Allgemeinen besitzt. Mit fortwährendem Erfolg fanden immer mehr Sympathiebekundungen ihren Weg nach Breslau und später nach Krakau. Jürgen Klopp grüßte von der Anfield Road, Dirk Nowitzki aus Texas, Thomas Müller aus München. Aber auch andere anerkannte Fachleute meldeten sich zu Wort. Helge Schneider zum Beispiel oder Kurt Krömer, der sich mit einem legendären Motivationsvideo verewigte, gedreht morgens um vier nach einem Anruf von Stefan Kretzschmar. Nach dem Titelgewinn, den in der Heimat mehr als 13 Millionen am Fernseher verfolgten, erreichte die Euphorie endgültig ungeahnte Ausmaße. Am Ende rief Angela Merkel bei Bundestrainer Sigurdsson an, Joachim Gauck gratulierte der Mannschaft per Telegramm.

Die Welle hat auch Uwe Schwenker mit Freude zur Kenntnis genommen. „Ich hoffe, dass alle davon profitieren werden und wir eine Art Vorreiter-Rolle für andere olympische Sportarten haben können, insbesondere für unsere Freunde aus den anderen Ballsportarten“, sagt der Präsident des Bundesliga-Dachverbands HBL. Für den ehemaligen Nationalspieler ist zwar klar, dass der König Fußball auch in Zukunft in der Öffentlichkeit dominieren wird, „aber es ist schön zu sehen, dass dahinter so etwas möglich ist wie jetzt mit der Handball-Nationalmannschaft.“ Von diesem Erfolg erhoffen sich auch die Bundesliga-Klubs Synergieeffekte, sei es bei Zuschauerzahlen, Sponsoren oder Fernsehzeiten. „Wir haben jetzt 18 neue Stars, das müssen wir nutzen“, sagt Schwenker.

Darauf dürfen sich auch die kleinen und mittelgroßen Vereine etwas einbilden, die Verantwortlichen in den Nachwuchs-Leistungszentren von Flensburg über Berlin und Leipzig bis nach Hannover, Lemgo, Gummersbach, Wetzlar und Balingen. Welch großen Pool Hochbegabter die Bundesliga im Moment zu bieten hat, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Im EM-Kader standen 16 Debütanten, mit 24,6 Jahren war das deutsche Team das jüngste im Turnier. Insgesamt verteilen sich die 18 Europameister auf neun Klubs, wenngleich manche bald zu größeren und zahlungskräftigeren Arbeitgebern wechseln. Vorbei sind die Zeiten, in denen die halbe Nationalmannschaft bei einem Verein beschäftigt war, wie etwa um die Jahrtausendwende beim TBV Lemgo, auch „TBV Deutschland“ genannt.

Für den Moment haben alle Klubs ihren prozentualen Anteil. Das beschauliche Städtchen Wetzlar und sein Handball-Verein etwa stellten drei Spieler ab, ohne die der EM-Titel nie möglich gewesen wäre: Torhüter Andreas Wolff, Steffen Fäth und Jannik Kohlbacher. Die Quote ausländischer Bundesliga-Spieler liegt aktuell bei 35 Prozent und ist damit so niedrig wie seit 2007 nicht mehr. Selbst beim THW Kiel stehen mit Steffen Weinhold, Christian Dissinger und Rune Dahmke wieder drei deutsche Nationalspieler im Kader, beim Branchenführer also, der sich über Jahre immer wieder den Vorwurf gefallen lassen musste, Talente zugunsten ausländischer Spitzenkräfte zu vernachlässigen.

„Ich bin froh, dass die Bundesligisten ihre Zentren betreiben, dadurch können wir eine wesentlich bessere Nachwuchsförderung gewährleisten“, sagt Bob Hanning, DHB-Vizepräsident im Fachbereich Leistungssport. „Außerdem ist der DHB aufgewacht und hat erkannt, dass in der Trainerentwicklung etwas passieren muss, zudem gibt es eine Eliteförderung“, ergänzt er, „die Rädchen greifen langsam ineinander.“ Während der EM hat Hanning auch gern Geschichten von den kleinen, alltäglichen Auswirkungen erzählt, vom gesteigerten Interesse an der Basis etwa, von Emails wildfremder Menschen, die sich für das gute Abschneiden und den Gesamtauftritt des DHB-Teams bedankten. „Die Vereine registrieren wieder einen Zulauf an Kindern und Jugendlichen, das freut uns besonders“, sagt Hanning. Vor allem deckt es sich mit der Erkenntnis, dass die Popularität einer Sportart vom Abschneiden und der Außenwirkung ihrer Nationalmannschaft abhängt.

So gesehen könnten die nächsten Jahre recht erfolgreich für den DHB verlaufen. Sein Premiumprodukt besitzt glänzende Perspektiven, zumal sich bald auch wieder die zum Kader gesellen werden, die in Polen verletzt gefehlt haben, Kapitän Uwe Gensheimer etwa oder Ausnahmetalent Paul Drux. Spätestens mit dem Gewinn des EM-Titels steht auch der sportliche Chef für die nächsten Jahre bis zu den Olympischen Spielen 2020 fest, der bis 2017 gültige Vertrag mit Bundestrainer Dagur Sigurdsson soll bald um drei Jahre verlängert werden.

Der Isländer führte sein Team mit einer beeindruckenden Gelassenheit durch das Turnier und die Zeit davor. Kein Wort zu all den Verletzten, keine Zweifel an den Nachnominierten, keine großen Töne. Er war der Ruhepol in diesem Haufen verrückter Anfang- und Mittzwanziger. Zum Schluss umgab ihn eine Aura der Erhabenheit, die sich auf viele andere übertrug. Vor dem Finale etwa waren alle im deutschen Stab unerschütterlich überzeugt davon, dass es nach der Vorrunden-Niederlage gegen Spanien keine zweite geben werde. Irgendeine siegbringende Maßnahme würde Sigurdsson, diesem grandiosen Taktiker und Motivator, an der Seitenlinie schon einfallen.

Der Lohn für stressige und nervenaufreibende Wochen kann sich sehen lassen. Neben dem EM-Titel hatte die Nationalmannschaft auf dem Heimflug nach Berlin noch zwei weitere überaus erfreuliche Gewissheiten im Gepäck; nämlich die automatische Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2017 in Frankreich und, noch viel wichtiger, die sichere Teilnahme an den Olympischen Spielen im Sommer in Rio de Janeiro. Damit haben sich die Nationalspieler auch die zusätzliche Belastung etwaiger Qualifikations-Turniere erspart und können in dieser Zeit stattdessen tatsächlich mal für ein paar Tage wegfahren und sich erholen – ein seltenes Privileg für die Spieler, die im Jahr 70, 80, teilweise 90 Pflichtspiele bestreiten müssen. Abgesehen vom EM-Pokal haben sie sich damit selbst ein besonderes Geschenk gemacht.

Einen Haken hat die Sache allerdings. Mit dem Titel ist in der breiten Öffentlichkeit natürlich auch der Druck für die nächsten Turniere gewachsen. „Wir müssen jetzt für Ruhe zu sorgen und dafür, dass sich die Mannschaft vernünftig weiterentwickeln kann“, sagt Hanning. „Plötzlich ist die Erwartungshaltung so, dass in Rio eine Medaille her muss. Das ist natürlich Kokolores“, ergänzt er, „und typisch deutsch.“

Zur Startseite