Hertha BSC und das Olympiastadion: Die große Leere
Die Gewohnheiten der Stadionbesucher haben sich gewandelt. Darunter leidet Hertha BSC mit dem Olympiastadion von 1936.
Am vergangenen Sonntag dürften sich die Verantwortlichen von Hertha BSC noch einmal massiv in dem bestätigt gefühlt haben, was sie gerade tun. Der Berliner Fußball-Bundesligist spielte gegen Mainz 05 im Olympiastadion, er konnte mit einem Sieg auf Platz drei der Tabelle springen, doch beim Blick durch das weite Rund sahen die Mitglieder der Vereinsführung vor allem: große Leere. Nur jeder zweite Platz im Olympiastadion war besetzt, 37 852 von 74 500. Tags darauf sagte Manager Michael Preetz: „Der Auftritt unserer Mannschaft hat mehr Zuschauer verdient als am gestrigen Abend.“
Die Debatte um ein neues Stadion für Hertha BSC ist derzeit in vollem Gange, und immer wieder ist in dieser Debatte davon die Rede, dass das Olympiastadion nicht mehr zeitgemäß ist. Dabei wurde es vor gerade etwas mehr als zehn Jahren für rund 250 Millionen Euro generalüberholt. Vom Originalzustand ist außer der Struktur mit der offenen Westflanke allein die Außenhaut aus Muschelkalk und Travertin geblieben. Die Ränge sind alle überdacht, es gibt Logen und bequeme Business-Seats für die wichtigen Zuschauer; trotzdem wirkt die Arena wie aus der Zeit gefallen. Im Grunde wurde sie beim Umbau nach der Jahrtausendwende auf den Stand der siebziger Jahre gebracht. „Wir alle lieben das Olympiastadion“, hat Aufsichtsratschef Bernd Schiphorst am Montag bei Herthas Mitgliederversammlung gesagt. „Jeder weiß aber auch: Ein modernes Fußballstadion sieht anders aus.“
Viele Menschen schwärmen vom Olympiastadion, von seiner Größe, seiner Weite, seiner Eleganz. Vermutlich sind das Architekturliebhaber, keine regelmäßigen Stadiongänger. Die Gewohnheiten haben sich verändert. Fußball ist zum Event geworden, neben der sportlichen Darbietung spielt vor allem Bequemlichkeit eine Rolle. Als es bei Hertha vor acht Jahren zum letzten Mal eine Debatte über einen möglichen Neubau gab, spielten drei Vereine noch in einem Stadion mit Laufbahn: der VfB Stuttgart, der Karlsruher SC und eben Hertha. Inzwischen trifft das nur noch auf Hertha zu. Das Stadion in Stuttgart wurde umgebaut, und Karlsruhe spielt inzwischen in der Zweiten Liga. Aber auch der KSC soll bald eine reine Fußballarena bekommen.
Zur Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gab es in Deutschland einen regelrechten Stadionbauboom. Parkstadion, Rheinstadion, Niedersachsenstadion, Volksparkstadion, Neckarstadion, Waldstadion: Die Arenen glichen sich – es waren riesige Schüsseln aus Beton, mit ausladenden Tribünen und Laufbahnen. Unter den neun WM-Spielstätten gab es nur ein reines Fußballstadion: das Westfalenstadion in Dortmund. 32 Jahre später, bei der zweiten WM in Deutschland, sah es genau umgekehrt aus: Neun der zwölf Arenen waren reine Fußballstadien.
Die Vorteile liegen auf der Hand. Das Stadionerlebnis ist intensiver, man sitzt näher am Spielfeld, hat einen besseren Blick. Gerade im Olympiastadion befindet sich der Oberrang extrem weit vom Rasen entfernt. Hinzu kommt die gesamte Infrastruktur. Immer wieder wird über zu wenige Eingänge geklagt, über lange Wartezeiten an den Kiosken und den Toiletten – wenn es denn wirklich mal richtig voll ist. „Hier erwächst uns auf Dauer ein Wettbewerbsnachteil“, glaubt Herthas Aufsichtsratsvorsitzender Schiphorst.
Der Zuspruch der Zuschauer hängt nicht zwingend vom sportlichen Erfolg ab
Bei Hertha zeigt sich eben auch: Das Stadionerlebnis hängt nicht zwingend vom sportlichen Erfolg ab. In der vorigen Saison hat die Mannschaft überraschend um einen Platz im Europapokal gespielt – trotzdem kamen im Schnitt sogar weniger Zuschauer (46 846) als in der Saison zuvor, als Hertha bis zuletzt gegen den Abstieg kämpfte (47.324). Der aktuelle Erfolg mit unter anderem sechs Siegen aus sechs Heimspielen schlägt sich erneut nicht positiv im Zuschauerzuspruch nieder. Hertha hat ohnehin nur mit einem leichten Zuwachs von 650 Zuschauern im Schnitt geplant; aber selbst das scheint zu optimistisch zu sein.
Solange der Steuerzahler das nicht tragen muss, sollen die doch bauen, was sie wollen. Das Problem ist wohl, dass es sich für Hertha nur rechnet, wenn Berlin das Stadion zahlt und sie die Einnahmen kriegt.
schreibt NutzerIn onkelrie
Dabei sagt Finanzgeschäftsführer Ingo Schiller über die 37.852 Zuschauer gegen Mainz: „Leider musste man damit rechnen.“ Vor einem Jahr wollten die gleiche Begegnung auch nur 39.835 Menschen sehen, ebenfalls an einem Adventssonntag, allerdings zwei Stunden früher (Anpfiff 15.30 statt 17.30 Uhr). Schon das macht einen Unterschied, weil, so Herthas Argumentation, viele Zuschauer aus dem Umland kommen. (Nur am Rande: Würde der Klub mit dem Stadion nach Brandenburg ziehen, wären es die Fans aus Berlin, die dann aus dem Umland kämen.) Seit 2011 ist der Zuschauerschnitt bei Hertha in jeder Bundesligasaison leicht zurückgegangen. Kein Klub hat weniger ausverkaufte Heimspiele; mehr als zwei pro Saison waren es seit 2008/09 (drei) nicht mehr; bei keinem Bundesligisten ist die prozentuale Auslastung des Stadions geringer.
Reine Fußballstadien bringen mehr Zuschauer. Das lässt sich statistisch belegen (siehe Kasten). Erstaunlich ist das zumindest insofern, als die alten Arenen alle ein höheres Fassungsvermögen hatten. Die Verknappung des Angebots spielt dabei eine wichtige Rolle. Bei Hertha aber gibt es diese Verknappung nicht, ausgenommen bei Spielen gegen Bayern und Dortmund. Das lässt sich vor allem am Verkauf von Dauerkarten bemessen. Für die laufende Spielzeit haben die Berliner weniger Dauerkarten abgesetzt als Mainz, Leverkusen, Leipzig und Wolfsburg. Warum soll man sich eine Dauerkarte kaufen, wenn man für die meisten Spiele auch kurzfristig noch Tickets bekommt?
Hertha verkauft weniger Dauerkarten als noch vor einigen Jahren
Auch die Zahl der verkauften Dauerkarten ist in den vergangenen drei Jahren zurückgegangen: von 20.850 (2014/15) über 20.500 (2015/16) auf 20.300 für die aktuelle Spielzeit. Laut dem offiziellen „Zuschauerbericht Lizenzfußball“ der Deutschen Fußball-Liga (DFL) waren es 2015/16 sogar nur 18.262 Dauerkarten. Das liegt laut Geschäftsführer Schiller daran, dass die DFL Frei- und Vip-Karten (Logen und Business-Seats) nicht mitzählt. Nach dieser Rechnung hat Hertha in dieser Spielzeit sogar weniger als 18.000 Dauerkarten verkauft. Bei den Zuschauerzahlen, die im Stadion verkündet werden, sind ebenfalls Frei- und Ehrenkarten eingerechnet; das lässt die Zahl ein bisschen schöner erscheinen. „Unsere Zuschauerzahlen sind stabil“, sagt Ingo Schiller, „leider stabil.“
Es deutet einiges darauf hin, dass sie bei Hertha zu der Erkenntnis gelangt sind, dass sich das im Olympiastadion auch künftig kaum ändern wird.