Evergreens des Fußballs (7): Das Wunder von der Grotenburg
0:2 hat Bayer Uerdingen im Hinspiel bei Dynamo Dresden verloren, 1:3 heißt es im Rückspiel - aber dann erlebt die Grotenburg-Kampfbahn ein Fußball-Wunder.
Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Genügend Zeit also für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: Europapokal der Pokalsieger, Viertelfinal-Rückspiel 1985/86, Bayer 05 Uerdingen – Dynamo Dresden.
Als das Fußball-Magazin „11Freunde“ vor dreizehn Jahren „Die 100 größten Spiele aller Zeiten“ gekürt hat, landete das 7:3 von Bayer 05 Uerdingen gegen Dynamo Dresden, das Wunder von der Grotenburg, auf dem ersten Platz. Das ist natürlich ziemlicher Quatsch – weil „aller Zeiten“ ja streng genommen nicht nur die Zeiten einschließt, die bereits vergangen sind, sondern auch die, die noch kommen werden. Dass Uerdingens Viertelfinal-Rückspiel im Europapokal der Pokalsieger vom 19. März 1986 in der Fußballgeschichte einen besonderen Platz einnimmt, ist hingegen ganz sicher kein Quatsch.
Damals, im März 1986, wohnte ich gerade mal 20 Kilometer Luftlinie von der Krefelder Grotenburg-Kampfbahn entfernt. Aber ich war weder im Stadion, noch habe ich mir das Spiel im Fernsehen angeschaut – weil ich zum Schüleraustausch in Frankreich war. In voller Länge habe ich das Spiel erst jetzt zum ersten Mal gesehen. Und was soll ich sagen? Es ist der Wahnsinn!
Nach einer Minute führt Dresden 1:0
„Ich bin sicher, uns erwartet Spannendes aus Krefeld“, verkündet Wolfram Esser vom ZDF in seiner Anmoderation, ehe er zum Kommentator Rolf Kramer abgibt. Die Hoffnung lebt, obwohl Bayer das Hinspiel in Dresden 0:2 verloren hat, gegen „eine technisch erstklassige Mannschaft, international durchaus erfahren“, wie Kramer sagt.
Doch der Glaube, den Rückstand noch aufzuholen, wird schnell auf ein Minimum heruntergedimmt. Bereits nach 52 Sekunden gehen die Gäste durch einen Kopfball von Ralf Minge in Führung. „Das ist mehr als das, was man im Fußball die halbe Miete nennte“, sagt Kramer.
Zumal Dynamo nach dem Ausgleich durch Wolfgang Funkel bis zur Pause noch zwei weitere Male trifft. Frank Lippmann erzielt in der 36. Minute das 2:1. „Es wird langsam eine Rechnung, die nur noch sehr, sehr schwer aufgeht“, sagt Kramer. Und nach dem Eigentor von Rudi Bommer zum 3:1 für die Dresdener prophezeit er: „Das ist gelaufen hier.“
Als die zweite Halbzeit beginnt, begrüßt Kramer die Zuschauer mit den Worten: „Wer glaubt an ein 6:3? An fünf Tore für die Uerdinger? Niemand.“ Inzwischen weiß man, was in der Pause passiert ist: dass Uerdingens Trainer Karl-Heinz Feldkamp gar nicht in der Kabine war, sondern Matthias Herget, der Kapitän, das Wort ergriffen hat. Dass er seine Mannschaft dazu anhielt, sich wenigstens achtbar aus der Affäre zu ziehen, schließlich spiele man – was selten genug passiert – vor einem Millionenpublikum vor den Fernsehschirmen.
Und so hat sich das Urteil verfestigt, dass die Uerdinger erst nach der Pause aufgewacht sind, nachdem sie zuvor eine katastrophale erste Hälfte gespielt hatten. Aber das stimmt gar nicht. „Ein Spiel mit viel Temperament“ sieht Rolf Kramer. Da steht es noch 1:1. Bayer ist flott unterwegs, hätte schon in der ersten Halbzeit fünf Tore schießen können, drei schießen müssen.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Dynamo viel Pech hat. Matthias Sammer, der trotz seiner 18 Jahre schon auf der Zehn spielt, muss bereits nach einer halben Stunde verletzt vom Feld. Und kurz vor der Pause erwischt es nach einem Zusammenstoß mit Wolfgang Funkel auch noch den erfahrenen Torhüter Bernd Jakubowski. So hat Dresdens Trainer Klaus Sammer keine Möglichkeit mehr, von außen einzugreifen, als Herget, Uerdingens letzter Mann, längst nur noch auf der Zehnerposition zu finden ist und das Spiel zu kippen beginnt.
Die irrsten 30 Minuten im deutschen Fußball
„Es sind Treffer, die das Ergebnis ein bisschen schönen. Mehr nicht“, sagt Rolf Kramer, als Wolfgang Funkel per Elfmeter zum 2:3 trifft. Fast eine Stunde ist da vorüber – und noch deutet nichts darauf hin, dass nun die vielleicht irrsten 30 Minuten der deutschen Fußballgeschichte anbrechen.
Kurz darauf fällt das 3:3 durch ein Eigentor von Minge. Drei Minuten später bringt Wolfgang Schäfer die Uerdinger erstmals in Führung. Dietmar Klinger trifft nach einem Solo fast von der Mittellinie zum 5:3. „Noch zwölf Minuten und noch ein Tor“, sagt Kramer. „Ein verrücktes Spiel. Es schien gelaufen.“
Exakt 39 Sekunden vergehen nach dem Wiederanstoß, bis Dresdens Kapitän Dixie Dörner den Ball auf der Torlinie mit der Hand stoppt. Es gibt Elfmeter. Wieder tritt Wolfgang Funkel an, wieder nimmt er einen langen Anlauf, wieder trifft er. Das 6:3. „Ich muss hinüberschauen zu der kleinen Anzeigetafel“, sagt Kramer. „Es stimmt wirklich.“ Wolfgang Funkel verschwindet in einer Jubeltraube seiner Mitspieler, und als er wieder zum Vorschein kommt, muss er sich erst einmal die Tränen aus den Augen wischen.
Aber Dresden wehrt sich, zwingt Werner Vollack, Uerdingens Torhüter, in fünf Minuten gleich dreimal zum Eingreifen, ehe Schäfer nach einem Konter aus der eigenen Hälfte mit seinem zweiten Tor die letzten Zweifel am Einzug ins Halbfinale beseitigt. „Das ist ein Spiel, aus dem Europacuplegenden gestrickt und gewoben werden“, sagt Rolf Kramer. „Wenn man es nicht erlebt hat – nicht zu glauben.“
Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln , DFB-Pokalfinale 1993 Hertha BSC Amateure - Bayer 04 Leverkusen , WM-Finale 1974, Bundesrepublik Deutschland - Niederlande , Uefa-Cup-Finale 2001, FC Liverpool - Deportivo Alaves , DFB-Pokalfinale 1998, MSV Duisburg - Bayern München , Champions-League-Finale 1997, Borussia Dortmund - Juventus Turin .
Stefan Hermanns