Die besten Evergreens des Fußballs (2): Als die Bubis von Hertha BSC größer als die Profis waren
Wovon die Profis von Hertha BSC nur träumen, das haben die Amateure des Klubs 1993 geschafft. Sie standen gegen Bayer Leverkusen im DFB-Pokalfinale.
Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Es gibt also genügend Zeit für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: DFB-Pokalfinale 1993, Bayer Leverkusen - Hertha BSC Amateure.
Auf dem Rasen sind die Orchester der Berliner Polizei und der Bundeswehr bereit für die Nationalhymne. Die Ersatzspieler betreten gerade den Innenraum, da spricht ARD-Kommentator Wilfried Mohren schon vor dem Anpfiff des DFB-Pokalfinals folgenden Satz: „Es ist…das Duell David gegen Goliath, das natürlich hier den besonderen Reiz ausmacht.“
Klein gegen groß, davon lebt der Pokal wie kein anderer Wettbewerb. Aber nie war – und ist bis heute – in einem Finale mehr David gegen Goliath gewesen als an diesem 12. Juni 1993.
Beim SV Konsum fing der Pokallauf an
Die 90er Jahre sind das Jahrzehnt der Außenseiter. 1992 holt Zweitligist Hannover 96 den Pokal, 1996 gelingt dies dem kurz zuvor aus der Bundesliga abgestiegenen 1. FC Kaiserslautern. Die Zweitligisten Rot-Weiss Essen, VfL Wolfsburg und der eine Woche vor dem Finale in die Zweite Liga aufgestiegene FC Energie Cottbus erreichen das Endspiel. Und dann sind da eben noch 1993 die Amateure von Hertha BSC, der erste Drittligist der Pokalhistorie im Finale.
Ihr Weg, der sie ins mit 76.391 Zuschauern ausverkaufte Olympiastadion führt, in dem es „den ganzen Tag wirklich wie aus Kübeln gegossen hat“ (Jochen Sprentzel bei der Anmoderation in der ARD), beginnt fast zwei Jahre vorher. August 1991, erste Runde des Berliner Pokals, Mittwochabend, Sportplatz Grabensprung: SV Konsum (Kreisliga A) – Hertha BSC Amateure 1:3 (0:1), Ayhan Gezen schießt alle Tore für die Gäste. Die „Fußball-Woche“ widmet dem Spiel neun Zeilen, eine Zuschauerzahl wird nicht mitgeteilt. Gut neun Monate und sieben Siege später sind Herthas Amateure Berliner Pokalsieger.
Im DFB-Pokal geht es erst richtig los: Freilos, SGK Heidelberg, VfB Leipzig, Hannover 96, 1. FC Nürnberg, Chemnitzer FC – das ist die Route ins Finale. Herthas Amateure sind deutschlandweit in aller Munde und in Berlin herrscht Begeisterung.
Als Hertha einige Wochen vorher an einem Sonntagmittag das Kartenkontingent fürs Finale vergibt, finden sich die ersten Fans am frühen Morgen auf dem Olympischen Platz ein. Ein Beispiel für die sonstige Fußball-Tristesse: Die Zuschauerzahl bei Hertha Profis zum Zweitliga-Saisonabschluss gegen den FC Homburg sechs Tage vor dem Endspiel, ebenfalls im Olympiastadion, liegt bei 3252.
Finaltag, kurz vor 18 Uhr. Links stehen die Leverkusener, unter anderem mit Rüdiger Vollborn, Ioan Lupescu, Ulf Kirsten und Andreas Thom. In der Mitte das Schiedsrichtergespann um Markus Merk, über den Wilfried Mohren zu Beginn des Spiels sagt, er pfeife „in einem ungewöhnlichen Sweater, in grün nämlich. Auch das ist eine Premiere.“
Ja, dieses Finale liegt ein paar Tage zurück. Daneben Herthas Spieler, die im Schnitt keine 21 Jahre alt sind, Arm in Arm beieinander. Sie haben die Saison der NOFV-Oberliga Mitte als Sechster abgeschlossen. Gegner waren Einheit Wernigerode, 1. FC Lübars oder SpVgg Thale 04.
12.000 Fans aus Leverkusen sind im Stadion, der Rest hält es größtenteils mit den Herthanern. Was sonst? Sie sind Außenseiter, spielen das Endspiel in der eigenen Stadt, was die Profis bis in die Gegenwart nicht geschafft haben. Das „Ha Ho He, Hertha BSC“ kommt so krachend laut von den Rängen wie seit Jahren nicht. Leverkusens Angriffe werden von einem durchgehenden Pfeifkonzert begleitet. Auf den Tribünen dominiert gelb: die Farbe der an die Zuschauer verteilten Mützen mit dem Olympia-Logo. Berlin bewirbt sich für die Spiele im Jahr 2000.
In der ersten Halbzeit verlegt sich das längst als „Hertha-Bubis“ bekannte Team fast komplett aufs Verteidigen. Der Favorit darf machen, aber viel fällt der Mannschaft von Trainer Dragoslav Stepanovic, der das Amt des nach dem Halbfinale entlassenen Reinhard Saftig übernommen hat, nicht ein. „Die Leverkusener hatten die erste Halbzeit völlig verschlafen“, heißt es in der Tagesschau-Zusammenfassung. „So souverän, wie man es eigentlich bei einem Zwei-Klassen-Unterschied hätte erwarten können, war Bayer beileibe nicht“, wundert sich der Tagesspiegel.
Im Tor steht Christian Fiedler, 18 Jahre alt
Direkt nach dem Wechsel bringt Hertha den Gegner sogar etwas in Unordnung. „Was ist los mit den Jungs? Die gehen ja ab wie die Raketen hier“, sagt Mohren. Die großen Chancen hat aber Bayer. Torwart Christian Fiedler, 18 Jahre alt, hält gegen Franco Foda. Pavel Hapal trifft mit nur einem Schuss zweimal die Latte und einmal den Pfosten.
Dann wechselt Amateure-Trainer Jochem Ziegert: Oliver Schmidt ist ausgelaugt, Sascha Höpfner kommt, die Zuordnung hinten wird verändert. Nach einer Hapal-Flanke stützt sich Kirsten auf der Schulter von Höpfner ab und wuchtet den Ball mit dem Kopf rein. 77. Minute, 1:0, die Erlösung für Bayer.
15 Minuten später endet nach fast zwei Jahren der unglaubliche Weg durch zwei Pokalwettbewerbe für die Amateure, die nie wieder in dieser Besetzung zusammenspielen. Einer von ihnen wird bei Bayer Leverkusen Nationalspieler (Carsten Ramelow), drei andere kommen in ihrer Karriere bei Hertha zu Bundesligaeinsätzen: Torwart Fiedler und die Schmidt-Zwillinge Oliver und Andreas.
Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln.