WM 2018: Niederlande gegen Italien: Balotelli per Brustmuskel, Bergkamp mit dem Ohrläppchen
Mit einem spektakulären 4:4 untermauern Italien und die Niederlande ihre Favoritenrollen bei dieser WM. Andere Teams verzweifeln. Ein Spielbericht aus dem Paralleluniversum.
Als alles vorbei war, mussten sich Wesley Sneijder und Gianluigi Buffon erschöpft aneinander festhalten. Minutenlang sprachen die beiden Weltklassespieler über das historische Spiel, das sie gerade erlebt hatten, und schüttelten dabei immer wieder ungläubig die Köpfe. Auch diese beiden Veteranen, so schien es, konnten nicht glauben, was da gerade geschehen war.
Schon im Vorfeld war das als Gigantenduell bezeichnete Spiel der „Todesgruppe“ Z (am Mittag hatten sich bereits die weiteren Gruppengegner Chile und die Elfenbeinküste 8:4 getrennt) bei dieser WM mit höchster Spannung erwartet worden, befeuert noch von den Scharmützeln zwischen den Verantwortlichen beider Länder. „Wir sind Holland“, hatte Bondscoach Louis van Gaal den Gegner wissen lassen, „Nicht umsonst dominieren wir den Weltfußball seit Jahren.“ Sein Gegenüber, Spielertrainer Andrea Pirlo, antwortete mit der ihm eigenen Lässigkeit, bei einem Glas Rotwein und einem abschätzigen Blick. „Wir haben die besseren Spieler“, sagte Pirlo, das Weinglas schwenkend. „Besonders dieser Schöngeist im zentralen Mittelfeld.“
Zum großen Glück der 50.000 Zuschauer im Shkol'nyy -Stadion im malerischen Petropawlowsk-Kamtschatski und den 500 Millionen Fans vor den Bildschirmen sollten beide Recht behalten. Bereits vor dem Anpfiff sahen sie den ersten Aufreger, als Hollands Kapitän Arjen Robben bei der Seitenwahl zu Boden ging und grobes Foulspiel reklamierte, nachdem ihm Italiens Kapitän Buffon freundschaftlich auf die Schulter geklopft hatte.
Robben überrascht alle
Als das Spiel nach minutenlanger Behandlungspause schließlich angepfiffen wurde, entwickelte sich ein offener Schlagabtausch. Die Holländer in ihrem seit 1837 nicht mehr geänderten 4-3-3 – sicherlich eines ihrer Erfolgsgeheimnisse – schafften es immer wieder, über die Außen an der italienischen Defensive vorbeizukommen. Dass die italienischen Innenverteidiger Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini gemeinsam bereits 89 Jahre alt sind, verschaffte den Niederländern oftmals den entscheidenden Vorteil, ebenso wie die Entscheidung des Schiedsrichters, Bonucci in der 22. Minute wegen unerlaubten Einsatzes einer Betonmischmaschine des Feldes zu verweisen.
So dauerte es auch nur eine halbe Stunde, bis Holland 2:0 in Führung lag. Das 1:0 erzielte Robin van Persie mit einem Flugkopfball aus knapp 40 Metern, wenig später legte Arjen Robben nach. Ein Tor, das kaum zu verteidigen war, wie Chiellini nach Spielende fand: „Dass Robben von Rechtsaußen nach Innen zieht und dann mit Links abschließt, konnte keiner ahnen. Damit hat er uns alle überrascht.“
Wer jetzt allerdings dachte, die Italiener würden sich ihrem Schicksal ergeben, der irrte. Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der die Squadra Azzura durch die Qualifikation marschiert war, hielt sie nun dagegen. Und belohnte sich mit einem Doppelschlag durch Ricardo Montolivo, der damit zum besten deutschen Spieler der WM aufstieg. Doch damit nicht genug. Nach einem bösen Foul an Andrea Pirlo – sein Gegenspieler hatte ihn unerlaubterweise beim Nickerchen gestört – verwandelte Simone Zaza den fälligen Elfer zum 3:2. Sein zehnminütiger Anlauf war zudem ein willkommene Gelegenheit, mal durchzuschnaufen.
Balotelli per Brustmuskel
Nur wenige Minuten nach der italienischen Führung schlugen die Holländer dann wieder zurück. Der eingewechselte Altstar Dennis Bergkamp nahm einen 70-Meter-Pass mit dem Ohrläppchen an und hauchte den Ball zum Ausgleich ins Netz. Kurz darauf war Halbzeit, allerdings nicht für die Sanitäter vor Ort, die zahllose Fans versorgen mussten, die sich angesichts dieses Spektakels die Augen wund gerieben hatten.
Zur zweiten Halbzeit schickten beide Trainer diverse neue Spieler aufs Feld, weil mehrere ihrer Kollegen, die begonnen hatten, auf einer spontan einberufenen Weltfußballer-Gala ausgezeichnet wurden. Dem Spielfluss tat dies aber keinen Abbruch. Zunächst brachte Mario Balotelli Italien per Brustmuskel erneut in Führung, anschließend glich Holland per Elfmeter wieder aus, nachdem Daniele de Rossi zu einem seiner berühmten Ellbogenschläge angesetzt hatte. „Wir wussten, dass diese Chance noch kommen würde“, sagte der getroffene Ryan Babel später durch seinen Atemschlauch.
Auch nach dem Ausgleich wogte das Spiel weiter hin und her. Zwar fielen keine Tore mehr, angesichts der brillanten Leistung der Mannschaften erwägt die Fifa aber, beiden Ländern drei Punkte zuzusprechen, weil alles andere als Verbrechen am Fußball verstanden werden und zu Fanprotesten führen könnte.
Auch auf die anderen Gruppen hat das Spiel Auswirkungen: Gleich mehrere Teams zogen sich angesichts der drückenden Überlegenheit der beiden Fußballriesen aus dem Turnier zurück, auch im deutschen Lager sind erste Stimmen vernehmbar, die einen Rückzug fordern. „Mal im Ernst, Leute, das macht keinen Sinn. Da fahr ich lieber in den Urlaub, als dass ich mich hier in der K.-o.-Runde abschlachten lasse. Ich muss ja auch an meinen Marktwert denken“, so ein konsternierter Manuel Neuer, der für diese ehrlichen Worte viel Zuspruch erhielt.
Ob überhaupt weitere Spiele stattfinden, ist derweil noch unklar. Fifa-Boss Infantino sagte, dass der Verband prüfe, ob das Spiel in Gruppe Z nicht als vorgezogenes Finale gewertet und der WM-Pokal an beide Länder vergeben werden könne: „Alles andere“, sagte Infantino, „wäre doch Quatsch.“
Stephan Reich