Das Sportjahr 2015 im Rückblick: Andrea Pirlo, der letzte Flaneur
Im Juni wollte Andrea Pirlo mit Juventus Turin die Champions League im Berliner Olympiastadion gewinnen. Stefan Hermanns porträtierte vor dem Finale einen beeindruckenden Fußballspieler.
Zum Abschied haben sie ihm einen Füllfederhalter geschenkt. Edel, schwer und vermutlich auch teuer, aber es war eben nur ein gottverdammter Füller. Für zehn erfolgreiche Jahre mit zwei Triumphen in der Champions League, zwei im europäischen Supercup, einen im nationalen Pokal und zwei Meistertiteln. Andrea Pirlo hat diese Geschichte in seiner Autobiografie erzählt. Wie er im Büro von Adriano Galliani sitzt, dem Vizepräsidenten des AC Mailand. Wie er erfährt, dass sie ihn bei Milan nicht mehr haben wollen, weil er zu alt sei, zu langsam, zu oft verletzt. Pirlo hält den Füller in seinen Händen, er dreht und wendet ihn, versucht, hinter diesem Geschenk einen tieferen Sinn zu entdecken, bis ihm der Kopf schmerzt. Aber er findet keinen. Es ist und bleibt ein Füller.
Vier Jahre ist das jetzt her. Pirlo war gerade 32 geworden, und als er im Sommer 2011 vom italienischen Meister AC Mailand zu Juventus Turin wechselt, sieht das wie ein Abstieg aus. Da vereinen sich zwei Größen der Vergangenheit. Andrea Pirlo, der gealterte Weltmeister von 2006, und Juventus Turin, der gefallene Rekordmeister des italienischen Fußballs, der die Saison in der Serie A auf Platz sieben beendet hatte. Genau wie im Jahr zuvor.
Es ist vermutlich der letzte große Auftritt von Andrea Pirlo
Seit Pirlos Wechsel ist es mit dem AC Mailand bergab gegangen, jedes Jahr ein bisschen tiefer: Im ersten Jahr wurde Milan Zweiter, im zweiten Dritter, dann Achter und in dieser Saison Zehnter. Pirlo aber hat mit Juventus in jedem Jahr den Meistertitel geholt. Und zum krönenden Abschluss steht er nun zum vierten Mal im Finale der Champions League, im wichtigsten Spiel des Klubfußballs überhaupt.
Pirlo kehrt dann in das Stadion zurück, in dem er am 9. Juli 2006 Weltmeister geworden ist. Es ist eine nette Pointe für seinen mutmaßlich letzten Auftritt auf der ganz großen Bühne. Vor zweieinhalb Wochen ist Pirlo 36 geworden. Er sieht aus wie Mitte 40, und manchmal bewegt er sich über den Platz, als wäre er Mitte 50. „Der Körper wird zwar alt, das Charisma aber nicht“, hat Pirlo einmal über seinen früheren Mitspieler Gennaro Gattuso gesagt.
Der Satz trifft vermutlich noch viel mehr auf ihn selbst zu. Oder auf Xavi Hernandez, den Mittelfeldstrategen des FC Barcelona, der heute im Berliner Olympiastadion auf der anderen Seite stehen wird. Für Xavi wird es mit 35 Jahren definitiv das letzte Spiel im Trikot des FC Barcelona sein. Wenn er überhaupt spielt und nicht wieder, wie immer zuletzt, nur auf der Bank sitzen wird. Pirlos Vertrag in Turin läuft zwar noch eine weitere Saison, aber auch bei ihm wird schon länger gemutmaßt, dass er in die USA wechselt oder in ein arabisches Emirat. Dahin, wo das Spiel ein wenig gemächlicher gespielt wird als in Europa.
Streng genommen dürfte es einen Spieler wie Pirlo im modernen Fußball sowieso nicht mehr geben. Einen, der sich trotz der immer größer werdenden körperlichen Belastung jetzt schon seit fast zwanzig Jahren auf höchstem Niveau hält. „Das ist nur möglich, wenn man technisch perfekt ist“, sagt der frühere Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld. „Und das ist er.“
Der beste Mann sprintet nur fünf Mal
Die Anforderungen an die Spieler haben sich dramatisch verändert, quantitativ wie qualitativ. Fußballer laufen mehr als früher, sie laufen schneller – und sie laufen häufiger schneller. An Pirlo aber scheint diese Entwicklung irgendwie vorbeigegangen zu sein. Bei der Weltmeisterschaft vor einem Jahr war er im Gruppenspiel gegen England der überragende Mann auf dem Platz. Später wurde ihm nachgewiesen, dass er in 90 Minuten nur fünf Mal gesprintet war. Seltener noch als sein Torhüter. Pirlo passt eigentlich nicht in die zunehmend narzisstischere Fußballwelt, in der sich die Spieler über soziale Medien wie Popstars inszenieren; in der das neueste Tattoo manchmal wichtiger erscheint als ein gewonnener Zweikampf und die Frisur auch im Dauerregen immer wieder in Form gebracht werden muss. Pirlo trotzt dem Jugendwahn mit der Würde des Alters. Er hält sich mit seinem wild wuchernden Bart, seiner renitenten Mähne, den zusammengekniffenen Augen, der leicht gebogenen Nase und seinen Tränensäcken für einen Mann von durchschnittlicher Hässlichkeit. Pirlo ist auch nicht besonders groß, seine Schultern sind schmal, und sein Gesicht zeigt erste Falten.
Das Besondere an ihm ist, dass seine Geschichte immer nah am Spiel erzählt wird. Sein Privatleben gilt als mäßig interessant. Er gibt kaum Interviews und meidet jegliches Aufsehen. Pirlo hat zwei Kinder, seine Ehe ist gescheitert, er hat jetzt eine neue Partnerin. Viel mehr weiß man von ihm nicht. Muss man vielleicht auch nicht. Und wenn sich Pirlo im roten Kamelhaarmantel zeigt, erregt das weniger Aufmerksamkeit als ein direkt verwandelter Freistoß in den Winkel. Dass ihm ein Weingut gehört (das allerdings schon seit Generationen in Familienbesitz ist), wird Pirlo schon fast als Extravaganz ausgelegt. Wobei: Man kann ihn sich eher mit einem Glas Rotwein in der Hand vorstellen als mit einem Elektrolytgetränk.
Die lyrische Langsamkeit des Andrea Pirlo
Andrea Pirlo ist der letzte Flaneur auf dem Fußballplatz, der ein bisschen grüblerisch, fast gedankenverloren über den Rasen stromert. Lyrische Langsamkeit ist seinem Spiel einmal bescheinigt worden, obwohl es im Tempofußball von heute eigentlich um permanente Beschleunigung geht. Pirlo aber erinnert uns daran, wie der Fußball früher war. Er läuft nicht schnell, er denkt schnell. Er ist der Philosoph, der das Spiel durch die Kraft seiner Gedanken lenkt.
Pirlo war 16, als er bei seinem Heimatverein Brescia Calcio von Trainer Mircea Lucescu aus der Jugend zu den Profis geholt wurde. Seine neuen Kollegen waren zum Teil fast doppelt so alt wie er, aber Lucescu sagte zu ihnen: „Gebt Pirlo den Ball. Der weiß wenigstens, was er damit anfangen soll.“
Der Fußball in seiner modernen Ausformung hat Maschinen geschaffen, die nach einem vorgefertigten Plan arbeiten. Der Erfolg ist von funktionierenden Automatismen abhängig, die Spielzüge folgen einem festen Muster, die Laufwege sind wie am Reißbrett entworfen, und von den Spielern wird erwartet, dass sie dem System dienen. Alle müssen sich dem Spiel unterordnen. Andrea Pirlo aber macht sich das Spiel untertan. Er ist gewissermaßen der Antichrist des modernen Fußballs. Und vielleicht macht gerade das seine Anziehungskraft aus: Wenn alle gleich sind, sehnt sich das Publikum erst recht nach einem, der sich unterscheidet. Und der noch dazu immer so schön melancholisch in die Welt schaut.
DFB-Team hat schlechte Erfahrung mit ihm
Nirgends wird der Fußball so sehr von Taktik und damit von den Trainern geprägt wie in Italien. Es ist dort nicht unüblich, dass die Spieler im Training in kompletter Mannschaftsstärke ohne Ball und ohne Gegner über den Platz geschoben werden, damit sie die Laufwege verinnerlichen. Stundenlang kann das so gehen, wieder und wieder. Doch ausgerechnet Andrea Pirlo, der prägendste italienische Fußballer der vergangenen Dekade, hat zumindest indirekt das Primat des Taktischen angezweifelt und der Herrschaft des Kollektivs seinen entschiedenen Willen zur Individualität entgegengesetzt.
Pirlo ist anders, und es ist das Geheimnis seines Erfolgs, dass er das Spiel anders wahrnimmt. „Ich habe immer irgendwie das Ganze im Blick“, sagt er. „Ein klassischer Mittelfeldspieler schaut nach vorne und sieht seine Angreifer. Ich hingegen konzentriere mich auf den Raum zwischen ihnen und mir, um dort den Ball durchzubringen.“ Für Pirlo ist Fußball mehr Geometrie als Taktik. In Italien wird er „l'architetto“ genannt, der Architekt. Er muss dem Plan nicht folgen. Er entwirft ihn.
„Ich ebne sozusagen den Weg zum Glück“, sagt Pirlo. Auf seiner Position, als sogenannter Sechser im defensiven Mittelfeld, geht es im modernen Fußball eigentlich darum, Lücken zu schließen und Räume zuzulaufen. Pirlo hingegen schafft mit seinem Spiel aus der Defensive heraus erst Räume, die es vorher nicht gegeben hat. Wenn er in Bedrängnis gerät, legt er sich den Ball vom rechten auf den linken Fuß. Und plötzlich verändert sich die komplette Statik auf dem Feld, nur weil der Ball einen halben Meter weiter links liegt. So vermag Pirlo mit einer einzigen Bewegung die Restriktionen von Raum und Zeit aufzuheben und das Spiel aus seinen taktischen Zwängen zu befreien.
"Du bist doch immer gedeckt!" Pirlo: "Ja, und?"
„Andrea Pirlo kann das gegnerische Team mit nur einem Pass zerlegen“, hat Barcelonas nicht minder genialer Mittelfeldspieler Andres Iniesta in dieser Woche gesagt. Jeder weiß, was Pirlo kann, jeder weiß, wie er spielt, und jeder meint zu wissen, wie er der Gefahr begegnen kann. Und trotzdem gelingt es nicht. Pirlo selbst bezeichnet sich als einen „Mittelfeldspieler auf der ständigen Suche nach freiem Raum“, wo er sich, zumindest für einen Augenblick, ungehindert bewegen kann. Wenn man sich im Internet die Zusammenschnitte seiner Spielszenen anschaut, fällt auf, wie viel Platz er oft hat. Oder besser: wie leicht es ihm oft gelingt, sich Platz zu verschaffen. Als Stephan Lichtsteiner, der Rechtsverteidiger aus der Schweiz, neu war bei Juventus, beschwerte sich Pirlo, dass er ihn nie anspiele. Er sei doch immer von zwei oder drei Leuten gedeckt, entgegnete Lichtsteiner. „Ja, und“, sagte Pirlo.
Als die Deutschen 2012 bei der Europameisterschaft im Halbfinale gegen Italien ausscheiden, nimmt das Verhängnis bei Andrea Pirlo seinen Anfang. Wo sonst? Im Mittelkreis kommt er an den Ball, Mesut Özil bedrängt ihn, Pirlo strauchelt, fällt zu Boden, doch anstatt nachzusetzen, bleibt Özil plötzlich stehen. Nicht nur Özil, auch Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos verharren jenseits der Kreidelinie, als dürften sie den Anstoßkreis nicht betreten. Pirlo rappelt sich auf, trabt ein paar Schritte Richtung eigenes Tor, dreht sich, legt sich den Ball auf den rechten Fuß und spielt einen Pass weit hinaus auf die linke Seite. Özil, Kroos und Schweinsteiger stehen immer noch hinter der Kreidelinie. Zwei Sekunden später fällt das 1:0 für Italien. „Er ist wie Mozart, der ein Requiem für die Deutschen komponiert“, schrieb die italienische Sportzeitung „Gazzetta dello Sport“ anschließend über Pirlo.
Die deutsche Nationalmannschaft hat schlechte Erfahrung mit Pirlo gemacht
Zweimal hat die deutsche Nationalmannschaft in den vergangenen zehn Jahren schlechte Erfahrungen mit Italien gemacht, beide Male ist Pirlo dafür verantwortlich gewesen, auch 2006, im WM-Halbfinale in Dortmund. Das Spiel nähert sich dem Elfmeterschießen, als Pirlo nach einer abgewehrten Ecke an den Ball gelangt. Er läuft parallel zur Strafraumlinie, Sebastian Kehl folgt ihm, und von der anderen Seite nähert sich Christoph Metzelder. In dem Moment, als sie erkennen, dass sie sich gleich gegenseitig über den Haufen rennen würden, spielt Pirlo den entscheidenden Pass in den deutschen Strafraum. Es scheint fast, als hätte er die beiden deutschen Spieler an Fäden übers Spielfeld gezogen, bis sie genau da sind, wo er sie haben wollte.
Die Magie seiner Pässe erschließt sich manchmal erst beim zweiten Hinsehen – und das lässt seine Fähigkeiten noch beeindruckender erscheinen. Weil Pirlo in Echtzeit und bei realem Tempo etwas erkennt, wofür das Publikum im Hochgeschwindigkeitsfußball erst die Zeitlupe bemühen muss. Nicht immer ist seine fußballerische Qualität auf den ersten Blick so offensichtlich wie im Viertelfinale der EM 2012, im Elfmeterschießen gegen England. Als Torhüter Joe Hart in die rechte Ecke fliegt, lupft Pirlo den Ball genau in die Mitte des leeren Tores. Und während Hart auf dem Rücken im Gras liegt wie ein hilfloser Käfer, läuft Pirlo noch ein paar Schritte weiter. Am Fünfmeterraum bleibt er stehen, dreht um und begibt sich zurück zu seinen Kollegen an der Mittellinie – all das, ohne eine Miene zu verziehen, den Arm zum Jubeln zu heben oder sonst ein Signal der Freude zu senden.
Der Elfmeter ist später als Ausdruck seines Überlegenheitsgefühls missgedeutet worden, als Leichtigkeit im falschen Moment. Nichts davon stimmt. Pirlo hatte einfach erkannt, dass der Torhüter nervös war, und dass er sich deshalb für eine Ecke entscheiden würde. Den Ball in die Mitte zu chippen war für ihn nur die sicherste Variante, den Elfmeter zu verwandeln.
Es ist Andrea Pirlo noch nie darum gegangen, gut auszusehen. Es geht ihm immer darum, die größtmögliche Wirkung zu erzielen.