75. Jahrestag der "Nacht von Potsdam": Zahlen mussten die Ausgebombten
Die Militärhistorikerin Helene Heldt forscht zum Angriff vom 14. April 1945 und zu den Folgen für die Potsdamer. Noch Jahre später stritten sich Hauseigentümer mit der Stadt um die Kosten für die Enttrümmerung.
Potsdam - 36 Minuten dauerte der britische Bombenangriff auf Potsdam am Abend des 14. April 1945. Der von Deutschland begonnene Welt- und Vernichtungskrieg hatte da bereits sechs Jahre in Europa gewütet und Millionen Todesopfer gefordert. Nun wurden auch die Potsdamer erstmals mit voller Wucht getroffen. Die Militärhistorikerin und Bundeswehroffizierin Helene Heldt hat sich im Rahmen ihres Dissertationsprojektes zur Geschichte der „Garnisonstadt Potsdam“ am Zentrum für Geschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam (ZMSBw) und dem Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin auch genauer mit der „Nacht von Potsdam“ beschäftigt. Eigentlich hätte sie am 14. April bei der Gedenkveranstaltung der Stadt im Alten Rathaus darüber berichten sollen, der Termin fällt wegen der Coronakrise aus. Die 36-jährige Wissenschaftlerin hat stattdessen einen Podcast aufgenommen, in dem sie einem Historikerkollegen Rede und Antwort steht.
Neues Licht konnte Helene Heldt unter anderem auf die Zeit nach der Bombardierung werfen. Im Stadtarchiv studierte sie die Akten zum Umgang der Stadt mit den von den Zerstörungen betroffenen Grundstückseigentümern, der für Zwist sorgte. „Auf eine Entschädigung, wie das im NS-Regime üblich war, können die Geschädigten nicht hoffen“, erklärt sie. Stattdessen seien die Potsdamer „für die Enttrümmerung ihrer Grundstücke auf eigene Kosten verpflichtet“ worden: „Und wenn sie dies nicht leisten konnten, übernahm das die Stadt für sie und stellte ihnen das in Rechnung.“
Es gab etliche Beschwerden von Grundstückseigentümern
Das führte offenbar zu einigem Unmut: Noch 1948 gingen im Rathaus Beschwerden wie die einer Hausbesitzerin ein, die sich auf „Jahrhunderte altes deutsches Recht“ beruft, nach dem jedem, dem „durch die Allgemeinheit Schäden zugefügt wurden“, eine Entschädigung zustehe. „Ich erwähne nur die Wiedergutmachung geschehenen Unrechts an den Opfern des Faschismus, die, wie ich finde ausdrücklich betone, auch von mir als moralische Pflicht des deutschen Volkes in vollem Umfang gutgeheißen wird“, schreibt die Beschwerdeführerin: „Weshalb aber wird dem Hausbesitzer, soweit er Kriegsopfer hat bringen müssen, nicht das gleiche Recht zuteil? Oder sind die Hauseigentümer Deutsche minderen Rechts?“
Am 24. Juni 1945 hatte der Oberbürgermeister eine Verordnung erlassen, „nach der Baustoffe aus kriegszerstörten Grundstücken beschlagnahmt werden und für den Wiederaufbau nutzbargemacht werden sollen“, erklärt Helene Heldt. Der Wert der beschlagnahmten Baumaterialien sei dabei nach einer Bewertungstabelle bewertet und dem Hausbesitzer gutgeschrieben worden. Ab Oktober 1946 wurde das Prozedere durch das Wiederaufbaugesetz geregelt. Heldt stieß im Stadtarchiv auf etliche Beschwerden in solchen Sachen.
Diejenigen, die bei dem Luftangriff alles verloren haben, werden zusätzlich belastet
So meldete sich noch 1955 ein Mann, der mittlerweile in der Schweiz lebte, aber ein Haus in Potsdam besaß, an den Rat der Stadt mit der Bitte um Befreiung von den Enttrümmerungskosten. In dem Brief schildert er, dass er von den Nazis aus seiner Heimat vertrieben worden sei, berichtet Heldt. Der Mann hatte sich nach eigenen Angaben zwar eine neue Existenz in der Schweiz aufbauen können, aber nicht genug Geld, um die Rechnung aus Potsdam zu begleichen.
Eine andere Potsdamerin beklagt sich über die ungerechte Behandlung: Diejenigen, die bei dem Luftangriff ohnehin schon alles verloren hätten, würden nun noch zusätzlich belastet, während diejenigen, die verschont geblieben waren, nun begünstigt seien.
Wiederaufbaupolitik kann zur Verschiebung der Vermögensverhältnisse in Potsdam geführt haben
Historikerin Heldt hält dieses Argument für plausibel. „Durch die Tatsache, dass in Potsdam die Enttrümmerung und der Wiederaufbau in den 40er und 50er Jahren unter anderem auf Kosten der Geschädigten vorangetrieben worden war, kann es tatsächlich zu einer Verschiebung der Vermögensverhältnisse und des Stadtgefüges gekommen sein“, sagt sie. Sie wolle dieser Frage in ihrer Dissertation, die bis 2022 abgeschlossen sein soll, noch weiter nachgehen.
Auch viele Belege für Plünderungen fand Heldt im Stadtarchiv. Dabei seien immer wieder sowjetische Soldaten angezeigt worden. Die ausgebombten Hauseigentümer steckten in einem Dilemma, schildert die Historikerin: Sie müssen sich woanders, etwa bei Verwandten, eine Bleibe suchen und können daher Plünderern keinen Einhalt gebieten. „Dann kann man seinen Trümmerhaufen nicht bewachen und schwer verwalten.“
Die Opferzahlen - mindestens 1593 - müssen bis heute als Schätzung verstanden werden
Das genaue Ausmaß der Schäden des Angriffes am 14. April ist nicht einfach zu beziffern, sagt Heldt. Die Potsdamer hätten nicht viel Zeit gehabt, Kriegsschäden zu melden: „Denn die sowjetischen Truppen standen kaum eine Woche später vor der Stadt.“ Nur einige wenige Meldungen seien vom 15. bis 21. April beim Kriegsschädenamt eingegangen. Eine systematische Aufarbeitung begann erst 1946. In einer statistischen Übersicht von 1949 ist von 881 vollständig zerstörten Häusern mit 2783 Wohnungen die Rede, weitere 394 wurden damals als nicht mehr wiederaufbaufähig eingestuft. Die Wohnungsnot zeigt sich auch statistisch, wie Heldt erklärt: Lebten 1939 noch durchschnittlich 3,9 Personen in einer Wohnung, waren es im Juni 1945 bereits 10,4.
Auch die Todeszahlen der Bombennacht – mindestens 1593 – müssen bis heute als Schätzung verstanden werden, betont die Historikerin. Weder die Auswertung der Friedhofsregister noch die Vermisstenmeldungen böten eine zuverlässige Quelle, denn zum Zeitpunkt der Bombardierung hätten sich in Potsdam viele Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene befunden.
Die Aufführung des „Potsdam Requiems“ von Björn O. Wiede in der Nikolaikirche am 14. April 2020 – in den vergangenen sieben Jahren zur Tradition geworden – muss coronabedingt ausfallen. Lediglich die Kirchenglocken läuten zur Erinnerung an die Bombardierung um 22.14 Uhr – dem damaligen Zeitpunkt des Fliegeralarms.
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