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Mit Trümmerbahnen schafften die Menschen die Steine weg - hier an der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Ecke Yorckstraße.
© Sammlung Lutz Hannemann

75. Jahrestag der "Nacht von Potsdam": Die Sehnsucht nach der großen Geste

Nach der Potsdamer Bombennacht vom 14. April 1945 begann der schwierige Wiederaufbau, nach dem Mauerfall eine neue Blüte. Aber die Versöhnung mit den Briten nach Dresdener Vorbild ist bislang ausgeblieben. Ein Essay. 

Potsdam - Staatskarossen rollen vor das Portal des strahlend-neuen Garnisonkirchturms – ein Sommertag 2022? Die Queen, zitronengelbes Cape und Hut, steigt aus. Potsdam steht Spalier, drinnen erklingt das „Sanctus“ aus Mozarts Requiem: Gedankenspiele, Wunschbilder, Undenkbares – oder doch?

Vor dem 75. Jahrestag der Vernichtung des alten Potsdam in der Frühlingsnacht vom 14. zum 15. April 1945 machen sich die Gedanken um Versöhnung, um die nachhaltigen, allen verständlichen Gesten der Verständigung und fraglosen Friedens selbständig: Mir fehlen – als Kriegskind und Zeitzeuge des Angriffs – noch immer die starken, leuchtenden Zeichen zwischen der neu formierten, aber auch aus ihrer Geschichte kommenden Stadtgesellschaft und Großbritannien, das damals die tödliche Bomberflotte über den Kanal schickte.

Potsdam ist ohne Coventry, Rotterdam, Warschau, Leningrad und die deutsche Schuld nicht denkbar

Aber gewiss: Potsdam ist ohne Coventry, ohne Rotterdam, Warschau und Leningrad und die damit verbundene deutsche Schuld und Verblendung nicht denkbar. Die Queen selbst erlebte als junges Mädchen deutsche Luftangriffe im Palastbunker, als Tausende von Menschen an der Themse starben. 

Aus dem Potsdamer Blickwinkel schmiedet – so scheint es, Nagelkreuz-Kapelle und Coventry hin oder her – der Versöhnungsgedanke bisher vornehmlich London und das versehrte Dresden zusammen: Die Queen kam bereits 1992 in die Stadt, begab sich am damaligen Trümmerhaufen der Frauenkirche vorbei in die Kreuzkirche – die Bilder zeigen sie irritiert, als Pfiffe aus der Menge ertönen. Deutsche und Engländer feierten dort unter dem Motto „Reconciliation and Remembrance“ einen Versöhnungsgottesdienst. Die Queen spendete auch für den nationalen britischen Dresden-Trust.

Ein nachhaltiges Signal für die Potsdamer Seele, aber auch für die britische Seite

Wäre dies alles nicht auch vorstellbar in der neuen Garnisonkirche? Welch nachhaltiges Signal ginge davon aus – für die an diesem besonderen Jahrestag noch immer aufgewühlte Potsdamer Seele – aber auch für die britische Seite: Denn „Dresden“ und der Bombenkrieg über deutschen Städten zählt bekanntlich auch heute noch zu den Wundmalen der nationalen Psyche auf der Insel.

Wie engagiert die Queen mit diesem Thema umgeht, berichtete anlässlich der Deutschland-Reise von 2015 der Königin der damalige sächsische Landesbischof Jochen Bohl: Beim Staatsempfang im Zeughaus habe sich die Queen lebhaft an die Situation von 1992 an der Kreuzkirche und die Ruine der Frauenkirche erinnert: „Sie bringt die Versöhnung zwischen Coventry und Dresden besonders mit dem Turmkreuz und der Frauenkirche in Verbindung“, berichtete Bohl damals. Regelmäßig unterhalte sie sich mit ihrem Ehemann über dieses Thema.

Ein Ziegel für die Garnisonkirche von der Queen

Nicht nur ihre Dresdener Gabe für den Wiederaufbau der Frauenkirche (mit zwölf Jahren Bauzeit, 800.000 D-Mark aus einem Kohl-Startfonds und weltweiten Millionenspenden mit der Mühsal des Potsdamer Kirchbaus nicht vergleichbar) zeigt, wie sehr der Vorgang die Monarchin bewegt: Am Rande ihres Staatsbesuchs vor fünf Jahren erhielt sie, arrangiert von der damaligen Potsdamer CDU-Bundestagsabgeordneten Katharina Reiche, einen Ziegelstein für den Neubau der Garnisonkirche. Die Inschrift „The Queen’s Visit to Germany 2015“ ziert – sobald der Turm, so Gott will, im Laufe des Jahres 2022 seine Tore öffnet – als einer von Abertausenden das Treppenhaus. Für jeden sichtbar. Aber auch für jedermann nachahmbar: Denn diese Steine sind jederzeit – für 30, 50 Euro oder mehr – bei der Gemeinde erhältlich. 25 000 Spender weltweit haben sich bereits gefunden. Irgendwann prangt der eigene Spendername dann vielleicht neben dem schneeweißen Queen-Ziegel.

Ohne Prinz Charles stünde heute anstelle des Stadtschlosses womöglich ein Glaskasten

Bei der Frage nach weiteren, notwendigen Zeichen der Sympathie zwischen Union Jack und dem Potsdamer Wappen kommt Prinz Charles ins Spiel: Ihm verdankt die Stadt den demonstrativen Anstoß, sich wieder der eigenen Historie und Stadtkultur zu widmen.

Und das kam so: Mitte der Neunziger lud der damalige Stadtbaudirektor Richard Röhrbein den Prinzen ein, seine „Urban Design Task Force“ mit ihren fachkundigen Studenten an die Havel zu schicken. Gesagt, getan. 

Die „Studies“ kamen zu deutlichen Ergebnissen: „Fangt am Alten Markt an“, lautete ihre Schlussfolgerung. Charles kam eigens in die Villa Kampffmeyer und stellte die Ergebnisse vor – „hochengagiert“ und mit diesen „blauen Windsor-Augen“, wie die benachbarte Hauptstadt-Presse enthusiastisch zu bemerken wusste. An der Glienicker Brücke kam er damals in einem Boot der Wasserschutzpolizei von der Berliner Seite über die Havel.

Günther Jauch, der große Potsdam-Freund, war es dann, der durch seine großzügige Spende das Fortuna-Portal wieder aufbauen ließ. Und da blieb es – glücklicherweise – nicht aus, dass selbst in einer unendlich nervend diskussionsfreudigen Stadt wie Potsdam am Ende das Stadtschloss stand – dank Manfred Stolpe und der damaligen Potsdamer Macher um Matthias Platzeck. Ohne Charles stünde – so steht zu fürchten – nach den Erstplanungen ein schrecklicher Glaskasten auf dem Schlossareal. Wer weiß.

Hinter der Tragik des 14. April verschwindet oft das Leid der Überlebenden

Hinter der Tragik des 14. April verflüchtigt sich oft, was die überlebenden Potsdamer noch jahrelang ertragen mussten: Rund 15.000 Flüchtlinge aus den Ostgebieten vegetierten noch immer in der Stadt, in Massenquartieren, auch privat zwangsweise untergekommen: „Einquartierung“ nannte sich das. „Jeder packe zu“, titelte die Potsdamer Tageszeitung in ihrer Notausgabe am 18. April 1945 als Appell, nicht den Kopf hängen zu lassen. Bangemachen sollte nicht sein.

Um die Abertausende von Kubikmetern Trümmern rings um das in der Mitte niedergesunkene Stadtschloss und die Altstadt zu bergen, schufteten im Herbst 1945 etwa 900 Männer und 3600 Trümmerfrauen – darunter 3000 Hausfrauen, die schwere Loren schoben – und zugleich für die Familie „etwas zu essen“ organisieren mussten – häufig auf dem Schwarzen Markt auf dem Luisenplatz. Rotarmisten tauschten dort ihr Kommissbrot gegen Ringe, Geschmeide, Uhren – was im Potsdamer 1945er-Sommer wahrlich keinen Wert mehr besaß.

Für viele Potsdamer stellte sich die Frage: Gehen oder bleiben?

Man führe sich vor Augen: Allein in der Innenstadt waren 226 Häuser total zerstört, 15 teilweise, 66 nur teilweise benutzbar. Zudem standen rund 19.000 Potsdamer plötzlich, binnen Stunden oft, auf der Straße: Die Rote Armee ließ, überwiegend für Offiziere, komplette Straßenzüge räumen: so die heutige Helene-Lange-Straße, Spielstätte in der Kindheit des Autors dieser Zeilen. Die Überreste der rot-weißen Sperrbarriere liegen noch heute im Straßenpflaster.

Und doch: 1946 spendete die Stadtverwaltung 10.000 Reichsmark für den Wiederaufbau der Paulskirche in Frankfurt am Main! Und die Politik ruhte auch nicht. Sie zeigt noch einmal, bevor die große Fluchtwelle gen Westen einsetzt, die Bürgerlichkeit der Potsdamer: Bei den Wahlen am 15. September 1946 kommt die SED auf 42 Prozent, die Union schaffte 32 Prozent, die Liberalen (davon träumte die FDP heute) ergatterten 22 Prozent der Stimmen.

Bleiben oder nicht bleiben? Für viele Potsdamer – vom Elend der endlos scheinenden Ruinenlandschaft niedergedrückt (die Diagnose „Depression“ spielte damals noch keine Rolle) – stellte sich die Frage: Den zwangsverordneten „Aufbau des Sozialismus“ irgendwie zu ertragen oder für die berühmten „zwanzich Pfennich Ost“ mit der S-Bahn nach West-Berlin, ins glitzernde Wirtschaftswunderland?

Mit dem Weggang der Mittelschicht zur blutete die Stadt aus

Zu Tausenden gingen die Potsdamer fort: „Die haben alles stehen und liegen lassen“, sagten Nachbarn, wenn sie am nächsten Morgen ihren Nachbarn nicht mehr antrafen. Andere schleppten über Monate, bis hin zum Federbett, ihr Hab und Gut im Detail durch die strengen Zollkontrollen auf dem Bahnhof Griebnitzsee: „Komm Se mal mit raus“, lautete der Standardspruch bei glücklosen Versuchen.

Zwei Biografien mögen die beiden denkbaren Zukunftsschneisen markieren: Dr. Hans Platzeck, angesehener HNO-Arzt, blieb mit seiner Familie am Tiefen See – Sohn Matthias ging nach Ilmenau und studierte Kybernetik – eine klassische DDR-Karriere.

Anders die Geschichte von Gerhard und Charlotte Joop: Der Bornstedter ging 1954 – alle Grenzen offen, noch nirgends eine Mauer – nach Braunschweig und wurde dort Chefredakteur der renommierten „Westermanns Monatshefte“. Sohn Wolfgang, der spätere Designer-Star, begann dort ein Studium. Erst nach der Vereinigung kehrte die Familie nach Potsdam zurück – back to the roots. Und der junge, in Potsdam wohnende Ingenieur-Absolvent der Beuth-Schule in West-Berlin entschied sich in der Regel nach dem Studium nicht für das Karl-Marx-Werk in Babelsberg, sondern für Siemens… und ging fort.

So blutete Potsdam aus. Erst von außen kamen die neuen Inspiratoren – ohne Günther Jauch kein Fortuna-Portal, ohne Hasso Plattner weder das Barberini noch das von ihm gestiftete Institut in Babelsberg. Potsdam lebte – nach Jahrhunderten einer Art „Monokultur“ von Hof, Militär und Bürokratie (Heines ironische Bemerkung von „Himmel und Soldaten“ spricht Bände) und der harten, jahrzehntelangen Grenzabschottung zum Westen Berlins wieder auf.

Mit den Zeiten verblassen die schweren Dinge um diese Stadt

Die dunklen Stunden von 1945 weichen allmählich in der Erinnerung. „Ein Traum – was sonst?“, ruft der Prinz in Potsdam-Schüler Heinrich von Kleists „Homburg“ am Ende aus.

Aber war es das nur?

Vielleicht sitzen eines Tages Prinz Charles und Lady Camilla im Turm der neuen Garnisonkirche – und die Gemeinde fröhlich mit ihnen singend. Charles schwärmte schon immer für Potsdam: „Ein Juwel, gefasst in eine atemberaubende Landschaft aus Hügeln, geschmückt mit Villen von Schinkel, Persius und ihresgleichen. Potsdam ist ein Ort, der die tiefe Sehnsucht deren, die es erbauten, bezeugt – um die Landschaft ringsum zu umarmen und aus ihr ein Gesamtkunstwerk zu schaffen.“ Eine potsdamerische Poesie ihresgleichen.

Mit den Zeiten verblassen die schweren Dinge um diese Stadt. Wir haben, alles in allem, Glück gehabt.

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Hans-Rüdiger Karutz

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