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75. Jahrestag der "Nacht von Potsdam": Drei Zeitzeugen erinnern sich an die Bombennacht

Karl-Gustav Illmer, Gudrun Härtel und Diethild Richter haben den Angriff vom 14. April 1945 als Kinder erlebt. Hier erzählen sie davon.


Karl-Gustav Illmer, Jahrgang 1941 und bis heute Potsdamer, erlebte den Angriff mit seiner Mutter im Luftschutzkeller im Amtsgericht.

"Wir – meine Mutter und ich, Vater im Krieg – wohnten damals in der Kaiser-Wilhelm-Straße 9, der heutigen Hegelallee, gleich neben dem Amtsgericht. Dort befand sich ein gut ausgebauter Luftschutzkeller“, erzählt Karl-Gustav Illmer. „Nach einem Sonnentag, an den ich mich erinnere, strömten wir nach dem per Radio durchgegebenen Alarm (’Hier ist der Großdeutsche Rundfunk, Achtung, Achtung, feindliche Bomber im Großraum Braunschweig’) mit vielen anderen Nachbarn in den Keller. An diesem Abend sah ich zum ersten Mal die leuchtenden ’Weihnachtsbäume’ der Zielmarkierungen am Himmel. Sie tauchten alles in ein gleißendes Licht – man hätte Zeitung lesen können.“

Der Keller ist in gutem Zustand gewesen, erinnert sich der rüstige Pensionär: „Die Fenster mit Stahlplatten gesichert, zwischen den Räumen graue Stahltüren mit Riegeln. Ein älterer Luftschutzwart betreute uns.“ Als das Bombardement der Briten-Bomber begann, „da rasselte es mächtig“, erzählt er: „Ringsum, so schien es, überall Einschläge. Alle saßen still und stumm. Manche weinten. Meine Mutter hielt mich fest auf ihrem Schoß.

"Blutende, schwer verletzte Menschen schwankten in den Keller"

Nach einer Ewigkeit wurde es draußen von einer Minute zur anderen still. Plötzlich öffneten sich die Türen, und viele blutende, oft schwer verletzte Menschen schwankten stumm herein – zu Fuß aus der nahen Innenstadt, nichts als ihre Kleider am Leib. Das Grauen in ihren Gesichtern sehe ich noch heute."

"Eine blutigrote Flammenwand"

Das Finale der Nacht: „Ich erinnere mich noch exakt, wie wir alle nach draußen gingen. Über der Jägerstraße, in die wir durch die Kellerluken sehen konnten, am Lichthaus Ammon vorbei, stand eine blutigrote Flammenwand. Noch immer gingen irgendwo Bomben hoch. Aus der Innenstadt wehten dichte Rauchschwaden bis zu uns. Die ungefähre Grenze der Bombardierung verlief längs der Charlottenstraße.“

Als der Vierjährige zurück in die elterliche Wohnung kehrt, „zittern uns die Knie“. Aber: „Alles war unversehrt – sogar die Scheiben waren heil geblieben – was für ein Wunder!“

Am nächsten Morgen, sonntags, ein strahlend-heller Tag. „Gegenüber, hinter dem Mittelstreifen, lag ein totes Pferd. Überall Leute drum herum, die sich Fleisch aus dem Kadaver schnitten. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Später gingen meine Mutter und ich sehr vorsichtig in Richtung Stadtkanal – überall noch Flammen und Rauch. Aber wir hatten überlebt.“

"In der Haustür lag ein toter Soldat"

Karl-Gustav Illmer, Jahrgang 1941, hat den Angriff auf Potsdam als Kind erlebt.
Karl-Gustav Illmer, Jahrgang 1941, hat den Angriff auf Potsdam als Kind erlebt.
© Ottmar Winter

Gudrun Härtel, Jahrgang 1939, überlebte die Bombennacht trotz einer Explosion in unmittelbarer Nähe. Heute lebt sie in Berlin.

Heute tobt hier – von Corona-Zeiten abgesehen – der Verkehr: Die Kreuzung Berliner- und Behlertstraße vor der damals nicht vorhandenen Humboldtbrücke zählt zu den lebhaftesten Verbindungen von und nach Berlin, Richtung Babelsberg: Es rauscht Tag und Nacht. Vor 75 Jahren – am Ende eines sonnengesättigten Frühlingstages – davon keine Spur: Privatautos sind längst eingezogen, Lastwagen der Wehrmacht nur spärlich unterwegs. Für die historische Nacht wird das heute endlich renovierte Quergebäude der Wohnanlage lebensrettend.

"Die Frauen schrien und klammerten sich an den einzigen Mann im Raum"

Gudrun Härtel, heute in Berlin zu Hause, erinnert sich lebhaft an jede Einzelheit: „Bei jedem Luftalarm – und das nun schon alle, aber Potsdam verschonende Kriegsjahre hindurch – riss meine Mutter mich und meinen älteren Bruder Jochen mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Rasch zog sie uns an, und wir rannten in den Luftschutzkeller. Vielleicht 30 Quadratmeter groß, sicherlich vierzehn, verängstigte, blasse Menschen auf Bänken ringsum.“

Gespannte Stille – dann die ersten Einschläge: „Die Frauen schrien und klammerten sich an den einzigen Mann im Raum, als ob er helfen könnte. Plötzlich schlug – offenbar in diesem Quergebäude – eine Bombe ein. Das Kellerfenster riss auf, der Mann wollte es – völlig sinnlos, weil ohne Scheiben – schnell schließen. Da polterten schon die Trümmerbrocken wie eine Lawine in den Raum, dichter Staub wirbelte auf.“

Das Nachbarhaus war völlig ausgebrannt

Voller Trümmer sei der Keller gewesen, aber: „Wir lebten, hatten uns an unsere Mutter geschmiegt, unser Vater war auch gerettet – in kanadischer Gefangenschaft in Süditalien – aber das wussten wir damals natürlich nicht.“ In der Wohnung waren sämtliche Scheiben herausflogen – die Ersatzpappe verdunkelte später auch bei Tage jeden Raum.

„Der Schock war enorm, als wir die Treppe hinauf in die Wohnung zurückwollten. In der Haustür lag ein toter, vielleicht von Bombensplittern getroffener Soldat. Wir konnten nicht vor und zurück. Die beherzten Frauen in unserem Haus packten die Leiche an den Füßen und zerrten sie in den Vorgarten – der Weg war frei. Wir Kinder starrten stumm und entsetzt, aber auch völlig erschöpft, auf diese entsetzliche Szene.“ Das Nachbarhaus war durch eine einzige Bombe völlig ausgebrannt – aber das Feuer griff nicht auf die Nr. 43 über – Rettung! „Unser Überlebensglück bleibt mir noch heute ein Rätsel“, sagt die gebürtige Potsdamerin mit leiser Stimme.

„Eine Riesenfaust schüttelte das Haus“


Angezogen lag Diethild Richter, Jahrgang 1939, im Bett, als im Radio der Angriff angekündigt wurde. Sie überlebte und wohnt heute in Münster.

Seit Januar 1945 waren die Bomber insgesamt an 130 Tagen und Nächten über Potsdam hinweg Richtung Berlin geflogen. Für uns – meinen Bruder und mich – stets dieselbe Prozedur: „Lasst alles an“, sagte unsere Mutter und steckte uns „mit Sachen“ ins Bett. Im schwarzen „Volks-Empfänger“ neben der Kuckucksuhr fast jeden Abend die Durchsagen einer – wie aus einer Höhle klingenden – Männerstimme: „Feindliche Verbände im Anflug auf die Reichshauptstadt!“

Auch diesmal wieder – alles schien Routine: Wir hocken, in Decken gewickelt, bei meiner Mutter, der Vater war im Krieg, und den beiden Großeltern im normalen Lagerkeller im Haus an der Spandauer-, Ecke Alexandrinenstraße, der heutigen Friedrich-Ebert-/Helene-Lange-Straße. Gegen 22 Uhr 15 lärmen die Sirenen. Von „Luftschutz“ ringsum keine Spur – die Kellertür aus Holz. Kein Stahl, keine Riegel, nichts.

Die Kellerwände zittern wie die Außenhaut von Schiffen

Diesmal scheint die Situation ernster, unheimlicher. Denn das übliche Motoren-Gedröhn der nach Berlin ziehenden Geschwader ebbt nicht ab. „Die meinen uns“, flüstert mein Großvater Carl Zschiesche, der im Krieg die gesamte Lebensmittelkarten-Versorgung der Potsdamer organisierte. Die ersten Detonationen – scheinbar noch fern.

Aber die schwachen Kellerwände zittern und schwanken wie die Außenhaut von Schiffen. Mörtelstaub regnet von der Decke, die Lampe rotiert wie wild. Plötzlich eine Riesen-Detonation, ganz in der Nähe – ungeheurer Krach, eine Riesenfaust schüttelt das gesamte Haus. Später erfahren wir: In der Behlertstraße, keine 300 Meter entfernt, zerreißt in diesem Moment eine Luftmine die Frauenklinik – die Babys werden gerettet, wer von den Müttern noch fliehen kann, kommt im benachbarten Stadthaus unter. Am Ort der Klinik stehen heute – völlig atypisch für das gutbürgerliche Viertel – nach dem Krieg hastig hochgezogene Neubauten.

Aus Richtung Frauenklinik ertönen Schreie über Schreie

Mitten in der Druckwelle beugt sich unsere Mutter über uns, presst uns noch enger an sich, streichelt uns – ringsum Stille. Die üblichen Entwarnungs-Sirenen sind nicht zu hören. Vielleicht fielen sie in dieser Nacht aus. Die Erwachsenen wagen sich die kleine, steile, nur fünf, sechs Stufen hohe Treppe bis zur hölzernen Haustür hinauf, wir vorsichtig hinterher. Auf dem kleinen, gepflasterten Vorhof knirscht ein Teppich aus Glasscherben unter unseren Schuhen.

Hinter dem Nauener Tor – also keine 500 Meter entfernt – steht eine Flammenwand. Aus Richtung der Frauenklinik tönen Schreie über Schreie. Wir gehen in den ersten Stock in unsere schöne, geräumige Wohnung – alles heil, nur die Scheiben liegen zerborsten auf den Dielen. Alles andere steht und liegt, als sei nichts geschehen: Und doch ging in jener Nacht eine ganze Welt zu Ende.

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Hans-Rüdiger Karutz

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