„Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge: Liebe und Missbrauch
Düstere fünfziger Jahre: Edgar Selge hat ein Buch über seine Kindheit geschrieben. Ein Treffen mit dem Schauspieler in Berlin.
Edgar Selge ist an diesem schön leuchtenden Herbstsonntag noch nicht perfekt organisiert. Drei Wochen war er in der Holsteinischen Schweiz auf einem Filmset, in der Nähe des Plöner Sees. Nun, gerade erst zurück in Berlin, überlegt er, ob man sich bei ihm in der Wohnung im Bötzow-Viertel in Prenzlauer Berg treffen soll oder im Il Pane e le Rose, einem seiner Stammrestaurants gegenüber dem Volkspark Friedrichshain.
Er entscheidet sich kurz vor der verabredeten Zeit für die eigene Wohnung. Seine Frau Franziska Walser würde die Enkeltochter gleich zurück zu den Eltern bringen, dann könne man sich in Ruhe unterhalten.
Im legeren Hauslook, buntgemusterte Jacke, leicht zerrissene Jeans, Turnschuhe, und in Plauderstimmung, erzählt Selge zunächst von dem Film, in dem er gerade spielt, ein Fantasyfilm. Dann gesteht er seine Leidenschaft für den FC Bayern, wie auch immer wir darauf kommen, nicht zuletzt ist er jahrzehntelanger Wahlmünchner, verbringt er viel Zeit in seinem Reihenhaus in München-Gern.
Dann erwähnt er, dass er gerade mit seinem Bruder Martin telefoniert habe, der in Paris sei und auf dem Pére Lachaise herumspaziere. Damit sind wir beim Anlass des Gesprächs, seinem nächste Woche erscheinenden ersten Buch, „Hast du uns endlich gefunden“.
Selge, der 1948 geboren wurde, hat darin über seine Familie geschrieben, über sein Aufwachsen und seine Erfahrungen in Herford, als Sohn eines Jugendgefängnisdirektors und dessen Frau. Als „Hast du uns endlich gefunden“ beim Rowohlt Verlag angekündigt wurde, war der erste Reflex, es hier eben mit dem weiteren Buch eines Schauspielers zu tun zu haben, trendgerecht, nach solchen etwa von Axel Milberg oder Matthias Brandt, Christian Berkel oder Andrea Sawatzki. Selge sagt, seit gut zwanzig Jahren wären Verlage immer mal wieder an ihn herangetreten.
Ein typisch deutsches und zugleich außergewöhnliches Nachkriegsleben
Doch ist Selges Buch viel ungewöhnlicher, offener, ein genuin literarischer Text. Es bildet ein typisch deutsches Nachkriegsleben ab, hat fast Koeppenschen Charakter, auch bezüglich seiner Düsternis, so als würde das Schwarzweiß der fünfziger Jahre sich über jede Zeile legen.
Düster erscheint es nicht zuletzt, weil der Schauspieler nicht nur schildert, wie er verprügelt wurde von seinem Vater, sondern zudem sexuell missbraucht. Wenn gleich er später sagen wird, nicht in Anspruch nehmen zu wollen, ein Missbrauchsopfer zu sein. „Ich habe das Buch nicht deshalb geschrieben. Ich würde dieses Wort nicht auf mich beziehen“.
[„Hast du uns endlich gefunden“, Rowohlt, 302 Seiten, 24 €.]
Selge wuchs auf als zweitjüngster von fünf Brüdern, denen er das Buch gewidmet hat. Die beiden noch lebenden Geschwister haben nach der Lektüre gesagt: „Das ist nicht die Familie, so wie wir sie erlebt haben“. Der Tod des jüngsten Bruders Andreas Anfang der Siebziger, er starb im Alter von 19 Jahren an einer Gefäßerkrankung, war der Ausgangspunkt seines Schreibens, das vor fünf Jahren begann.
Aus diesem ersten Kapitel ist nun der Epilog geworden. „Ich suche nach Ausdehnung meiner Trauer um dich“, heißt es darin. „Ich wünsche mir, dass meine Trauer wächst. Ich suche nach meiner Bereitschaft, deinen Verlust zu fühlen."
Die Kapitel über die toten Brüder
Jetzt, am großen Küchentisch seiner Berliner Wohnung, sinniert Selge darüber, dass er sich dieses Ereignis wohl noch einmal erzählen, sich darüber Klarheit verschaffen wollte: „Als dieses Kapitel fertig war, kamen mir häufig die Momente in den Sinn, in denen meine Eltern über den Tod eines der älteren Brüder gesprochen haben. Immer wieder haben sie das gemacht, und immer wieder kamen sie zu einem Punkt, an dem sie nicht weitererzählen konnten. Das interessierte mich, das zu beschreiben. Anfang der Nuller Jahre, erinnere ich mich, sah ich im Fernsehen die Bilder von Kindern des Irak-Kriegs, die mit verstümmelten Gliedmaßen im Krankenhaus lagen. Das ist dir nicht so fremd, sagte ich mir, es gab doch in deiner Familie ein vergleichbares Ereignis.“
Selges Bruder Rainer ist 1949 als Kind, da war er neun Jahre alt, beim Spielen mit einer Handgranate ums Leben gekommen. Das Kriegsüberbleibsel hatten Rainer und Werner im Bückeburger Palaisgarten gefunden. In seinem Buch erzählt Selge, wie er Jahrzehnte später mit Werner noch einmal dahin fährt, um sich den Ort des Unglücks auf den Treppen vor dem Elternhaus zeigen zu lassen: „Werner geht an die Seite der Einfahrt, wo die Asphaltierung aufhört und das Blumenbeet anfängt. Mit sparsamen Bewegungen deutet er die Druckwelle an. (…) Ich war sofort weg, sagt er.“
Aufwachsen in den Fünfzigerjahren
Von einer gewissen „Planlosigkeit“ spricht Selge. Doch nach den zwei Kapiteln über die toten Brüder war es ihm ein Bedürfnis, auch die Prügel seines Vaters in Worte zu fassen; die bekam er, nachdem er unerlaubt auf dem Rummel oder im Kino war oder der Vater mit ihm Lateinaufgaben gemacht hatte.
Als er davon erzählt, zwitschert im Hintergrund seine Enkeltochter fröhlich mit ihrer Großmutter herum, sie ist dabei, sich Schuhe und Mantel anzuziehen. Es sind eben die fünfziger Jahre, in denen Selge heranwächst. Zu der Zeit waren Prügel durch die Eltern Usus, wie Selge von seinen Mitschülern erfährt.
„Hast du uns endlich gefunden“ ist kein chronologisch durcherzähltes Buch. Es besteht aus knapp zwanzig Kapiteln, die kurze Überschriften wie „Hauskonzert“, „Abwasch“ oder „Weihnachten“ tragen und verschiedene Szenerien entwickeln. Dreh- und Angelpunkt ist der zwölfjährige Ich-Erzähler.
Als „reines Innenleben“ bezeichnet Selge seine kindliche Erfahrungswelt, die er als 73-jähriger zu spiegeln versucht. Trotzdem unternimmt er ab und an Ausflüge in die Gegenwart, in die noch nicht so lange zurückliegende Vergangenheit. Oder reflektiert sein Schreiben: „Jetzt sitze ich hier und schreibe das auf. Hoffentlich verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen. Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.“
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Selge pocht darauf, keine Autobiografie geschrieben, vieles fiktiv verdichtet oder montiert zu haben. Deshalb betont er an diesem Nachmittag: „Ich spreche hier nicht über mein Leben, sondern über ein Buch. Ich habe aber auch andere Vorstellungen von einem Roman, der Begriff Roman gehört für mich ins 19. Jahrhundert.“
Aber was ist mit den Szenen, in denen der Vater seinen Penis an ihm reibt, im Badezimmer, in einer Ecke der Küche? Diese Offenbarungen kommen unvermittelt, überraschend und lassen „Hast du mich endlich gefunden“ auch als Therapeutikum erscheinen, als späte Abrechnung.
Vieles ist verdichtet und montiert
Der Missbrauch gehöre nun einmal zu der Innenwelt seines 12-jährigen Ichs, sagt Selge dazu. Er weiß um die Ambivalenz seiner Zu- und Abneigung: „Ich liebe meinen Vater, ich bin aber auch kein Masochist“. Er schließt an, dass er darüber nicht reden würde, wäre das Gespräch jetzt eines unter Bekannten oder Freunden an diesem Tisch hier in seiner Wohnung – trotzdem hätte er sich über die sexuellen Annäherungen früher ausgetauscht mit seiner Frau, mit Freunden oder Freundinnen, auch den beiden Brüdern: „Die innere Katastrophe, die sich daraus entwickelt, die sieht bei jedem anders aus. Meine Brüder haben das auch erfahren, aber sie erzählen sonst nichts davon. Ich würde sie nie nach den Wirkungen bei ihnen fragen.“
Differenziert sieht er auch die Entwicklung seiner Eltern. Diese hatten sich in den dreißiger Jahren kennengelernt, waren Anhänger des Nationalsozialismus, den sie als „geistige Erleuchtung“ (Selge) begriffen, und erkannten unter Mühen, dass es „die totale Geistesfinsternis“ gewesen ist.
Der Vater versucht all das mit seiner Liebe zur klassischen Musik zu kompensieren, mit sonntäglichen Hauskonzerten mittags für die jugendlichen Strafgefangenen, abends für die Freunde. Die Mutter, in einer Offiziersfamilie aufgewachsen, sieht erst spät klar, nach einem Besuch der Wehrmachtausstellung in München: „Ich kann mein ganzes Leben wegwerfen, waren ihre ersten Worte. Nur Verbrecher um mich herum. Euer Vater. Mein Vater. Unsere Wehrmacht.(…).“
Die 68er-Generation habe nicht begriffen, dass es für die Eltern eben ein langer Lernprozess gewesen sei, sagt Selge. Seine Eltern hätten schon mit Besuchen in Auschwitz oder Israel oder, im Fall der Mutter, mit der Arbeit in einem Verein für christlich-jüdisches Zusammenleben ihre Abkehr vom NS vollzogen.
Der Blick auf die Eltern: Milde und Härte zugleich
Der milde Blick auf die Eltern beim Gespräch steht allerdings im Gegensatz zu der Härte von Selges literarischer Schilderungen seiner Eltern. „Das mit der Härte ist Ihre Lesart“, entgegnet er. Härte würde er lieber an sich selbst diagnostizieren. „Mit Götz Aly will ich das mal als Selbstanklage bezeichnen, als Korrektur der 68er. Ich werfe mir eher vor, dass ich meine Mutter nicht begleitet habe zu der Wehrmachtsausstellung.“
Es macht Spaß, sich mit dem Schauspieler zu unterhalten, nicht nur weil dieser ein zuvorkommender Gastgeber und freundlicher Gesprächspartner ist, sondern auch ein Leser, ein Liebhaber der Literatur. Er erwähnt Karl Ove Knausgård, den sein Bruder Werner komplett gelesen habe, er hat Monika Helfers Buch „Vati“ vergleichend gelesen, er schwärmt von Edouard Louis' „Das Ende von Eddy“ oder Sigrid Nunez Roman „Was dir fehlt“.
Dass er sich an Proust anlehnt, er in jungen Jahren den ersten Band der „Recherche“ stahl, versteht sich da fast schon von selbst – so wie für ihn das Quietschen der Schiebetüren bei einem kürzlichen Besuch in seinem immer noch zur Jugendstrafanstalt gehörenden Elternhaus etwas Proustisches hatte. Fasziniert war er ebenfalls von Homers Odyssee, aus der er neulich Passagen mit seiner Frau eingelesen hat: „Der Mensch kann nicht existieren, ohne in der Kunst zu reflektieren, das ist bei Homer schon alles vorgebildet“. – „Das beeindruckt jetzt den Künstler Selge…“ – „Nein“, lacht er, „das sagt der Homer-Leser. Das ist eine mündliche Erzählung, vor Jahrtausenden entstanden. Überleben und Reflektieren, darum geht es im Leben der Menschen.“
Als wir auf seinen Balkon gehen, um Fotos zu machen, an einem Ständer mit frisch gewaschenen Klamotten seiner Plöner Drehtage vorbei, erwähnt er noch, wieviel Spaß ihm das Schreiben gemacht habe: „Das fehlt mir gerade sehr.“ Doch er arbeitet schon an einem weiteren Buch, es soll „eine geschichtliche Dimension“ haben. „Das wird ganz sicher nicht autobiografisch“, verkündet er, um sich zum Abschied selbst ins Wort zu fallen: „Was für ein blöder Satz! Wer schreibt, ist autobiografisch anwesend!“
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